Juli 2009 - Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts

  • Kann mir gleich zum Anfang mal jemand mit der Übersetzung des Vergil Zitates helfen?

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Hier ist der Ort der Schatten, des Schlafes, der narkotisierenden Nacht
    Bei Vergil wird so die Unterwelt angekündigt.


    Danke für die Erläuterung. Bei Latein muß ich leider passen, und ich habe gesehen, Thelen hat später auch spanische Zitate benutzt. Ich hoffe, da kann mir dann auch jemand helfen. :winken:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Ich bin gestern noch bis S. 48 vorgedrungen. Die Lektüre macht bis jetzt Spass. Die Spiegelung der Personen - eine Autobiografie ist ja nie über den Autor selber, sondern immer über den Autor, wie ihn sich der Autor vorstellt oder wie er sich gerne präsentieren möchte - wird als erstes thematisiert. Allerdings stellt mir Thelen den guten Vigoleis etwas allzu naiv auf die Bühne. Aber er ist ein feiner Beobachter, die spanische Familienszene ist sehr gut gelungen. Auch sprachlich angenehm zu lesen. Ich hoffe, das geht so weiter. :klatschen:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ich bin noch nicht ganz so weit, aber auch mir ist die Sprache positiv aufgefallen (wenn sie auch in der Taschenbuchausgabe etwas klein gedruckt ist).
    Die prügelnden spanischen Eltern, ja, das hatte was. :breitgrins:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)


  • er ist ein feiner Beobachter, die spanische Familienszene ist sehr gut gelungen.


    Ja, die Szene fand ich auch besonders witzig und treffend. Gleichzeitig schildert Thelen auch sehr fein das typische kulturelle Unterlegenheitsgefühl des unbeholfenen Nordländers angesichts des mediterranen Alltaglebens, wobei es ja hier ironischer Weise vor allem um die elegante Treffsicherheit eines Ohrfeigen austeilenden Vaters geht.
    Von der Sprache bin ich auch sehr angetan. Allerdings stelle ich fest, dass auf fast jeder Seite ein deutsch klingendes Wort vorkommt , das ich nicht kenne: Schlunte(ich kenn nur Schlunze), Schöke, schürgen, Tüchte, Anlände, Gäuche , Ledikant (ja, aus dem Zusammenhang gefolgert: Einzelbett), Befahrnis, Spute, Besage , um nur einige aus den ersten Seiten zu nennen. Es scheinen Verballhornungen, Neologismen, Archaismen , Dialektismen zu sein. Wie verfahrt Ihr damit? Einfach überlesen? Nachschlagen? Oder versteht Ihr alles?
    Ja, Thelen geht gut mit Sprache um und ist auch da ein witziger Beobachter:

    Zitat

    ... fiel Zwingli zuweilen herablassend ins Deutsche, das ihm zwar geläufig von den Lippen ging, nicht aber ohne die rollenden Rrr und die Kehlgeräusche, die ein Vermächtnis seiner eidgernössischen Geröllhalde waren ...


  • Es scheinen Verballhornungen, Neologismen, Archaismen , Dialektismen zu sein. Wie verfahrt Ihr damit? Einfach überlesen? Nachschlagen? Oder versteht Ihr alles?


    Nein, ich verstehe nicht alles. Aber falls es sich nicht aus dem Kontext erschließen läßt, und ich nicht zufällig gerade in der Nähe eines Lexikons sitze, ignoriere ich es großzügig.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Allerdings stelle ich fest, dass auf fast jeder Seite ein deutsch klingendes Wort vorkommt , das ich nicht kenne: Schlunte(ich kenn nur Schlunze), Schöke, schürgen, Tüchte, Anlände, Gäuche , Ledikant (ja, aus dem Zusammenhang gefolgert: Einzelbett), Befahrnis, Spute, Besage , um nur einige aus den ersten Seiten zu nennen. Es scheinen Verballhornungen, Neologismen, Archaismen , Dialektismen zu sein. Wie verfahrt Ihr damit?


    Wo sollte man Neologismen nachschlagen? In den meisten Fällen erschliesst sich ein ungefährer Sinn ja aus dem Zusammenhang. Wo nicht: tant pis.


    Ja, Thelen geht gut mit Sprache um und ist auch da ein witziger Beobachter:


    Gerade da habe ich allerdings gestockt und gezweifelt. Ich habe im Internet gesucht, allerdings nichts gefunden: Ich wüsste gerne mehr über die Herkunft von Beatrice. Die Mutter liegt in Basel im Sterben. Wenn dies Beatricens und Zwinglis Heimat war, müsste das rollende "R" fehlen und auch die Gutturallaute wären relativ gedämpft.

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  • Wo sollte man Neologismen nachschlagen?

    :zwinker:
    Man kann durch Nachschlagen unbekannter Wörter zumindest herausfinden, dass es sich nicht um Archaismen, Dialektismen oder was auch immer handelt, sondern Wortschöpfungen des Autors sein müssen, deren Sinn man sich selbst erschließen muss.


    Ich wüsste gerne mehr über die Herkunft von Beatrice. Die Mutter liegt in Basel im Sterben. Wenn dies Beatricens und Zwinglis Heimat war, müsste das rollende "R" fehlen und auch die Gutturallaute wären relativ gedämpft.


    Ja, die Bruckners waren wohl eine Basler Gelehrtenfamilie (vgl. Nachwort zur List Taschenbuch-Ausgabe). Irgendwo habe ich gelesen, Beatrice und ihre Brüder seien Halbsüdamerikaner gewesen. Aber hier geht es ja um das schweizerische R. Schade wenn's für die Baseler nicht zutrifft. Die rollenden Rrr und die Kehllaute als Vermächtnis der eidgenössischen Geröllhalde fand ich einfach zu schön. Na ja, se non e vero, e ben trovato wie der Tessiner sagt.

  • Ach ja - könnte ich auch lesen :redface: . Müsste ja in der Hardcover-Version ebenfalls dabei sein ..


    Ich habe das dann noch gestern Abend nachgeholt. In meinem Nachwort steht dann aber auch nur "Schweizer Gelehrtenfamilie" ... Allerdings erwähnt Thelen in seinem Roman (?) irgendwo zwischen all den Digressionen - ebenfalls digressiv -, dass Jacob Burckhardt zur Verwandschaft Beatricens gezählt würde. Das wäre dann doch wieder Basel. Abgesehen davon: Thelen stammt ja vom Niederrhein (müsste ungefähr dieselbe Gegend sein, aus der Hans Dieter Hüsch stammt, oder?). Ich könnte mir vorstellen, dass für ihn tatsächlich jedwede alemannische Färbung in der Aussprache nach rollendem "R" und Gutturallauten klingt ...


    Im übrigen: Thelen ist ein Meister der Digression. Und der Kaktussätze. :smile: Bisher eine äusserst angenehme Lektüre.

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  • Zitat von "Gontscharow"


    Allerdings stelle ich fest, dass auf fast jeder Seite ein deutsch klingendes Wort vorkommt , das ich nicht kenne: Schlunte(ich kenn nur Schlunze), Schöke, schürgen, Tüchte, Anlände, Gäuche , Ledikant (ja, aus dem Zusammenhang gefolgert: Einzelbett), Befahrnis, Spute, Besage , um nur einige aus den ersten Seiten zu nennen. Es scheinen Verballhornungen, Neologismen, Archaismen , Dialektismen zu sein.


    Das sind ja hübsche Wörter. ;-) Eine "Schlunte" ist tatsächlich eine "Schlunze" (liederliche Frau), nur eben in einer eher niederdeutschen Lautform. "Ledikant" kommt aus dem Niederländischen, wo es "Bettstelle" bedeutet. Auch die anderen erwähnten Wörter sind in Wörterbüchern verzeichnet, beispielsweise:


    die Schöke - http://books.google.de/books?id=rScSAAAAIAAJ&jtp=776
    schürgen - http://books.google.de/books?id=rScSAAAAIAAJ&jtp=817
    die Spute - http://books.google.de/books?id=rScSAAAAIAAJ&jtp=1020


    Die einzige Ausnahme ist wohl "Tüchte", wenn das ein Singular ist und "Tüchtigkeit" bedeuten soll, dann hat das vor Thelen möglicherweise noch niemand so verwendet.


    Zitat von "BigBen"


    Nein, ich verstehe nicht alles. Aber falls es sich nicht aus dem Kontext erschließen läßt, und ich nicht zufällig gerade in der Nähe eines Lexikons sitze, ignoriere ich es großzügig.


    Ich kann so etwas nur schwer ignorieren. ;-) Manchmal schlage ich sogar ein Wort nach, dessen Bedeutung ich bereits kenne, nur weil ich wissen will, ob ich ein Wörterbuch besitze, wo dieses Wort drinsteht. :breitgrins:


    Schöne Grüße,
    Wolf

  • Hallo Wolf!


    Super, dass Du als Thelen-Leserunden-Abstinenzler unsere Hausaufgaben machst! :klatschen:
    Danke für Deine Mühe! Wirklich interessant, was Du zutage gefördert hast. Irgendwie beruhigt es mich zu wissen, dass die überwiegende Mehrzahl verbürgte Wörter und keine Worterfindungen sind.


    Zum Wort Tüchte: Auch Untüchte kommt vor. Im Prolog sagt Thelen von sich:...des Lebens Untüchte wie ein Zeichen an der Stirn. Das klingt natürlich anders als: die Lebensuntüchtigkeit wie ein Zeichen an der Stirn...Dieses Weglassen von Struktursilben, Prae-und Suffixen habe ich auch anderweitig gefunden: Ruch statt Geruch, Sporn statt Ansporn , spornen statt anspornen ... Klingt irgendwie kerniger. Er hat schon Sprachwitz, unser Thelen. Gerade hab ich verklepperte Oberlehrer gefunden. Was sagt man dazu?


    Liebe Grüße
    G.

  • Ich wusle mich unterdessen weiter durch das Labyrinth Thelen'scher Gedankengänge und bin mit Kapitel VI fertig (= S. 123). Während der eigentliche Erzählstrang mit den ersten Erlebnissen von Vigoleis und Beatrice in ihrer neuen Wohnung (die zugleich die Wohnung von Zwinglis Konkubine ist) fortfährt, erfahren wir in diversen Exkursionen einiges über Vigoleis' Kindheit. Die Sprache gefällt mir ebenfalls nach wie vor ... :winken:

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  • Ich habe das dann noch gestern Abend nachgeholt. In meinem Nachwort steht dann aber auch nur "Schweizer Gelehrtenfamilie"


    In meinem auch! :redface:
    Ich habe dann mal bei google Beatrice Bruckner Basel eingegeben und fand u.a.:meine eigene kühne Behauptung im Klassikerforum, aber auch folgendes: 2003 fand anlässlich des 100.Geburtstages Thelens eine Ausstellung mit dem Titel A. V. Thelen - virtuoser Erzähler und Vagabund in Basel statt. Dazu heißt es: Vigoleis' Beatrice, die die meisten für eine literarische Fiktion hielten, soll eine Vitrine gewidmet werden. Sie stammte aus Basel, sie war die Schwester des Historikers Albert Bruckner und die Nichte des Sprachwissenschaftlers Wilhelm Bruckner..
    Schließlich stieß ich auf die Genealogie der Familie Stroux/Speiser (http://www.stroux.org/patriz). Dort erscheint Beatrice unter Stamm Bruckner Basel Argentinien. Vater: Albert Bruckner, Pfarrer und Privatdozent an der Uni Basel. Großvater: Theophil Bruckner, Dr med, vermutlich der Homöopath in der Insel und neben Bruder Albert (s.o.) der jüngste Bruder Peter (Zwingli), dessen Spuren sich in Esperanza/ Argentinien verlieren...Die Mutter, Anita Haas, war wohl Südamerikanerin. Daher Beatricens Inkablut im Text.
    Beatrice, gebildet , belesen und polyglott, der immer alles zuerst vorgelesen wurde, müsste ja eigentlich Einspruch erhoben haben bei der Stelle mit dem R. Vielleicht hat sie es wegen des schönen Bonmots durchgehen lassen, wie sie ja überhaupt ihrem Don Vigo so einiges nachgesehen hat.
    Um in dieser Sache ganz sicher zu gehen :breitgrins:, werde ich jemanden befragen, der noch mit Beatrice im Seniorenheim in Viersen/ Dülken persönlich gesprochen hat. Kein Witz: Neulich erzählte mir ein Pfarrer i.R. vom Niederrhein, wo er über Jahrzehnte eine Pfarrstelle innehatte. Ich fragt, ob er Süchteln kenne und, als er bejahte, ob Thelen dort noch bekannt sei. Ach, das sei der mit dem Buch, irgendwas mit Insel und Gesicht... ja , den habe er noch im Altersheim in Viersen /Dülken besucht, allerdings habe der Besuch der Frau gegolten , die Schweizerin und Protestantin gewesen sei...
    Den werde ich mal fragen, ob er sich an ein rollendes R bei Frau Thelen erinnert. :breitgrins: Dann ist aber Schluss.


    Ich bin ebenfalls bis zum 6. Kapitel vorgedrungen. Ja, die Kindheitserinnerungen. So witzig sie daherkommen mit dem älteren Bruder, Züchter des Unflughuhns und dem bemerkenswerten Eieranfall , so bitter(böse) sein Fazit:

    Zitat

    Ich selbst mag zudem Kindheitserinnerungen nicht, ich lese lieber eine intelligente Tiergeschichte.

  • Beatrice, gebildet , belesen und polyglott, der immer alles zuerst vorgelesen wurde, müsste ja eigentlich Einspruch erhoben haben bei der Stelle mit dem R. Vielleicht hat sie es wegen des schönen Bonmots durchgehen lassen, wie sie ja überhaupt ihrem Don Vigo so einiges nachgesehen hat.


    Das rollende "R" erstaunt mich insbesondere, weil ich meine, dass der Basler "Daig" sich in der Aussprache des "R" - ähnlich wie die Bernburger - das französische Zäpfchen-R angeeignet hatten. Vielleicht ein kleiner, feiner Hieb des aus nicht ganz so feinen Verhältnissen stammenden Thelen gegen seine angeheiratete Sippschaft, des katholisch Erzogenen gegen das erzprotestantische Basel seiner Beatrice?

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Guten Abend!


    Ich las heute die ersten 70 Seiten in der gebundenen Ausgabe. Die Taschenbuchausgabe habe ich versehentlich auch gekauft, so dass ich beide benutzen kann.


    Der ersten Eindruck ist - wie bei Euch - ein sehr positiver. Es wird schon nach wenigen Seiten klar, dass hier jemand einen völlig eigenen Stil schreibt, weit entfernt von allem Mitte des letzten Jahrhunderts üblichen. Obwohl die verwendeten Elemente wie barocker Sprachstil (Schelmenromane, Doderer...) und Digressionen (Sterne...) ja viele Vorläufer haben, kombiniert er sie doch in einer sehr einzigartigen Weise. Vor allem der kreative Wortschatz scheint mir ohne Vorbild zu sein. Nach Thelen könnte man da noch an Arno Schmidt denken.


    Erwarte ein großes Lesevergnügen, wenn das so weitergeht.


    CK

  • Ich las heute die ersten 70 Seiten in der gebundenen Ausgabe. Die Taschenbuchausgabe habe ich versehentlich auch gekauft, so dass ich beide benutzen kann.


    Ich vermute aber mal, dass die beiden Ausgaben text- und seitenidentisch sind, oder? (Inkl. identisches Nachwort?)


    Der ersten Eindruck ist - wie bei Euch - ein sehr positiver. Es wird schon nach wenigen Seiten klar, dass hier jemand einen völlig eigenen Stil schreibt, weit entfernt von allem Mitte des letzten Jahrhunderts üblichen. Obwohl die verwendeten Elemente wie barocker Sprachstil (Schelmenromane, Doderer...) und Digressionen (Sterne...) ja viele Vorläufer haben, kombiniert er sie doch in einer sehr einzigartigen Weise. Vor allem der kreative Wortschatz scheint mir ohne Vorbild zu sein. Nach Thelen könnte man da noch an Arno Schmidt denken.


    Wobei das bei Schmidt - wie bei seinem Vorbild Joyce - ja dann zur Manier ausgeartet ist. Während es bei Thelen irgendwie organisch wirkt. Barock eben.


    Erwarte ein großes Lesevergnügen, wenn das so weitergeht.


    Es scheint so weiterzugehen. Ich bin jetzt im Haupterzählstrang dort angekommen, wo unser Pärchen im Haus des Conde abzusteigen gezwungen wird, da Zwinglis Geliebte Amok gelaufen ist. Das ist zu Beginn vom zweiten Buch.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus