Christoph Martin Wieland

  • Zu den Gründen, weshalb man Wieland lesen kann - und sollte -, gehört seine Unterhaltsamkeit. Im Kielwasser der bezaubernden "Musarion" gibt es einige kleinere Versdichtungen von ausgesuchter Frivolität, die letztlich ein ähnliches Thema behandeln, wie ihre große Schwester. Die Wartezeit bis zur Öffnung des Wielandschen Gartenhauses in Biberach überbrückte ich mit "Aspasia", und danach gab es als Zugabe "Der Mönch und die Nonne", auch als "Sixt und Klärchen" bezeichnet.


    Aspasia, die mit der historischen Aspasia wohl nur eine Namensanleihe gemeinsam hat, tritt als Prieserin der Diana auf und wird von einem platonisch-schwärmerischen Jüngling an den Rand der Geisterseherei geführt; in einer schwülen Mondnacht, in der der Schwärmer sie veranlassen will, allem Stoffe zu entraten, entledigen sich die beiden im Schatten eines Rosenstrauchs schließlich weniger des Stoffs als ihrer Stoffe und lassen den Erzähler zu der Moral überleiten:
    Wenn ihr je bei Mondenlicht' im Grünen Platonisiren wollt, platonisirt allein! .


    Sixt und Klärchen greifen eine Volkssage auf, nach der zwei Felsvorsprünge auf dem Mittelstein bei Eisenach zwei in unwiderstehlicher Liebe verbundene junge Ordensleute darstellen, die im Augenblick ihrer ersten geheimen Zusammenkunft versteinerten. Wieland gibt der Sage von diesem Strafgericht eine Wendung ins Lebens- und Liebesfreundliche: nur ihre Leiber blieben als Versteinerung zurück, während ihre Seelen vereint in den Himmel erhoben wurden.


    Wielands Gartenhäuschen, in dem unter anderem "Idris und Zenide" und Teile des Agathon entstanden, ist ein hübsches und sehenswertes Kleinod - aber in einer seltsam schroffen Umgebung. Den Zugang von der Straße aus findet man kaum, und hat man ihn gefunden, prallt man von der Fassade des angrenzenden Landratsamtes schier zurück.

  • Wielands Gartenhäuschen, in dem unter anderem "Idris und Zenide" und Teile des Agathon entstanden, ist ein hübsches und sehenswertes Kleinod - aber in einer seltsam schroffen Umgebung. Den Zugang von der Straße aus findet man kaum, und hat man ihn gefunden, prallt man von der Fassade des angrenzenden Landratsamtes schier zurück.


    Landratsamt? Stimmt, da war eines. Oder jedenfalls irgendwas Amtliches. Ich habe das Gebäude v.a. als Parkhaus in Erinnerung ... :breitgrins:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Abtragung der nächsten Schichten im Steinbruch Wieland:


    „Gedichte an Olympia“ bestehen aus fünf Lobgedichten, die auf den Zeitraum 1777 bis 1790 verteilt sind. Thematisch stehen sie „Musarion“ nahe, allerdings mit einer anderen Folie. Nachdem Wieland in Folge seines „Goldenen Spiegels“ als Prinzenerzieher an den Weimarer Hof berufen wurde, zeigte er sich seiner Gönnerin durch eine Folge von ihr gewidmeten Gedichten erkenntlich. Olympia ist in diesen in der antiken Götter- und Halbgötterwelt angesiedelten Versphantasien niemand anderes als die Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, Anna Amalia von Braunschweig-Wolfenbüttel. In der Verkleidung der Fürsteneloge transportiert Wieland noch einmal die "Philosophie der Grazien". In verschiedenen Szenen von satirischer, bukolischer und idyllischer Art wird das der Welt und dem Leben zugewandte Leitmotiv des praktisch-irdischen Lebensglücks im Gleichgewicht von Geist, Anmut und Sinnlichkeit variiert, dem auch prominente Götter zuzusprechen geruhen, wenn ihnen das „Dudeldum der Sfären“ überdrüssig wird; mit einer unverstellten kleinen Spitze gegen die der Weltlichkeit entsagende christliche Sichtweise im V. Gedicht: man möge in dieser Frage ruhig etwas heidnisch sein.


    „An Psyche. Die erste Liebe“ (1774) ist ein Gedicht mit einem Januskopf. Wieland hatte es Julie, einer der drei Töchter von Auguste von Keller in Stedten bei Erfurt zugeeignet, später aber darauf hingewiesen, dass es eigentlich Frau Sophie LaRoche galt – seiner ersten, nicht erwiderten Liebe, um 1750 in Biberach. Es kann so gelesen werden, als habe Wieland der jungen Julie aus eigener freudig-schmerzlicher Erfahrung vermitteln wollen, dass der Überschwang erster Liebe nicht von Dauer bleiben könne, gleichwohl aber in seiner Einzigartigkeit erfahren und ausgekostet werden solle.


  • Eine Frage an diejenigen unter uns, die sich auch mit Umberto Eco auskennen:


    Die Auflösung des Rätsels in "Der Name der Rose", nämlich vergiftete Buchseiten, ist mir auch in einer kurzen Versdichtung von Wieland begegnet. Hat sich Eco einmal dahingehend eingelassen, dass er die Idee aus "Schach Lolo" entnahm?


    Ich kenne mich mit Eco nicht aus, es wäre ihm aber wohl zuzutrauen. Andererseits vermute ich, dass das Motiv älter ist als Wieland. Wieland war eigentlich nicht der Neuerer in dem Sinne, dass er neue Plots oder auch nur neue Teile / Features eines Plots kreierte.

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  • Ich kenne mich mit Eco nicht aus, es wäre ihm aber wohl zuzutrauen. Andererseits vermute ich, dass das Motiv älter ist als Wieland. Wieland war eigentlich nicht der Neuerer in dem Sinne, dass er neue Plots oder auch nur neue Teile / Features eines Plots kreierte.


    Ich bin auch kein Eco-Kenner. Ich weiß nur, dass er bei seiner Recherche Schriften von Orfila las (Traité des poisons) und - als er dort kein passendes Gift fand - einen Biologen um Rat bat: "... mir ein Pharmakon mit bestimmten Eigenschaften (Absorbierbarkeit über die Haut bei Berührung von zweckmäßig präparierten Gegenständen) zu empfehlen." (aus: Nachschrift zum Namen der Rose)


    Ich kann mich nicht erinnern, dass ich einmal etwas über die Idee der vergifteten Buchseiten selbst gelesen hätte. Aber das ist womöglich auch schon länger her und deshalb wieder vergessen. :zwinker: Aber vermutlich findet sich in Ecos eigener riesiger Bibliothek auch Wieland.


    Gruß, Gina

  • Danke an Gina und Giesbert, eine gemeinsame ältere Quelle oder gar mehrere voneinander unabhängige muss man sicher in Betracht ziehen.


    Weiter geht es mit der nächsten Goldader:


    „Das Leben ein Traum“ (1771) ist derjenige der im ursprünglichen 9. Band versammelten Texte, der den größten Aufruhr erzeugte. Das Gedicht, nach Wielands Angaben eigentlich nur ein inhaltlich unvollständiges Fragment, wurde zur Veröffentlichung im Göttinger Musenalmanach eingereicht und führte zum empörten Aufschrei des „Hainbundes“ bis hin zur rituellen Bücherverbrennung.


    Wieland hatte die Vision eines schlummernden Endymion zum Anlass genommen, zwei Gedanken zu formulieren. Der erste postuliert eine subjektive Wahrheit des Traumerlebens und überträgt diesen Gedanken auf die „reale“ Lebenswirklichkeit, für die tatsächliches Erleben rückblickend von Traumerlebnissen ununterscheidbar werde. Ein aristippisch-hedonistisches Fazit hieraus leitet über zu dem zweiten, von den Göttingern geradewegs als beleidigend empfundenen Gedanken, dass nämlich der strenge stoizistisch geprägte Tugendbold auf seine Weise ebenfalls ein träumerischer Schwärmer sei, der einem lebensfernen Idealbild huldige. Der virtuelle Dialog, in dem Cicero und Aristippos gegeneinander argumentieren, gipfelt darin, den großen Cato mit Don Quijote, dessen Tugendansprüche mit des Ritters Dulcinea zu vergleichen und im Ergebnis zu identifizieren. So sahen gegen Ende des 18. Jahrhunderts literarische Skandale aus.


    An das Gedicht schließt sich ein längerer kommentierender Prosatext an, der über die Entstehungsgeschichte von Gedicht und Skandal berichtet, eine Kurzinterpretation anbietet und den Hainbündlern einen Kolleg über das Verständnis von Cervantes‘ Don Quichote hält – wonach des Helden Scheitern auf der Überzogenheit der moralischen Ansprüche, auf Schwärmerei und auf Anachronismus beruht; und damit auf demselben Grunde wie das Scheitern des verehrten Cato. Auch hier führt der Gedanke also zurück auf die Maxime, das eigene Handeln am rechten Maß und an den Erfordernissen der Zeit zu orientieren.


    Der Text ist nicht nur wegen des ausgelösten Skandals interessant, sondern auch deshalb, weil Wieland darin einen zentralen Teil seiner mittleren Werkepoche reflektiert: den „Agathon“. Im Agathon blieb mir ein Dialog in Erinnerung – zwischen dem eingekerkerten Helden und dem Sophisten Hippias von Elis, in dem letzterer dem Helden vorhält, dass der für sich und sein Anliegen mit geringerem Tugendfuror besser gefahren wäre. Der Dialog wirkt bereits dort eigentümlich ambivalent, man hat den Eindruck, der Sophist habe die besseren Argumente – obwohl die Tugend des Helden am Ende die Oberhand behält (oder zu behalten hatte). Mit dem Gedicht von 1771 scheint Wieland zu suggerieren: Hippias hatte sie tatsächlich.

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