• Wer von euch kennt Edgar Hilsenrath, hat etwas von ihm gelesen und kann darüber berichten?


    Ich wurde über einen Artikel in der Zeitschrift "knack" auf ihn aufmerksam, der anlässlich der niederländischen Übersetzung des Romans "Nacht" erschien - ein Artikel, der mich erschütterte aber auch tief beeindruckte.


    Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Oh ja, Hilsenrath, wenn ich an "Das Märchen vom letzten Gedanken" denke, läuft mir immer noch ein kalter Schauer über, ganz klasse! :klatschen:

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Hallo Friedrich-Arthur,


    Hilsenrath ist einer meiner absoluten Lieblinge, es hat noch nie und wird auch nie eine Wohnung ohne H. in meinem Leben geben! Der Nazi und der Friseur ist wunderbar. Du musst die ganze Zeit lachen und doch ist es ein Buch über den Holocaust. Er beginnt folgendermaßen:


    Zitat

    Ich bin Max Schulz, unehelicher, wenn auch rein arischer Sohn der Minna Schulz... zur Zeit meiner Geburt Dienstmädchen im Hause des jüdischen Pelzhändlers Abramowitz. An meiner rein arischen Herkunft ist nicht zu zweifeln, da der Stammbaum meiner Mutter, also der Minna Schulz, zwar nicht bis zur Schlacht im Teutoburger Walde, aber immerhin bis zu Friedrich dem Großen verfolgt werden kann. Wer mein Vater war, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber er war bestimmt einer von den fünfen: der Fleischer Hubert Nagler, der Schlossermeister Franz Heinrich Wieland, der Maurergehilfe Hans Huber, der Kutscher Wilhelm Hopfenstange oder der Hausdiener Adalbert Hennemann.


    Ich habe die Stammbäume meiner fünf Väter sorgfältig prüfen lassen, und ich versichere Ihnen, daß die arische Herkunft der fünf einwandfrei festgestellt wurde. Was den Hausdiener Adalbert Hennemann anbetrifft... da kann ich sogar mit Stolz dagen, daß eriner seiner Vorfahren den Spitznamen "Hagen der Schlüsselträger" trug, ein Knappe des ruhmreichecn Titer Siegismund von der Weide, dem sein Herr und Gebieter als Zeichen seines großen Vertrauens einen bestimmten Schlüssel anvertraute... nämlich: den Schlüssel des Keuschheitsgürtels seiner Gemahlin... ein vergoldeter Keuschheitsgürtel,d er später am Hofe des großen Königs berühmt wurde und Geschichte machen sollte.


    Itzig Finkelstein wohnte im Nachbarhaus. Er war genauso alt wie ich oder... um genauer zu sein...... usw.


    Itzig Finkelstein ist der jüdische Nachbarsjunge. Unglücklicherweise sieht Itzig arisch aus und Max eben nicht. Während sie in der Kindheit noch unzertrennlich sind, wird aus Max aber irgendwann ein SS-Mann... bis der Krieg zu Ende ist und die Nähe zu Itzig ihm auf äußerst kuriose Weise zu Hilfe kommt.


    Nacht wiederum ist sehr schwere Kost. Ich habe mit 15 gelesen und niemals mehr vergessen können. Während Hilsenrath im Nazi & der Friseur seine Kriegserlebnisse auf eine wundervolle Weise in einer Persiflage verabeitet, hat er mit Nacht einen Tatsachenroman geschrieben. Es geht um einen Jungen im Ghetto der ums nackte Überleben kämpft. Es ist sehr grausam, vielleicht fand ich es nur so schrecklich, weil ich so jung und im gleichen Alter war. Dieses Buch war sehr wichtig für mich.

  • Lieber finsbury,


    das freut mich! Das unerhörte an diesem Buch war ja damals den Holocaust in eine Groteske zu packen. Das konnte er sich nur als Überlebender erlauben, jeder andere wäre wäre einer späten Vernichtung anheim gefallen. Er hat wohl auch lange keinen Verlag gefunden, der sich traute das Buch zu drucken. Irgendwie glaube ich mich mich auch noch erinnern zu können, dass Hilsenrath nie viel Geld hatte. Aber das kann auch die Verklärung der Erinnerung sein.


    Hilsenrath selber verkehrte Ende der Siebziger muss das gewesen sein oft im Zwiebelfisch am Savignyplatz, also in der Kneipe gegenüber derjenigen, in der Grass schrieb. Dort waren und sind überhaupt sehr viele Künstlerlokale und eben auch Buchläden. Warum macht Ihr denn nicht alle mal einen Boardausflug hierher??? Wir könnten soviel Spaß miteinander haben!

  • Moin, Moin!


    Nacht wiederum ist sehr schwere Kost. Ich habe mit 15 gelesen und niemals mehr vergessen können. Während Hilsenrath im Nazi & der Friseur seine Kriegserlebnisse auf eine wundervolle Weise in einer Persiflage verabeitet, hat er mit Nacht einen Tatsachenroman geschrieben. Es geht um einen Jungen im Ghetto der ums nackte Überleben kämpft. Es ist sehr grausam, vielleicht fand ich es nur so schrecklich, weil ich so jung und im gleichen Alter war. Dieses Buch war sehr wichtig für mich.


    Meine Hilsenrath-Lektüre ist ins Stocken geraten, weil ich mir vor 1 Jahr "Nacht" gekauft hatte und nun vor diesem Wälzer regelmäßig vor Ehrfurcht erstarre und es einfach nicht wage. Vorher las ich "Der Nazi & der Friseur", "Die Abenteuer des Ruben Jablonski" und zuletzt "Bronskys Geständnis" - und das ist bereits 6 Jahre her.



  • "Nacht" steht seit Jahrzenten im Regal und lässt sich nicht heraus nehmen. Verklemmt nehme ich an :sauer:


    Vielleicht hilft mir jemand mit einer Leserunde!?



    Poppea:


    Gibt es in Berlin wirklich noch Lokale in denen geschrieben wird?


    Wenn das bekannt wird, dann bekommen doch die Dichter keinen Platz mehr vor lauter Touristen die über die Schreibenden staunen wollen und die Preise sind doch für einen anständigen, denn armen Schriftstellern nicht zu zahlen, oder?


    Ansichtskarten habe ich auch schon in Cafes geschrieben :breitgrins:


    Gruß aus Langeoog
    lost

  • Tja Lost,


    dies wäre doch eine gute Aufgabe für eine Schnitzeljagd: Finde das Lokal, in dem ein Schriftsteller schreibt.


    Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich wohne schon seit zehn Jahren in einem anderen Teil von Charlottenburg und gehe kaum aus, aber ich könnte mir vorstellen, dass es das noch gibt. Werd mal rumfragen. Was ist, wenn ich ein Café mit dichtendem Hausdichter finde? Kommt ihr dann?


    Lieber D.,


    fang doch einfach mal an, vielleicht war es ja nur für mich als Teenager so entsetzlich. Das kann ja sein. Aber ich erinnere mich noch an Hunger, Kälte, Nässe, Ratten und die Suche nach Schlafplätzen. Es hat mich jedenfalls sehr beeindruckt. Was aber nicht heißen muss, dass es schwere Kost ist. Gib Deinem Herzen einen Stoß und denk Dir, Du liest für mich Memme mit.

  • Hallo zusammen!


    Es freut mich, dass ihr den Hilsenrath-Thread aus der Versenkung gehoben habt!


    Hilsenraths Werk wurde und wird in Deutschland viel zu wenig beachtet und gewürdigt. Das gilt vor allem für Nacht!


    In diesem (seinem ersten) Roman hat er seine Zeit im Ghetto von Moghilev-Podolsk in Transnistrien literarisch verarbeitet. Es ist die schonungslose Darstellung der Zustände im Ghetto und der zusammengepferchten Menschen dort, die vor allem überleben wollen. Manchmal kam es mir vor wie eine Versuchsanordnung: Was geschieht mit "normalen" Menschen, die Umständen ausgeliefert sind wie Verlust der Privatsphäre, ständiger Todesangst, Hunger, Kälte etc.?
    Ranek, ein (noch) junger Mann, ist die Hauptfigur des Romans, ihm schauen wir bei seiner zunehmenden Verrohung und Entmenschlichung zu. Und wir nehmen als Leser daran teil: An einer Stelle "ertappte" ich mich einen Moment lang bei dem Wunsch, Ranek möge doch in den Besitz der Goldzähne kommen, um sie gegen Essen eintauschen zu können, bis mir erschreckend bewusst wurde, dass er gerade dabei ist, sie seinem eben gestorbenen Bruder mit dem Meißel herauszubrechen! Der Hunger setzt alle menschlichen Werte und Regeln außer Kraft.
    Der Roman berichtet kühl, wertet nicht, ist an keiner Stelle sentimental oder pathetisch, setzt nicht auf Effekte!
    Ich würde ihn in einer Reihe sehen mit den entsprechenden Werken von Primo Levi und Imre Kertesz. Mindestens!


    12 Jahre hat Hilsenrath in Palästina, Frankreich und den USA an diesem Roman gearbeitet. Das immer wieder schreibend zu durchleben, muss ein psychischer Kraftakt gewesen sein.
    Es wurde ihm im Deutschland der sechziger und siebziger Jahre nicht gedankt. Es gab vernichtende Kritiken , z.B. von Fritz Raddatz in der Zeit. Hilsenrath hatte gegen das ungeschriebnene Gesetz verstoßen, wonach Opfer gut und edel zu sein hatten, Komlexität in dieser Thematik nicht erwünscht war.


    2006, zu seinem 80.sten Geburtstag, wurde sein Werk neu aufgelegt.
    Ich hoffe, dass der Roman Nacht die Beachtung findet, die er verdient und in den USA und den Niederlanden (schon) zu genießen scheint.

  • Ja Anita,


    diese Ausgabe fiel mir gestern Abend auch noch ein. Sie war im letzten Quartal die automatische Zusendung. Zu Deusch: es wird in absehbarer Zeit jede Menge ungelesene Exemplare auf im ZVAB geben :rollen:


    :winken:
    Poppea