Literatur und die eigene Existenz. Eine Umfrage

  • „Wer jetzt nicht zaubern kann, der ist verloren!“ (Ludwig Hohl)


    James M. Barrie: Peter Pan
    Hermann Hesse: Demian
    Fjodor M. Dostojewski: Die Brüder Karamasow
    Ludwig Hohl: Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung
    Franz Kafka: Erzählungen
    Thomas Mann: Der Zauberberg
    Thomas Mann: Joseph und seine Brüder
    Theodor W. Adorno: Minima Moralia
    Friedrich Hölderlin: Gedichte
    Hans Wollschläger: Herzgewächse oder Der Fall Adams


    Apropos Herzgewächse:
    Vor einigen Tagen habe ich mir eine Lesung des Autors aus der zweiten Fassung des Romans, die der Hessische Rundfunk 1964 unter dem Titel Warten auf G. ausstrahlte, angehört. Mein Eindruck davon mündete in den Gedanken, dass man Unseld, so befremdlich die Gründe seiner Ablehnung auch gewesen sein mögen, am Ende wohl dafür danken muss, dass er die Publikation der 2. Version der Herzgewächse ablehnte. Im anderen Fall hätten wir heute zwar eine vollständige Version des Werkes, zu einer Neufassung aber hätte sich Wollschläger dann wohl schwerlich genötigt gesehen. Ein trostloser Gedanke dies – jedenfalls dann, wenn man Warten auf G. als Teil für das Ganze nimmt.
    Die Lesung entspricht der Szene in Auerbachs Keller der publizierten Version, also dem Eintrag vom 20. April; allerdings fehlen in ihr – für mich durchaus überraschend – die für die 3. Fassung so charakteristischen Zitate aus Goethes Faust. Personen und Handlung sind in beiden Versionen identisch; auch die spezifische Technik des Autors, ein gedankenflüchtiges, sich zersplitterndes Bewusstsein nicht eigentlich abzubilden, sondern zu komponieren, ist bereits in der 2. Fassung sichtbar. Der eigentliche Text aber, nur halb so umfangreich wie die spätere Version, ist ein anderer, und so nahe sein Gestus auch dem der endgültigen Fassung sein mag – an deren auratische Wucht reicht er nicht heran. Er ist grauer, könnte man sagen, asketisch geradezu und der späten Prosa Becketts nicht unverwandt. Galland aber, dessen Auftritt die Szene ja dominiert, braucht eine andere Sprache, nämlich jene oppulent barocke, üppig wuchernde, in eine selbstgefällig überbordende Farbigkeit ausartende, die der Leser der gedruckten Version kennt und deren singuläre Komik dazu verführt, einen derart fragwürdigen Charakter wie F.A.G. als jedenfalls ungemein unterhaltsam zu empfinden.
    Es ist indes nicht nur der Zungenschlag Gallands, der erst in der endgültigen Fassung zu jener Genialität findet, die dem Leser den Atem raubt. Die „außerordentliche sprachliche Begabung“, die Unseld dem Autor immerhin attestierte – man wird sie auch beim Hören von Warten auf G. vernehmen, aber jenes Leuchten der Sprache der gedruckten Version … - nun, es hat bekanntlich seine Schwierigkeit, das Eigentliche eines Kunstwerks von solchem Rang ins Netz der Worte zu locken, und ehe ich hier blumig zu plappern beginne …
    En passant: Ich bin durchaus d’accord mit jenen Leuten, die Herzgewächse oder Der Fall Adams – unabhängig vom Unvollendetsein des Romans – zum Zeugnis eines literarischen Scheiterns erklären. Dazu ließe sich manches sagen. Dies hindert mich aber nicht, dieses Werk als eines der bedeutendsten und fesselndsten der Weltliteratur zu betrachten und zu einem meiner zehn liebsten Bücher zu zählen. Wer wäre je auf solcher Höhe gescheitert? Hölderlin vielleicht mit seinen späten Hymnen oder Robert Musil mit seinem ebenfalls unvollendeten Roman.

  • Vor einigen Tagen habe ich mir eine Lesung des Autors aus der zweiten Fassung des Romans, die der Hessische Rundfunk 1964 unter dem Titel Warten auf G. ausstrahlte, angehört.


    Hallo Scardanelli, herzlichen Dank für Deinen Bericht und den interessanten Vergleich der beiden Kapitelversionen. Das klingt sehr spannend. Aber besonders interessiert mich, woher Du den Mitschnitt der Lesung erhalten hast? - Danke!

  • Aber besonders interessiert mich, woher Du den Mitschnitt der Lesung erhalten hast?


    Ich habe die Lesung zum Preis von 30,- vom Mitschnittservice des Hessischen Rundfunks erhalten – nur wenige Tage nach einer Anfrage bei:
    archivservice@hr-online.de.
    Es ist sicherlich hilfreich, wenn man der Bitte um einen Mitschnitt den Archivnachweis hinzufügt. Man findet diesen hier:
    http://members.aon.at/andreas.weigel/Warten-auf-G.htm
    Man erhält dann eine Stereo-MP3-CD mit einer Auflösung von 256 kbps in einer sehr guten akustischen Qualität.
    Ich selber bin übrigens auf der Suche nach einer digitalisierten Version der Lesung Wir in effigie. Ich habe noch die analoge Kassette, aber leider keinen Rekorder. Ich zweifle auch, dass das Band nach dreissig Jahren noch etwas Verständliches von sich geben könnte. Wenn jemand diesbezüglich einen Rat weiss, ich wäre ihm verbunden.

  • Herzlichen Dank für die Antwort. Ich habe den Hessischen Rundfunks vor Jahren wegen einer Kopie der Sendung angeschrieben, aber damals die Antwort erhalten, dass sie davon keine Mitschnitte außer Haus geben oder verkaufen, weil sie erwägen, Wollschlägers Lesung als Hörbuch zu veröffentlichen. Als ich vor einigen Monaten erneut freundlich nachgefragt habe, was es in Sachen "Warten auf G." Neues gibt, habe ich nicht einmal eine Antwort erhalten.

  • Lebensbücher?
    Ach! Da beginne ich einmal mit >Herrn Keuner< von Brecht, und schließe gleich >der Fremde< von Camus an, dann >Amerika< von Kafka. Diese drei Bücher haben mich als junge Frau sehr lange beschäftigt, es waren auch fast die ersten Bücher meiner Bibliothek. Dann fand ich die Amerikaner durch John Steinbeck, den ich komplett las, mit Hemingway fortsetzte und dann William Faulkner fand, dessen Geschichten ich einfach als großartig erlebte. Beckett folgte und Sartre natürlich und und und...
    Irgendwann habe ich mich den Frauen in der Literatur zugewandt, was eine reine Offenbarung war, und eine Art Befreiung dazu! Hier möchte ich Marie Luise Kaschnitz gern als sehr beeindruckend nennen, dann Simone de Beauvoir und Christa Wolf ebenso wie Sarah Kirsch...
    Genreübergreifend sind es die Bücher von Ursula K. LeGuin, die mich geprägt haben in ihrer Eigenart, danach ich viel, viel...Oh! So viel Verschiedenes gelesen habe, das durchaus noch präsent ist, aber nicht gar so prägend...
    Heute sind es die Klasiker, die mir mehr zu sagen haben, als zahlreiche Werke, die ich dazwischen gelesen habe, aus welchem Genre auch immer.
    Ist es nicht eigenartig, dass ich zu den Klassikern zurück finde, die ich zu Schulzeiten lesen musste und nicht wollte, und nun erobern sie mich?! :zwinker:

  • Sehr inspirierend war für mich Demian von Hermann Hesse. Es war wohl das erste Buch, das mich gefesselt und meine Leidenschaft für die Literatur eingeläutet hat. In den letzten Jahren kamen dann noch Oscar Wilde, Kafka und Goethe dazu, aber auf ganz bestimmte Werke kann ich mich nicht beschränken.

  • Wieder was gelernt. Wer Germanistik studiert hat, ist noch lange kein Germanist!



    Ja. Denn ich habe das Studium zwar mal angefangen (übrigens nicht als erstes meiner Studiümer ;) ), dann aber nochmals gewechselt. Auf Linguistik. :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo ihr!


    Wie es der Zufall will, beschäftige ich mich gerade mit dieser Frage, welche hochrangige Literatur als existenziell und lebensverändernd empfunden wird von Lesern und woran sich das festmacht.


    Ich nenne jetzt nur die Autoren, die bei mir neben ihrem literarischen Aspekt den Rang eines Lebenshilfe-Buches errangen, die ich deswegen auch mehrfach weiterempfahl, auch an Nichtleser. Das wären: Bibel, Gustav Meyrink, Hermann Hesse. Im psychologischen Bereich: Paul Tournier.


    Ansonsten lässt sich sagen, dass gewisse Autoren in meiner Kindheit präsent waren, neben der Bibel z. B. Goethe oder Jeremias Gotthelf. Mit 10 trug ich Goethe vor der Klasse vor und genoss die Zweideutigkeit in den Texten, womit ich die verdutzten Erwachsenen überraschte und irreführte. Da fühlte ich mich irgendwie überlegen, weil ich das wirklich gut drauf hatte. Weiter gab es in der Bibliothek meiner Familie einen Riesenband von Auszügen der Literaturnobelpreisträger. Dort schmökerte ich auch schon sehr früh. In der Schule war ich auch immer sehr interessiert an Hochliteratur, nervte aber öfter durch meine Interpretationen, weil ich das "Geheimnis" der Texte zu früh lüftete und der Lehrer dafür eigentlich eine volle Stunde veranschlagte. Für mich war der Deutsch-Unterricht stets wie ein investigativer Krimi der Literaturenträtselung. Meine konservativen Eltern legten Wert auf hochrangige Literatur, sodass ich gleich damit einstieg. Ein Glück für mich. So kam ich auf den Geschmack. :smile:

  • Wow. Ein richtiges Wunterkind. Schade dass bei uns immer der Koran gelesen wurde, weshalb ich bis Mitte 40 keine weiteren Bücher angerührt habe


    :zwinker:

    &quot;Es gibt andere Geschichten auf einem andern Blatt Papier, doch jede ist mit der ersten verwandt&quot; * Keimzeit

  • Wunderkind würde ich nicht sagen. Ich war nicht in allen Fächern so gut. Aber ich komme aus einer Künstlerfamilie und wurde von meinen Eltern sprachlich und künstlerisch gefördert, wofür ich meinen Eltern sehr dankbar bin. In den naturwissenschaftlichen Fächern war ich deutlich schwächer.

  • hm, ja. Bei mir hats auch immer an Geräteturnen gehapert. Ach ja. Fremdsprachen war ich urschlecht.

    &quot;Es gibt andere Geschichten auf einem andern Blatt Papier, doch jede ist mit der ersten verwandt&quot; * Keimzeit

  • Sehr interessante Listen sind hier zu lesen. So lange habe ich allerdings nicht zu bieten. Spontan fallen mir “Der Tod in Venedig“ von Thomas Mann, “Wem die Stunde schlägt“ von Hemingway, “Die Elenden“ von Hugo und was mich seit Neuestem nicht loslässt Simone de Beauvoirs “Memoiren eines jungen Mädchens aus gutem Hause“ ein. Vor allem das Letzte finde ich momentan höchst faszinierend, da ich viele Gefühle und Gedanken darin wiedererkenne. Auch die “Besten Jahre“ mit Sartre sind inspirierend....
    Ich glaube dass einige Bücher einen lange gedanklich beschäftigen. Ich bin eher kein mehrfach Leser aber an einige Bücher erinnere ich mich immer wieder weil sie mir einen solchen Eindruck gemacht haben, dass ich sie nicht vergessen kann. Lest ihr eure Lieblinge mehrfach?
    Gruß,
    Alice

  • Lauterbach
    Das ist interessant! Ich könnte mir vorstellen dass es vielleicht um Umbrüche in deinem Leben geht wenn du es in diesem Rythmus liest? Wenn du nicht weißt was dir daran gefällt, ändert sich dann aber dein Leseeindruck? Ich könnte mir denken dass man sich beim wiederlesen an vergangene Lektüren erinnert, an die Lebensumstände oder an die Menschen. Ein Buch ist bei mir selbst oft mit solchen Eindrücken verbunden. :smile:

  • Da gibt es bei mir so einige, und die waren wirklich lebensentscheidend für mich:


    Das Tagebuch der Anne Frank (das mich mit vierzehn in den Grundfesten erschütterte)
    Dylan Thomas: Under Milkwood (Schulpensum, eine Offenbarung von Poesie)
    Sylvia Plath: Ariel (nach dieser Lektüre war nichts mehr wie vorher)
    Virginia Woolf: A Room of one´s own (feministisches Erwachen)


    :winken:


  • James A. Coleman. Relativitätslehre für Jedermann


    Ich bin in einer Stadt im westlichen Teil von Massachusetts aufgewachsen. In der Mittelschule habe ich bei einem Schachclub mitgemacht, und jede Woche kam ein älterer Mann der eine Art Mentor war. Ich habe einige Male mit ihm gespielt, und jedes Mal verloren. Eines Tages hat er mir ein Buch geschenkt, das er selber geschrieben hat: Relativity for the Layman. Er hat mir auch erklärt wie er an dem Zünder für die Atombombe gearbeitet hat. Ich war ziemlich beeindruckt. Später habe ich erfahren dass er früher an einer hiesigen Universität Physik unterrichtet hatte.