Joris-Karl Huysmans

  • Hallo zusammen,


    da meine Lektüre von Gegen den Strich noch etwas andauern wird, widme ich Huysmans mal einen eigenen Thread. Bisher gefällt mir das Buch sehr gut, allerdings habe ich festgestellt, daß ich immer nur kleine Häppchen davon lesen kann. Denn ein Großteil des Buches sind eigentlich Aufzählungen und Beschreibungen, die direkte Handlung nimmt eher weniger Raum ein.


    Huysmans stellt uns zu Anfang in einem "Vorbericht" den Dandy Floressas Des Esseintes vor, der aus einem im Verfall begriffenen Adelshaus stammt, in dem in den vergangenen zweihundert Jahren die Kinder meist untereinander verheiratet wurden, sodaß fast keine Lebenskraft mehr übrig zu sein scheint. Des Esseintes' Mutter "eine blasse, hoch aufgeschossene, schweigsame Frau, starb an Erschöpfung; der Vater seinerseits verschied an einer unbestimmbaren Krankheit"; so wird er hauptsächlich von Jesuiten erzogen. Nach einer wilden Phase, in der er alle Triebe ausgelebt hat, beschließt er, sich auf das Land zurückzuziehen und keinen Kontakt mehr mit den Menschen zu pflegen. Er richtet sich ein Landhäuschen nach seinem Geschmack ein, der ziemlich anspruchsvoll und außergewöhnlich ist.


    Die Beschreibung dieser Einrichtung bzw. seiner Interessen bei Malerei, Literatur (ausschließlich lateinische Werke) etc. nehmen relativ viel Raum ein. Beim Lesen muß man sich das genau vorstellen, was auf die Dauer ein bißchen anstrengend ist. Deshalb lese ich das Buch in kleinen Häppchen. Z.B. beschließt Des Esseintes, sein Heim mit Blumen zu schmücken. Früher war er ganz fasziniert von künstlichen Blumen, die täuschend echt aussehen; jetzt interessieren ihn echte Blumen, die wie künstliche aussehen. Er kauft jede Menge exotische Pflanzen, die alle genauestens beschrieben werden...


    Mal sehen, was noch so alles auftauchen wird. Langsam kündigt sich auch an, daß sich Des Esseintes in seiner Abgeschiedenheit auf Dauer doch nicht so wohl fühlt. Es plagen ihn alle möglichen Zipperlein, sodaß er sich sogar genötigt fühlt, Spaziergänge im Freien zu machen (also sein Haus zu verlassen).


    Viele Grüße
    thopas

  • Hallo thopas. Vielen Dank für Deine Leseeindrücke. Ich habe vor den Roman "A rebours" (Gegen den Strich) im Sommer ebenfalls zu lesen, da er sozusagen als Gründungstext des Ästhetizismus gilt und ich mich mit diesem in letzter Zeit ein wenig beschäftigt habe. Diese künstliche Abgeschlossenheit von Des Esseintes erinnert mich ein wenig an Hofmannsthals Kaufmannssohn aus der Erzählung "Das Märchen der 672. Nacht". Die soziale Isolation nimmt dort ja kein gutes Ende (hier wohl auch nicht)...


    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Es ist jedenfalls eine sehr fremdartige Welt, in der sich der Herr Marquis bewegt, und ich habe mich bis zum Ende des Romans gefragt, ob er nicht doch ein Suchender ist nach des Lebens Sinn.
    Ausprobiert hat er schließlich sehr viel, aber wirkliche Befriedigung dürfte er auch in dieser künstlichen Welt, die er sich selber geschaffen hat, nicht gefunden haben, weder in seiner selbstgewählten Einsamkeit, noch im Umgang mit anderen Menschen oder auf Reisen.


    Unter aller Selbstherrlichkeit, die er an den Tag legt, verbirgt sich darunter womöglich doch die Sehnsucht nach Erfüllung und Glück.


  • Ich habe vor den Roman "A rebours" (Gegen den Strich) im Sommer ebenfalls zu lesen, da er sozusagen als Gründungstext des Ästhetizismus gilt ...


    ... und direkt zu Oscar Wildes "Dorian Gray" und dessen l'art pour l'art-Philosophie führte. "Gegen den Strich" wird sogar als Lesestoff Grays erwähnt (wenn ich mich recht erinnere).


    Es grüßt


    Sir Thomas


  • Diese künstliche Abgeschlossenheit von Des Esseintes erinnert mich ein wenig an Hofmannsthals Kaufmannssohn aus der Erzählung "Das Märchen der 672. Nacht". Die soziale Isolation nimmt dort ja kein gutes Ende (hier wohl auch nicht)...


    Hallo Imrahil,
    danke für den Hinweis. Ich habe diese Erzählung gleich gelesen (möglich dank Internet) und finde sie sehr interessant. Bei Hofmannsthal wirkt alles sehr viel symbolhafter und unheimlicher als bei Huysmans, was aber bei einem Märchen natürlich zu erwarten ist. Ich bin auch sehr neugierig, ob Des Esseintes wieder in ein "normales" Leben zurückfindet oder nicht.


    Hallo Madeleine,
    ich dachte mir schon, daß du das Buch längst ausgelesen hast. Ich denke auch, daß Des Esseintes nach dem Sinn des Lebens sucht; er hat den Vorteil, daß er durch sein Geld viel mehr Wege ausprobieren kann, als jemand, der kein Geld hat. Andererseits hat er dadurch auch die Qual der Wahl und kann sich für nichts richtig entscheiden. Wenn man alle Möglichkeiten offen hat, verhungert man manchmal wie der Esel zwischen den zwei Heuhaufen.



    ... und direkt zu Oscar Wildes "Dorian Gray" und dessen l'art pour l'art-Philosophie führte. "Gegen den Strich" wird sogar als Lesestoff Grays erwähnt (wenn ich mich recht erinnere).


    Hallo Sir Thomas,
    der Dorian Gray war früher eines meiner Lieblingsbücher. Eigentlich sollte ich den mal wieder lesen, dann kann ich gleich schauen, wo Gegen den Strich erwähnt wird :smile:.


    Viele Grüße
    thopas


  • ...der Dorian Gray war früher eines meiner Lieblingsbücher. Eigentlich sollte ich den mal wieder lesen ...


    Hallo, thopas,


    ich wage es kaum noch anzusprechen angesichts der Terminlage, aber "Dorian Gray" eignet sich mMn. hervorragend für eine Leserunde. Könntest Du Dir das auch vorstellen? Wenn ja, dann sollten wir einen Ordner in der dafür vorgesehenen Rubrik eröffnen und kräftig die Werbetrommel rühren.


    Liebe Grüße


    Sir Thomas


  • Hallo Sir Thomas,


    ui ja, gute Idee! :klatschen: Da werden wir doch einen Termin finden...


    Viele Grüße
    thopas

  • Hallo thopas!
    Ich muss bei solcher Lektüre unbedingt dranbleiben. Zu lange Lesepausen würden meinen Gesamteindruck stören. Außerdem wußte ich schon, dass das keine Lektüre für unterwegs ist, mußte sie also in meinen Urlaub einplanen.
    Der Herr Marquis hat mich noch lange beschäftigt und auch jetzt fällt er mir immer wieder ein, wenn ich im Garten arbeite und mir vorstelle, wie schön es wäre, sich von der (Arbeits)Welt mit einem Haus voller Bücher zurückziehen zu können, und den Rest seiner Tage in Gesellschaft all der großen und kleinen Genies, die die literarische Welt bevölkern, verbringen zu dürfen.


    Was für eine gute Idee, Sir Thomas!
    Eine Leserunde zu Dorian Gray finde ich sehr sehr verlockend. Ich habe das Buch vor langer Zeit gelesen und weiß noch allzu gut, dass sich mir der Sinn nicht sofort und sicher nicht lückenlos erschloss.
    Da setze ich in die Interpretationskunst der Leserundenteilnehmner natürlich große Hoffnungen.


    Liebe Grüße,
    Madeleine

  • Bei "Dorian Gray" (den ich auch noch nicht kenne) würde ich allenfalls auch mitlesen. Zuerst aber Huysmans :zwinker:

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen


  • Bei "Dorian Gray" (den ich auch noch nicht kenne) würde ich allenfalls auch mitlesen. Zuerst aber Huysmans :zwinker:


    Hallo, Imrahil,


    das ist sehr folgerichtig. Ich warte gern, bis Du mit der Huysmans-Lektüre fertig bist und zum "Rest der Truppe" aufgeschlossen hast. Mr. Gray will not run away.


    Um noch einen Moment beim Namenspatron dieses Ordners zu verweilen: Hat jemand außer "Gegen den Strich" noch etwas anderes von ihm gelesen? Zum Beispiel "Tief unten" (bzw. "Ganz unten", je nach Vorliebe des Übersetzers)?


    Viele Grüße


    Sir Thomas


  • Ich muss bei solcher Lektüre unbedingt dranbleiben. Zu lange Lesepausen würden meinen Gesamteindruck stören.


    Hallo Madeleine,


    eigentlich geht es mir genauso, doch werde ich leider immer unfreiwillig zu Lesepausen gezwungen (liegt u.a. auch daran, daß mein Mann von zuhause aus arbeitet und die Kunden einen nicht mal am Sonntag in Ruhe lassen; wenn viel los ist, muß ich halt auch mitarbeiten, und das kann ich kaum planen). Ich habe dann meistens auch nur im Urlaub (also wenn wir wegfahren und nicht zuhause sind) wirklich ungestört Zeit zum Lesen; ansonsten ist es immer Glückssache... Das zerpflückt mir dann leider oft die Atmosphäre der Bücher bzw. stört den Gesamteindruck.



    (...)wie schön es wäre, sich von der (Arbeits)Welt mit einem Haus voller Bücher zurückziehen zu können, und den Rest seiner Tage in Gesellschaft all der großen und kleinen Genies, die die literarische Welt bevölkern, verbringen zu dürfen.


    Das wäre wirklich schön.


    Viele Grüße
    thopas

  • Hallo,


    rechtzeitig vor dem Start der Dorian Gray-Leserunde habe ich nun Gegen den Strich beendet. In dem Nachwort meiner Ausgabe (dtv) wird erwähnt, daß Huysmans einen Antiroman schreiben wollte; es ist auch in der Tat kein üblicher Roman. Die äußere Handlung nimmt sehr wenig Raum ein und ist eigentlich nur dafür da, Huysmans Gelegenheit zu bieten, seine Ansichten zu verschiedenen Themen und Interessensgebieten zu erörtern. So widmet er auch ein längeres Kapitel seinen literarischen Zeitgenossen, allen voran Mallarmé. Dieser war im Gegenzug ganz begeistert von Huysmans Buch.


    Sehr amüsant fand ich das Kapitel, in dem Des Esseintes nach England verreisen möchte, aber eigentlich nur einen Tag in Paris verbringt, wo er auf die Abfahrt des Zuges wartet. Er begibt sich in eine Gegend, in der viele Engländer leben, und sammelt so genug Eindrücke englischer Lebensart und Kochkunst, daß es sich für ihn erübrigt, ins eigentliche England zu fahren. Dort könnte er ja nur feststellen, daß das richtige England recht wenig mit der Vorstellung zu tun hat, die er von England hat.


    Alles in allem hat mir das Buch sehr gut gefallen. Es steckt voll von interessanten, manchmal aber auch etwas ausufernden Beschreibungen, und vermittelt einen guten Eindruck vom Lebensgefühl des Fin de Siècle. Jetzt bin ich natürlich neugierig, inwieweit Oscar Wilde die typisch dekadenten Ansichten aufgreift.


    Viele Grüße
    thopas


  • Alles in allem hat mir das Buch sehr gut gefallen. Es steckt voll von interessanten, manchmal aber auch etwas ausufernden Beschreibungen, und vermittelt einen guten Eindruck vom Lebensgefühl des Fin de Siècle. Jetzt bin ich natürlich neugierig, inwieweit Oscar Wilde die typisch dekadenten Ansichten aufgreift.


    Hallo thopas,


    schön, dass Dir "Gegen den Strich" gefallen hat! Im Rahmen der Dorian Gray-Leserunde können wir überprüfen, welchen Einfluss Huysmans auf Wilde hatte.


    Bis bald!


    Tom

  • Auch ich habe nun Huysmans "Gegen den Strich" gelesen (bei zweitausendeins gäbe es eine Neuübersetzung "Gegen alle", was ich aber - leider? - erst nach der Lektüre entdeckt habe). Nachdem ich den Roman gelesen habe ist mir nun klar, weshalb dieser als Begründungstext des Ästhetizismus gilt: die soziale Abschottung eines jungen, neurasthenischen und reichen Müssiggängers, der um dem "ennui" und der bürgerlichen Realität zu entkommen, sich eine zweite künstliche Gegenwelt aufzubauen sucht, passt sehr gut in dieses literarische Schema oder hat dieses mitbegründet. Beeinflusst wurde Huysmans ohne Zweifel auch von Baudelaire. Diesen und Mallarmé behandelt er ja im Roman ausführlich. Ich kann den Roman sehr empfehlen, auch wenn es nicht immer eine einfache Lektüre ist.


    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Wichtig ist auch sein diabolisches Werk "La Bas". Wer an Stanislaw Przybyszewski's "Die Gnosis des Bösen" oder Baudelaire's "Blumen des Bösen" Gefallen findet, sollte mal reinschnuppern. Interessant sind auch die Einflüsse auf moderne Grusel und Horrorliteratur. Erstmal in der Literatur wird hier eine schwarze Messer beschrieben. :zwinker:

  • Eher aus der "zweiten Reihe" stammt Huysmans autobiografisch geprägter Roman "Zuflucht" aus dem Jahr 1886. Das Pariser Paar Jacques und Louise flieht vor Gläubigern auf ein ländlich gelegenes Schloß. Die erhoffte Idylle erweist sich als maroder, von Schimmel und Feuchtigkeit zersetzter Albtraum, die Landbevölkerung als gerissen, hinterhältig und heuchlerisch. Getrieben von Existenzangst und Sorge um seine kranke Frau streift Jacques durch die leeren Fluchten des verfallenen Gemäuers. Schleichend verfällt er dem morbiden Charme des Schlosses, das sich schließlich auch in seine Träume drängt.


    "Zuflucht" ist ein gelungenes Buch über den Verfall des äußeren Lebens und der Psyche. Die Ängste seines "Helden" Jacques gestaltet Huysmans gekonnt und glaubwürdig. Kein Wunder: Im Nachwort heißt es, Huysmans habe nichts erfunden, sondern aus eigenem Erleben geschöpft.


    LG


    Tom

  • Hallo Sir Thomas,


    Mir hat "Zuflucht" besonders deswegen gefallen, weil Huysmans viele Jahre vor Sigmund Freud Theorien zur Traumdeutung darlegt, die teilweise heute auch noch Gültigkeit haben. Der medizinhistorische Aspekt des Romans hat für mich einen besonderen Reiz und ich bin mir sicher, Louise leidet an Hysterie, verschiedene Andeutungen, die Huysmans vorlegt, bezeugen dies. Offenbar war Huysmans über die Forschung zur Hysterie des Pariser Arztes Jean Martin Charcot (29.11.1825-16.08. 1893) unterrichtet und lies sich inspirieren. So wird der Roman u.a. auch ein Dokument damaliger Epoche.


    Joris-Karl Huysmans kann unheimlich gut schreiben. Die Beschreibungen des Schlosses, der Dorfkirche, der Träume, und der Spaziergänge von Jacques sind einfach großartig. Der Autor ist besonders an diesen Stellen sehr suggestiv, die Beschreibung des Schlosses geradezu unheimlich, als befänden wir uns in einer gothic-novel.


    Liebe Grüße
    mombour


  • Der medizinhistorische Aspekt des Romans hat für mich einen besonderen Reiz und ich bin mir sicher, Louise leidet an Hysterie ...


    Hallo mombour,


    da mir der Begriff "Hysterie" in diesem Zusammenhang eher unwissenschaftlich und veraltet vorkam, habe ich schnell mal wikipedia zu Rate gezogen. Demnach spricht man heute eher von dissoziativen Persönlichkeitsstörungen. Hysterie war Ende des 19. Jahrhunderts durch die Arbeiten des von Dir genannten Charcot ein anerkanntes Krankheitsbild. P.O. Enquist hat sich damit übrigens sehr schön in seinem Roman "Das Buch von Blanche und Marie" auseinandergesetzt.



    Joris-Karl Huysmans kann unheimlich gut schreiben. Die Beschreibungen des Schlosses, der Dorfkirche, der Träume, und der Spaziergänge von Jacques sind einfach großartig. Der Autor ist besonders an diesen Stellen sehr suggestiv, die Beschreibung des Schlosses geradezu unheimlich, als befänden wir uns in einer gothic-novel.


    Volle Zustimmung!


    Viele Grüße


    Tom

  • Auch ich habe nun Huysmans "Gegen den Strich" gelesen (bei zweitausendeins gäbe es eine Neuübersetzung "Gegen alle", was ich aber - leider? - erst nach der Lektüre entdeckt habe).


    Ist bereits vergriffen. :sauer: Auch gut, ich behalte den Namen mal im Hinterkopf; meine Bestellung bei Zweitausendeins wird schon so gross genug werden ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Bereits vergriffen? Ich habe den Band "Gegen alle" noch zu Weihnachten geschenkt bekommen (habe nun also die alte und die Neuübersetzung). Vielleicht gibt es bei ZVAB ja schon erste antiquarische Exemplare, manchmal geht das ziemlich schnell...

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen