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Vergessene Autoren
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Hallo Dostoevskij,
man braucht bloß eine alte Literaturgeschichte durchzublättern, dann findet man vergessene Namen zuhauf. Ich habe mal die "Geschichte der deutschen Literatur" von Daniel Sanders zur Hand genommen, eine Ausgabe von 1906, die von Julius Dumcke erweitert und bearbeitet wurde.
Zu den Schriftstellern, "die den zeitgenössischen Roman pflegen", heißt es dort, gehören Theodor Fontane, Friedrich Spielhagen und Rudolf von Gottschall, wovon der letztgenannte der "wohl hervorragendste dieser Dichtergruppe" sei.
Ein wichtiger Epiker sei Wilhelm Jordan, dessen Stabreimdichtung <i>Nibelunge</i> in "keiner noch so kleinen Hausbibliothek fehlen" dürfe.
An einer anderen Stelle werden bedeutende Vertreter des historischen Romans genannt: August Becker, Charles Eduard Duboc (Pseudonym: Robert Waldmüller), Georg Ebers, Ernst Eckstein, Ferdinand Gregorovius, Adolf Hausrath (Pseudonym: George Taylor), Wilhelm Heinrich Riehl, Heinrich Steinhausen, Adolf Stern.
Bei den Frauen der "Moderne" überschreitet laut Dumcke eine Gruppe "kühn alle Grenzen der bisher befolgten Moralgesetze und tobt sich aus in schwülen Schilderungen geschlechtlicher Schrankenlosigkeit". Er nennt folgende Schriftstellerinnen: Anna Croissant-Rust, Eugenie delle Grazie, Maria Janitschek, Helene von Mombert (Pseudonym: Hans von Kahlenberg), M. von Puttkamer (Pseudonym: Marie Madeleine).
Marie Madeleine schrieb Gedichte wie dieses, das in ihrem 1900 erschienenen ersten Gedichtband "Auf Kypros" enthalten ist:
Zitat
Ich sah dein Bild die ganze Nacht,
und in mir stöhnte dumpf das Tier,
und meine Sehnsucht schrie nach dir
die ganze Nacht - die ganze Nacht.Nach dir und deiner jungen Kraft,
die meiner Launen Trotz bezwungen,
O, wie du knieend mich umschlungen
in deiner tollen Leidenschaft.Ich sehnte mich so sehr nach dir,
nach deiner Zimmer schwülen Düften,
nach deinen götterschlanken Hüften,
nach deiner Ringe goldner Zier.Du lächelst stolz: »Ich hab's gewusst«,
und weisst doch nicht, wie ich mich sehne,
zu graben meine Raubtierzähne
in deine nackte Jünglingsbrust.Das war seinerzeit eine sehr auflagenstarke Lyrikerin.
Von Hans von Kahlenberg (= Helene Keßler, geb. Monbart) habe ich den Briefroman (oder besser: "Brieferzählung", denn das Buch hat nur 123 Seiten) <i>Nixchen. Ein Beitrag zur Psychologie höherer Töchter</i> gelesen. Erstmals 1899 erschienen und seinerzeit auch sehr aufsehenerregend. Zwei Freunde schreiben sich Briefe: der eine der beiden Freunde hat ein sechzehnjähriges Mädchen aus gutem Hause kennengelernt, das er umwirbt und heiraten will, er berichtet entzückt von der Naivität und der Reinheit des Mädchens; der andere ist ein Künstler und Lebemann, der gerade einen lasziven Backfisch kennengelernt hat, der mit allen Wassern gewaschen ist. Das ganze läuft natürlich darauf hinaus - Spoilerwarnung! :breitgrins: - daß das ein und dasselbe Mädchen ist.
Schöne Grüße,
Wolf -
Hermann Burger ist zumindest in der Schweiz noch immer präsent, finde ich ...
Wolfs Namen sind auch ganz interessant - ein schönes Beispiel dafür, wie wenig zeitgenössische Einschätzungen mit dem Urteil der Nachwelt zu tun haben können ...
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Hallo,
Vergessene Autoren gibt es viele, auch verkannte.
Hans. J. Schütz hat sich in einem wertvollen Buch dieses Thema angenommen:
Hans J. Schütz: > Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen<, Vergessene und verkannte Autoren des 20. Jahrhunderts; C.H. Beck, 1988, (leider vergriffen!).
Folgende Autoren werden in diesem Buch besprochen: Johannes Theodor Baargeld, Emil Belzner, Martin Beradt, Ernst Blass, Paul Boldt, Hans Ehrenbaum-Degele, Gerrit Engelke, Alexander Moritz Frey, Efraim Frisch, Rainer Maria Gerhardt, Alfred Gong, Hermann Grab, Martin Gumpert, Paul Gurk, Alexander Xaver Gwerder, Victor Hadwiger, Ferdinand Hardekopf, Felix Hartlaub, Karl Jakob Hirsch, John Höxter, Heinrich Eduard Jacob, Henry Wilhelm Katz, Hermann Kesser, Wilhelm Klemm, Edlef Koeppen, Hertha Kräftner, Werner Krauss, Ernst Kreuder, Simon Kronberg, Adam Kuckhoff, Friedo Lampe, Siegfried Lang, Heinrich Lautensack, Alfred Lemm, Paul Leppin, Julius Levin, Ernst Wilhelm Lotz, Hans Meisel, Robert Müller, Hanns Otto Münsterer, Hans Natonek, Walter Rheiner, Werner Riegel, Gustav Sack, Adam Scharrer, Ernst Sommer, Jura Soyfer, Justin Steinfeld, Gerson Stern, Otto Stoessl, Emil Szittya, Jesse Thoor, Hermann Ungar, Friedrich Wilhelm Wagner, Ernst Waldinger, Paul Wiegler, Ludwig Winder, Eugen Gottlob Winkler, Johannes Wüsten.
Von diesen Autoren habe ich Werke von Alexander Moritz Frey gelesen. Sein noch bekanntestes Werk "Die Pflasterkästen" erschien 1929 etwa gleichzeitig mit Remarque "Im Westen nichts Neues". Dass Freys Feldsanitätsroman in Vergessenheit geriet (die letzten Auflagen zu DDR-Zeiten, sogar auch mal als Fischer TB im Westen), kann ich mir nur erklären, das Remarques Massenauflage seines Buches, den Roman Freys mit sehr viel geringerer Auflage (erste Auflage 10000) in den Schatten stellte.
Mehr über Aleander Moritz Frey könnt ihr hier lesen.
Von Paul Leppin las ich "Severins Gang in die Finsternis" , ein Prager Gespensterroman. Sehr beeindruckende Prosa, keine Phantastik).
Von Henry Wilhelm Katz habe ich "Die Fischmanns" und "Schlossgasse 21" gelesen. Im ersten Band geht es um die Flucht einer ostjüdischen Familie vor den Russen (um 1900 bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges) In Schlossgasse 21 geht es um den Aufstieg der NSDAP in einer Stadt in Mitteldeutschland. Beides sehr empfehlenswerte Romane.
Von Hermann Ungar steht ungelesen ein Band "Sämtliche Werke" in meinem Regal, auch einiges von Johannes Wüsten habe ich noch im Regal. Wüsten war nicht nur Schriftsteller. Er war auch Maler, Grafiker, Dramatiker.
Dann hört es fast schon auf. Einige Autoren noch in Anthologien......
Liebe Grüße
mombour -
Interessanter Thread!
Ich möchte ihn nutzen, um ein wenig für den Prager Leo Perutz zu "werben", der in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts durchaus präsent war, dann jedoch in Vergessenheit geriet (nicht zuletzt, weil er vor den Nazis fliehen musste und von diesen natürlich verschwiegen wurde).
Heute ist er wieder einigermassen "im Rennen", nicht zuletzt dank seines Spätwerks "Nachts unter der Steinernen Brücke". Ich mag nicht all seine Bücher, aber neben dem bereits genannten Prag-Roman ist insbesondere der "Schwedische Reiter" ein wunderbar barockes Werk, das zurecht Aufnahme in die zweite Staffel der SZ-Bibliothek gefunden hat.
Insofern ist Perutz ein nur vorübergehend Vergessener, der das Glück hatte, post mortem wieder entdeckt zu werden.
Viele Grüße
Sir Thomas
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Bei Zeit Online existiert eine Artikelreihe über <a href="http://www.zeit.de/themen/kultur/literatur/vergessene-buecher">Vergessene Autoren</a>.
Wobei einige davon eigentlich nicht in die Kategorie vergessener Autoren gehören, sondern in die
- in Deutschland unbekannter, in ihrer Heimat aber Klassiker-Status geniessender Autoren (Pagnol, Vallejo)
- nur noch dem Spezialisten bekannter Autoren (Schelmuffsky-Reuter, Böttiger sollten zumindest m.M.n. jedem Germanisten ein Begriff sein). -
Ich habe gerade im Thread DIE Erzähler Paul Heyse genannt und möchte auch hier etwas Reklame für ihn machen. Er gehörte lange Zeit zu den vergessenen Autoren, obwohl sein Novellenschatz erste Klasse ist. Nun scheint im Buchhandel wieder das eine oder andere von ihm erhältlich zu sein. Aber wird er auch gelesen? Eure Meinung würde mich interessieren.
Gruss
Uhu
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Ich habe gerade im Thread DIE Erzähler Paul Heyse genannt und möchte auch hier etwas Reklame für ihn machen. Er gehörte lange Zeit zu den vergessenen Autoren, obwohl sein Novellenschatz erste Klasse ist.
Solide zweite Klasse, würde ich sagen. Ein Tick zu geschliffen, zu glatt. Irgendwo in diesem Forum hat mal jemand von Gymnasiallehrerprosa gesprochen in Zusammenhang mit Heyse. Ist ein bisschen bösartig, aber nicht unberechtigt, diese Charakterisierung.
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Solide zweite Klasse, würde ich sagen. Ein Tick zu geschliffen, zu glatt. Irgendwo in diesem Forum hat mal jemand von Gymnasiallehrerprosa gesprochen in Zusammenhang mit Heyse. Ist ein bisschen bösartig, aber nicht unberechtigt, diese Charakterisierung.
Objection, your honor! Eine geschliffene Sprache kann die erste Klasse gerade ausmachen. Sonst müsste man auch Thomas Mann relegieren. "Gymnasiallehrerprosa" finde ich für Heyse nicht nur ein bisschen bösartig, sondern perfide.
Gruss
Uhu
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Eine geschliffene Sprache kann die erste Klasse gerade ausmachen. Sonst müsste man auch Thomas Mann relegieren.
Abgesehen davon, dass mir auch Thomas Mann oft allzu glatt parliert (und ich deshalb seinen Bruder vorziehe): Thomas Mann weiss seinen Stil fast unendlich zu variieren. Heyse bleibt sich immer gleich. Und: Von der Sorte gab's zur Jahrhundertwende 19./20. Jh. schockweise welche ... :zwinker: :smile:
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Vergessene Autoren? Bei den Expressionisten wird man leicht fündig:
Jakob van Hoddies, August Stramm, Klabund...
Gronauer
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Vergessene Autoren? KlabundEinspruch!
Hier ein kleines Stück von ihm (nicht als Beweis für meinen Einspruch gedacht ...)
Tango
Tango tönt durch Nacht und Flieder.
Ist's im Kurhaus die Kapelle?
Doch es springt mir in die Glieder,
Und ich dreh mich schnell und schnelle.Tango – alle Muskeln spannt er.
Urwald und Lianentriebe,
Jagd und Kampf – und wie ein Panther
Schleich ich durch die Nacht nach Liebe.Liebe Grüße
Sir Thomas
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Einspruch!
Auch Jakob van Hoddis (sic!) und Stramm sind zumindest dem Germanisten ein Begriff. Oder sollten es sein ...
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Aus der langen Liste von Mombour kenne ich nur Bücher von Hermann Ungar, Friedo Lampe und Ernst Kreuder, alle drei nicht schlecht, aber auch nicht wirklich gut, wer sie nicht kennt, verpaßt keine große Literatur. Dann kenne ich noch Robert Müller, ein völlig mit Recht vergessener Autor, der sich in seinen Werken, ähnlich wie Otto Weininger, (der sich genau wie Müller in jungen Jahren das Leben nahm), durch einen krankhaften Frauenhaß auszeichnet.
Gert Hofmann ist jemand, der nicht vergessen werden darf (es gibt schon einen Ordner über ihn, der allerdings bisher nicht viele Interessenten gefunden hat), denn er gehört zum Feinsten, was die deutsche Literatur nach 45 hervorgebracht hat. Er schrieb ein kleines Meisterwerk nach dem anderen.
Gruß von der Leserin -
Kann man Wolfgang Borchert zu den Vergessenen zählen ?
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Kann man Wolfgang Borchert zu den Vergessenen zählen ?Hallo Lost,
wohl eher nicht. Borchert ist zwar nicht sehr präsent, wird aber im Kanon der Nachkriegsautoren m.M.n. immer noch gehandelt. Zu meiner Schulzeit (70er Jahre) war er übrigens noch fast ein Muss.
Viele Grüße
Sir Thomas
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Gleich zwei Einsprüche?
Erstens:
wenn hier nur solche Autoren zugelassen wären, die selbst unter Germanisten verschollen sind, könnten wir diesen thread gleich zumachen.Zweitens: Complimenti! :smile:
Grüße,
Gronauer
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Borchert ist eigentlich einer der Autoren, der mir sofort zur "Schullektüre" einfällt. Er wird noch immer sehr oft in der Schule behandelt, soweit ich weiß.
Auch August Stramm ist in einem neueren Schulbuch vertreten, mit seinem Gedicht "Vernichtung" (Die Himmel wehen / Blut marschiert / marschiert / auf tausend Füßen etc.)
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Ich schieb das Thema mal nach oben, und zwar mit der Erwähnung der Autorin und Journalistin Gabriele Tergit, die 1931 den Bestseller Käsebier erobert den Kurfürstendamm veröffentlicht hat, einen durchaus auch heute noch lesenswerten Berlinroman über einen Volkssänger namens Käsebier, der von den Medien entdeckt, zum Star gemacht und wieder fallengelassen wird.
Klabund ein vergessener Autor? Das wäre schade. Ich hätte eigentlich gedacht, dass wenigstens sein Borgia-Roman gelegentlich noch gelesen wird.
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Klabund ein vergessener Autor? Das wäre schade. Ich hätte eigentlich gedacht, dass wenigstens sein Borgia-Roman gelegentlich noch gelesen wird....oder "Die Krankheit".
verdienterweise gibt es hier im Forum einen Ordner:
http://www.klassikerforum.de/i…31.msg39512.html#msg39512Gruß,
Maria