Grimmelshausen: Simplicissimus

  • Aus der Continuatio, 17. Kapitel, letzter Satz:


    Zitat

    Jch hab zwar niemalen keine so grosse volckreiche Statt gesehen / da es wohlfeiler zuzehren als eben an disem Ort; gleich wie aber nichts desto weniger meine übrige Ducaten nach und nach zusammen giengen / wans schon nit teur war / also kont ich mir auch leicht die Rechnung machen / das ich nit erharren würde können / biß sich der Auffruhr deß Bassae von Damasco legen: und der Weeg sicher werden würde / meinem vorhaben nach Jerusalem zubesuecchen; verhängte derowegen meinen Begirden den Zigel andere Sachen zubeschauen / warzu mich der Vorwitz anraitzte; unter andern war jenseits Nili ein Ort da man die Mumia gräbt / das besichtigt ich etlich mal / item an einem Ort die beyde Pyramides Pharaonis und Rodope; machte mir auch den Weeg dahin so gemein / das ich frembde unkenntlich alleinig dahin fühn dorffte; aber es gelung mir zum lesten mal nit beim besten; dann als ich einsmals mit etlichen zu den Egyptischen Gräbern gieng / Mumia zuhollen / kamen uns einige Arabische Rauber auff die Haube / welche der Orten die Straussenfänger zufangen außgangen / dise kriegten uns by den Köpffen und führten uns durch Wiltnussen und Abweeg an das rothe Meer / allwo sie den einen hier den anderen dort verkauffen.


    Kann man immer noch lesen, aber ich muss zugeben, da gerate ich deutlich ins Schwimmen, stocke, lese nochmal, stocke erneut, verliere den Faden, fang von vorn an und habe am Ende doch das Gefühl, das ganze nur so einigermaßen verstanden zu haben.


    Die Übersetzung:


    Zitat

    Ich bin zwar nie in einer großen, volkreichen Stadt gewesen, in der man sich billiger verköstigen konnte als hier, aber da mir trotz des wohlfeilen Lebens die restlichen Dukaten nach und nach dahinschmolzen, konnte ich mir leicht ausrechnen, dass ich hier nicht einfach abwarte konnte, bis sich der Aufruhr des Pascha von Damaskus gelegt hatte und der Weg nach Jerusalem, das ich besuchen wollte, wieder sicher war. Deshalb ließ ich meiner Lust auf andere Dinge, die mich neugierig machten freien Lauf. So gab es auf der anderen Seite des Nils einen Ort, wo man Mumien ausgräbt. Den besuchte ich mehrmals, ebenso die Stelle, wo die beiden großen Pyramiden des Pharao und der Rhodope stehen, und machte mir den Weg dorthin so vertraut, dass ich Fremde, die ihn nicht kannten, allein dorthin führen konnte. Doch eines Tages hatte ich Pech. Denn als ich wieder einmal mit ein paar Leuten zu den alten Gräbern wanderte, um Mumienpulver zu holen und die fünf Pyramiden dort zu betrachten, rückten uns einige arabische Räuber auf den Pelz, die ausgezogen waren, um dort Straußenjäger zu fangen. Sie schnappten uns und führten uns auf entlegenen Wegen durch die Wüste bis ans Rote Meer, wo sie den einen hier, den anderen dort verkauften.

  • Ich finde das Original jetzt nicht so schlimm. Das mag daran liegen, dass ich an der Uni mal ein oder zwei Semester lang "Barock" getrieben habe. Die Übersetzung ist sicher einfacher lesbar - für mich allerdings geht der Zauber der barocken Sprache und damit auch des barocken Lebensgefühls dabei so ziemlich in die Binsen. Aber: chacun à son goût ... :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Zitat von "giesbert"


    Was ich allerdings nicht verstehe und was auch nicht in einer Fußnote erklärt wird: "Ja, hinder sich nauß!". Wird irgendwas mit "Denkste!" heißen, aber das sind dann so Stellen, an denen man doch ins Stolpern gerät.


    Es bedeutet ungefähr: "Ganz im Gegenteil!". Das wird tatsächlich nicht in einer Fußnote oder im Stellenkommentar erklärt, ist ja ärgerlich. So muß man als Leser erst im Wörterbuch nachschlagen: "Hintersich" bedeutet eigentlich "rückwärts, zurück" und dann im übertragenen Sinne "umgekehrt, im Gegenteil" -- im Grimmschen Wörterbuch wird das sehr ausführlich erläutert.


    Ein Großteil der Leseschwierigkeiten liegt allein schon in der ungewohnten und unregelmäßigen Orthographie. Zum Vergleich noch einmal die von Dir zitierte Stelle und dann die gleiche Stelle aus einer orthographisch modernisierten Ausgabe:


    Zitat


    Jch hab zwar niemalen keine so grosse volckreiche Statt gesehen / da es wohlfeiler zuzehren als eben an disem Ort; gleich wie aber nichts desto weniger meine übrige Ducaten nach und nach zusammen giengen / wans schon nit teur war / also kont ich mir auch leicht die Rechnung machen / das ich nit erharren würde können / biß sich der Auffruhr deß Bassae von Damasco legen: und der Weeg sicher werden würde / meinem vorhaben nach Jerusalem zubesuecchen; verhängte derowegen meinen Begirden den Zigel andere Sachen zubeschauen / warzu mich der Vorwitz anraitzte; unter andern war jenseits Nili ein Ort da man die Mumia gräbt / das besichtigt ich etlich mal / item an einem Ort die beyde Pyramides Pharaonis und Rodope; machte mir auch den Weeg dahin so gemein / das ich frembde unkenntlich alleinig dahin fühn dorffte; aber es gelung mir zum lesten mal nit beim besten; dann als ich einsmals mit etlichen zu den Egyptischen Gräbern gieng / Mumia zuhollen / kamen uns einige Arabische Rauber auff die Haube / welche der Orten die Straussenfänger zufangen außgangen / dise kriegten uns by den Köpffen und führten uns durch Wiltnussen und Abweeg an das rothe Meer / allwo sie den einen hier den anderen dort verkauffen.


    Zitat


    Ich habe zwar niemalen keine so große, volkreiche Stadt gesehen, da es wohlfeiler zu zehren als eben an diesem Ort; gleichwie aber nichtsdestoweniger meine übrige Dukaten nach und nach zusammengiengen, wanns schon nit teur war, also konnte ich mir auch leicht die Rechnung machen, daß ich nit würde erharren können, bis sich der Aufruhr des Bassä von Damasco legen und der Weg sicher werden würde, meinem Vorhaben nach Jerusalem zu besuchen; verhängte derowegen meinen Begierden den Zügel, andere Sachen zu beschauen, worzu mich der Vorwitz anreizete. Unter andern war jenseit des Nili ein Ort, da man die Mumia gräbt; das besichtigete ich etlichmal; item an einem Ort die beide Pyramides Pharaonis und Rhodope; machte mir auch den Weg dahin so gemein, daß, obschon ich fremd und unkenntlich, alleinig dahin führen dorfte. Aber es gelung mir zum letztenmal nit beim besten; dann als ich einsmals mit etlichen zu den ägyptischen Gräbern gieng, Mumia zu holen, wobei auch fünf Pyramides stehen, kamen uns einzige Rauber auf die Haube, welche derorten die Straußenfänger zu fangen ausgangen waren: diese kriegten uns bei den Köpfen und führten uns durch Wildnussen und Abwege an das Rote Meer, allwo sie den einen hier, den andern dort verkauften.


    Die zweite Version ist deutlich leichter zu lesen. Durch eine Übersetzung wird Grimmelshausens eigentümlicher Stil geglättet und das ganze noch eingängiger. Ist halt die Frage, inwiefern man an der originalen sprachlichen Ausgestaltung interessiert ist. Es ist eher ein ungeschliffener Stil, ein sympathisch ungraziöser Stil sozusagen. :breitgrins:


    Schöne Grüße,
    Wolf

  • Eine Besprechung der neuen Version findet sich nun in Zeit online. Reinhard Kaiser wird am 10. November in Hanau (Rhein-Main-Gebiet9 Rede und Antwort stehen. Man plant leider mich fürdiesen Zeitpunkt auf eine einsame Insel zu verbannen, und ich werde wohl nicht vor den Kaiser treten können :grmpf:


  • für mich allerdings geht der Zauber der barocken Sprache und damit auch des barocken Lebensgefühls


    Das halte ich für eine eher gewagte Behauptung. Wie willst Du aus einer 350 Jahre alten Schrift(!)sprache auf ein Lebensgefühl schließen? Selbst wenn wir Tonaufnahmen aus der Zeit hätten ginge das imho immer noch nicht, dazu müsste man in der Zeit leben. Und schon wird’s kompliziert: Das Lebensgefühl welcher sozialer Gruppen eigentlich?


    Im Grunde lässt man sich da nur seinen Projektionen foppen. Die Romantiker waren auch felsenfest davon überzeugt, sie könnten das mittelalterliche Lebensgefühl verstehen und formulierten doch nur ihr Unbehagen an ihrer eigenen Zeit.

  • Du hast natürlich Recht. Aber es geht dennoch verloren ... :breitgrins:


    (im Übrigen bin ich der Meinung, dass gerade die Epoche des Barock uns viel fremder ist als das Hochmittelalter.)

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  • Durch eine Übersetzung wird Grimmelshausens eigentümlicher Stil geglättet und das ganze noch eingängiger. Ist halt die Frage, inwiefern man an der originalen sprachlichen Ausgestaltung interessiert ist. Es ist eher ein ungeschliffener Stil, ein sympathisch ungraziöser Stil sozusagen. :breitgrins:


    ich kenne mich nicht gut genug in der Barockliteratur aus, um entscheiden zu können, ob Grimmelshausen ungeschliffen und ungraziös geschrieben hat (also nach den Maßgaben seiner Zeit, was uns heute sperrig, ungeschliffen oder ungraziös erscheint, kann den Zeitgenossen als völlig normal im Ohr geklungen haben).


    Ich sehe auch nicht so ganz, wo Grimmelshausen geglättet wird, wenn er übersetzt wird und sehe eher das Problem, dass wir uns von den heute exotisch wirkenden Eigentümlichkeiten der Barocksprache dazu verführen lassen, sie für irgendwie "authentischer" zu halten als eine Übersetzung und dem Irrglauben verfallen, wir würden die Zeit und das Lebensgefühl besser verstehen, wenn wir uns durch die Orignaltexte arbeiten. (Wie gesagt: Die Romantiker und das Mittelalter.)


    Ich bin bislang bei meinen Vergleichen übrigens noch auf keine Stelle gestoßen, bei der der Übersetzer Grimmelshausen etwa durch Kürzungen oder verschämte Übersetzungen versimpelt hätte. Er verbessert ihn auch nicht, sondern lässt mitunter unklare Bezüge unklar bleiben. Anders gesagt: Wenn bei Grimmelshausen "Scheiße" steht, dann steht das auch bei Kaiser.


    Der größte Übersetzereingriff scheint mir derzeit die Aufteilung überlanger Sätze in mehrere kürzere Sätze zu sein. Ansonsten liefert Kaiser imho genau das, was er verspricht: Eine Übersetzung. Nicht mehr, nicht weniger.

  • Natürlich ist der Originaltext "authentischer", nämlich authentischerer Barock :breitgrins: . Ob wir dem Barock durchs Original oder durch eine Übersetzung näher zu kommen versuchen, ist immer auch eine Geschmacksfrage. Letzten Endes ist's wie mit jeder Übersetzung: Im besten Fall ist sie die Relais-Station, durch die wir das Original zu uns nehmen - im schlimmsten Fall gilt das italienische Sprichwort: Traduttore = Traditore.

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  • Zitat von "giesbert"


    Ich sehe auch nicht so ganz, wo Grimmelshausen geglättet wird, wenn er übersetzt wird und sehe eher das Problem, dass wir uns von den heute exotisch wirkenden Eigentümlichkeiten der Barocksprache dazu verführen lassen, sie für irgendwie "authentischer" zu halten als eine Übersetzung und dem Irrglauben verfallen, wir würden die Zeit und das Lebensgefühl besser verstehen, wenn wir uns durch die Orignaltexte arbeiten.


    Es wird geglättet, weil bei so einer Übersetzung die stilistischen Eigentümlichkeiten Grimmelshausens verwischt werden. Ein Grimmelshausen schreibt anders als ein Johann Beer, der wiederum anders als ein Zesen schreibt usw. Grimmelshausen verwendet beispielsweise gerne das kanzleisprachliche Wort "maßen" im Sinne von "weil, indem", was keineswegs jeder Schriftsteller dieser Zeit getan hat (bei Johann Beer oder Zesen kommt das in dieser Bedeutung fast gar nicht vor).


    Oder wenn in dem von Dir zitierten Übersetzungsausschnitt die Wendung "die Zügel verhängen" zu "freien Lauf lassen" wird, dann ist das eine stilistische Veränderung, denn die Wendung "freien Lauf lassen" ist ja nichts Modernes, sondern man findet sie auch schon in Texten des 17. Jahrhunderts, nur eben nicht im Simplicissimus. Wenn einem das "verhängen" zu exotisch ist, dann wäre ja auch noch das heutzutage wohl besser verständliche "die Zügel schießen lassen" in Frage gekommen, was an anderer Stelle im Simplicissimus übrigens von Grimmelshausen selbst verwendet wurde.


    Ein Originaltext ist auf jeden Fall "authentischer" als eine Übersetzung, wobei es zunächst einmal gar nicht um das damalige "Lebensgefühl" geht, sondern einfach nur darum, genau zu verstehen, was einem der Autor da eigentlich erzählt. Da spricht jemand aus einer vergangenen Zeit zu mir, und wenn ich ihn richtig verstehen will, muß ich mich in die Sprache seiner Zeit einlesen und einleben.


    Statt einer Übersetzung reicht doch bei der Barockliteratur normalerweise eine Modernisierung der Rechtschreibung aus, eventuell noch mit kleineren grammatikalischen Modernisierungen, z.B. bei Flexionsendungen: ihme -> ihm oder denen (Dativ Plural) -> den (in denen Wäldern -> in den Wäldern). Ein derartig modernisierter Text ist verhältnismäßig gut zu lesen, bleibt aber trotzdem viel näher am Original als eine Übersetzung.


    Zur Veranschaulichung hier ein Auszug aus dem Narrenspital von Johann Beer:


    Ein Edelmann, genannt "der faule Lorenz hinter der Wiesen", ein rechter Bärenhäuter und Sprücheklopfer, wettert auf einer Hochzeitsgesellschaft gegen die Fremdwörterei und wendet sich dann insbesondere an das weibliche Publikum:


    Zitat von "Johann Beer (Narrenspital)"


    Ein Teutscher ist ein Teutscher, und ein Franzos ist ein Franzos. Redet ihr wie die Franzosen, was seid ihr dann für Teutsche? Ach, ihr guten Bürschlein, ihr tut es nicht allein, sondern es kommet jetziger Zeit auch sogar das Frauenzimmer angestochen und fänget an, französische Terminos in ihre Reden einzumengen. Saprament, ihr Bürgersmägdchen, die Rute stünde euch viel besser auf dem Hintern als die französische Sprache im Maul! Wer die Franzosen im Mund liebet, der bekommt sie endlich noch an den Leib. Ihr bildet euch ein, durch eure Narrenpossen große Bäume umzuhaun, aber wenn man's bei dem Grund und an der Wurzel ansiehet, so habt ihr einen Floh totgeknacket, welcher euch durch den Tag im Hemde herumgehüpfet. Meinet ihr, ihr alberne Knopflöcher, daß euer Maulmachen respectiert werde? Nein, bei meiner Treue, nicht ein Haar hält ein kluger Kopf auf euer Parlieren. Denn ihr habt in allen Sachen kein rechtes Fundament, und darum hofiere ich auf euer französisches Einmengen. 'Ja', sagt ihr bei euch selbst, 'der und der hält viel von meinen Discursen. Der und der hat beteuert, daß er all sein Leben lang niemand so klug von der Sache als eben mich reden gehöret.' Aber wisset, o ihr törichten Seich- Taschen, solche Gesellen grüßen den Zaun wegen des Gartens. Sie sagen: 'Ach, was ist das für ein herrlicher Zaun! Wie schön ist er geflochten!' Was meinen denn solche Gesellen durch den Zaun? Nichts anderes als den Garten, schlagen also auf den Sack und meinen den Esel. Darum so wisset ihr selbst besser, warum sie euch loben, nicht wegen eurer Geschicklichkeit, denn die habt ihr nicht, sondern wegen der Quintern, die wollen sie euch gerne visitieren und ihren Stilum applicieren. Saprament, ihr Jungfern oder wer ihr seid, diesen Endzweck hat das Lob eurer Galanen und Liebhaber. Sie geben euch große Titel und suchen das Mittel, loben eure Krausen und wollen euch lausen.


    Wie und was wollte man daran noch übersetzen, ohne aus einem originellen, kernigen Deutsch ein langweiliges Allerweltsdeutsch zu machen? Es reicht, wenn man einzelne Wörter und Wendungen per Fußnote oder Stellenkommentar erklärt: die Franzosen bekommen = an Syphilis erkranken; hofieren = den Darm entleeren usw.


    Schöne Grüße,
    Wolf

  • Und noch ein Beispiel für die Möglichkeiten der Modernisierung, anhand eines Textausschnittes aus Johannes Paulis Schimpf und Ernst (Erstdruck 1522).


    Nahezu unveränderte Originalschreibung:


    Zitat


    Uf einmal was ein Tyran in der Stat Siracusana, ein groser Her, der hieß Dionisius. Der het vil armer Lüt gemacht, und under denen het er auch ein Philosophum verderbt, der hieß Diogenes, darumb das er im die Warheit sagt. Und uff einmal wüsch Diogenes Krut oder ein Salat und wolt in für den Hunger essen, das sahe ein Diener desselbigen Dionisy und sprach zů demselbigen Diogenes: ›Wan du woltest thůn, was mein Her Dionisius wolt, so bedörfftestu nit Kraut essen und hettest wol besser Ding zů essen.‹ Diogenes sprach: ›Woltestu Krut essen, so bedörfftestu deinem Herren Dionisio nit adulieren und Schmeichlerei treiben.‹


    [url=http://www.zeno.org/Literatur/M/Pauli,+Johannes/Prosa/Schimpf+und+Ernst/44.+Von+den+Schmeichlern+oder+Zud%C3%BCtlern,+Adulatores+genant/382.+Diogenes+a%C3%9F+Kraut,+aduliert+nit]zeno.org[/url]


    Modernisierte Rechtschreibung:


    Zitat


    Uf einmal was ein Tyrann in der Stadt Syracusana, ein großer Herr, der hieß Dionysius. Der hätt vil armer Lüt gemacht, und unter denen hätt er auch ein Philosophum verderbt, der hieß Diogenes, darum daß er ihm die Wahrheit sagt. Und uf einmal wusch Diogenes Kraut oder ein Salat und wollt ihn für den Hunger essen. Das sahe ein Diener desselbigen Dionysii und sprach zu demselbigen Diogenes: «Wann du wolltest tun, was mein Herr Dionysius wollt, so bedörftestu nit Kraut essen und hättest wohl besser Ding zu essen.» Diogenes sprach: «Wolltestu Kraut essen, so bedörftestu deinem Herren Dionysio nit adulieren und Schmeichlerei treiben.»


    (Deutschsprachige Erzähler des 16. und 17. Jahrhunderts, hrsg. von Siegfried Streller. Leipzig: Dieterich, 1986. S. 144)


    Modernisierte Rechtschreibung und modernisierte Grammatik:


    Zitat


    Einstmals war ein Tyrann in der Stadt Syrakus, ein großer Herr, der hieß Dionysios, der hatte viele Leute arm gemacht, und unter denen hatte er auch einen Philosophen, der hieß Diogenes, verdorben, darum weil er ihm die Wahrheit sagte. Und einmal wusch Diogenes Kraut oder einen Salat und wollte ihn vor Hunger essen; das sah ein Diener desselben Dionysios und sprach zu demselben Diogenes: »Wenn du tun wolltest, was mein Herr Dionysios will, so brauchtest du nicht Kraut zu essen und hättest wohl bessere Dinge zu essen.« Diogenes sprach: »Wolltest du Kraut essen, so brauchtest du deinem Herrn Dionysios nicht zu adulieren und Schmeichlerei zu treiben.«


    (Deutsche Schwänke. Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Günter Albrecht. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag, 1990. S. 74 f.)


    Wie man sieht, bleiben selbst im letzten Fall die meisten Eigentümlichkeiten erhalten, das ganze klingt nicht so modern wie es bei einer regelrechten Übersetzung der Fall wäre. Insbesondere bleibt auch das "adulieren" (umschmeicheln, speichellecken) erhalten, das in den Anmerkungen natürlich erklärt wird.


    Schöne Grüße,
    Wolf

  • Jetzt dachte ich gerade, da geht der Übersetzer doch etwas zu weit:


    Zitat

    Bei diesem Herrn kam mir alles widerwärtig und fast spanisch vor.


    aber nein, die Redewendung steht auch so im Original:


    Zitat

    Bey diesem Herrn kam mir alles widerwertig und fast Spanisch vor


    Die ist älter als ich dachte. Das Grimmsche Wörterbuch nennt Quellen Ende des 17. Jahrhunderts, der Duden tippt auf das 16. und führt als Beleg u.a. Grimmelshausen an:


    Zitat

    Sie stammt wahrscheinlich aus der Zeit, als der aus Spanien stammende Karl V. (1500-1558) deutscher Kaiser war. Viele bis dahin in Deutschland unbekannte und zum Teil auch als unerhört empfundene Sitten, Bräuche und Moden fanden Eingang und wurden mit Misstrauen betrachtet. Der mithilfe und mit den Mitteln der spanischen Inquisition gegen die Reformation geführte Kampf Karls V. spielte bei der Ablehnung alles Spanischen ebenfalls eine große Rolle. Die Spanier wurden als Handlanger der Inquisition betrachtet und galten, was im Dreißigjährigen Krieg besonders deutlich wurde, vielfach als ehrgeizig, feige und heuchlerisch.
    Ein literarischer Beleg aus jener Zeit findet sich bei Grimmelshausen (um 1622-1676) im "Simplicissimus", dem bedeutendsten deutschen Roman des 17. Jahrhunderts. Im 15. Kapitel des 2. Buches äußert sich der zu den Kroaten verschleppte Simplicius über seinen neuen Herrn, den Kroatenobristen Cordes in folgender Weise: "Bei diesem Herrn kam mir alles widerwärtig und fast spanisch vor ..."
    Aus: Duden 12, Zitate und Aussprüche. Mannheim 2002


    http://de.rolle.no/blog/04/vi.php


    Kurios ist nun allerdings, dass Breuer die Redewendung für erklärungsbedürftig hält: "fast Spanisch ] ziemlich fremd".


    Btw - wie man an dem kurzen Zitat sieht, besteht Kaisers Übersetzung oftmals aus einer, äh, behutsamen Modernisierung von Rechtschreibung und Syntax. Da, wo bei Kaiser ein Punkt ist, geht es bei Grimmelshausen natürlich noch weiter:


    Zitat

    … / die Hanauische Schlecker-Bißlein hatten sich in schwartzes gobes Brod / und mager Rindfleisch / oder wanns wol abgieng in ein Stück gestolnen Speck verändert; Wein und Bier waren mir zu Wasser worden / und ich muste an statt deß Betts / bey den Pferden in der Streu vor lieb nemen; vor das Lauten schlagen / das sonst jederman belustiget / muste ich zu Zeiten / gleich andern Jungen / untern Tisch kriechen / wie ein Hund heulen / und mich mit Sporen stechen lassen / welches mir ein schlechter Spaß war; […]


    das geht noch ein paar Zeilen so weiter und ich bin zu faul, das jetzt abzutippen 8-), Kaiser macht daraus mehrere Sätze, z.B.:


    Zitat

    Die Hanauer Leckerbissen verwandelten sich in grobes Schwarzbrot und mageres Rindfleisch oder bestenfalls ein Stück gestohlenen Speck. Aus Wein und Bier wurde Wasser, und anstelle eines Bettes musste ich mit der Streu bei den Pferden vorliebnehmen. Statt die Laute zu schlagen, was sonst jedermann erfreut hatte, musste ich manchmal wie andere Jungen unter den Tisch kriechen, wie ein Hund heulen und mich mit Stiefelsporen stechen lassen, was ich nicht besonders lustig fand.

  • Das ist nun allerdings unglücklich:


    Zitat

    … so daß ich schier glaube / daß etliche Stutzer die jetzige Mode davon abgesehen.


    heißt es im Original. Die "Stutzer" wollte Kaiser dem heutigen Leser nicht zumuten und übersetzt:


    Zitat

    … so dass ich fast glaube, die Lackaffen von heute haben sich ihre neueste Mode bei mir abgesehen.


    Ich krieg jetzt so aus dem Stand nicht heraus, wann das Wort "Lackaffe" aufkam – im Simplicissimus scheint es mir allerdings deutlich fehl am Platz zu sein.

  • "Lackaffe" stammt laut Küpper, Wörterbuch der dt. Umgangssprache aus dem späten 19. Jahrhundert. Demnach findet sich das Wort in einem Nachschlagewerk von 1883 ( Der richtige Berliner in Wörtern und Redensarten von Hans Meyer). Wobei es ja weniger auf das tatsächliche Alter ankommt, sondern mehr auf das gefühlte Alter. So ist beispielsweise das ziemlich modern klingende superklug wesentlich älter als aufwendig/aufwändig; und Pullover ist deutlich älter als Häme. :-)


    In meinen Ohren klingt "Lackaffe" nicht gar so modern, daß man das Wort in einer Übersetzung eines älteren Buches nicht verwenden könnte. In einer aktuellen Shakespeare-Übersetzung oder so würde mich das nicht stören.


    Schöne Grüße,
    Wolf

  • In meinen Ohren klingt "Lackaffe" nicht gar so modern, daß man das Wort in einer Übersetzung eines älteren Buches nicht verwenden könnte.


    man kann natürlich schon und so sehr stört das nicht. Aber mich doch genug, dass ich kurz, äh, gestutzt habe. „Stutzer“ hätte imho einfach so stehen bleiben können (aber auch das hätte ich für jünger und einen Übersetzereingriff gehalten ;-)).


  • das Interessanteste an diesem Beitrag ist der Leserkommentar unter der Überschrift "Grimmelshausen zum Wohlfühlen?"


    Ach, ich weiß nicht. Solche Mischungen aus Beleidigung, Besserwisserei und Gönnerhaftigkeit stoßen mir eher übel auf. (Der Autor ist übrigens wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie an der TU Berlin, da muss man wohl noch dies und das beweisen. Und Leserbriefe an die FAZ schreiben ;-))