August 2007 - Uwe Johnson: Jahrestage

  • Hallo zusammen !


    Angeregt durch eure Leserunde habe ich jetzt glücklicherweise die Möglichkeit, die Jahrestage zum zweiten Mal als Hörbuch zu genießen.


    Besonders fällt mir auch die detaillierte Sprache auf und die kleinen Andeutungen, die eine tolle Atmosphäre zaubern. Daneben gibt es vielschichtige Beschreibungen der Orte, die im Gegensatz zu den Personen stehen, deren Beschrebung sich langsam entwickelt, gerade so, dass man das Gefühl hat, sie werden von Bekannten zu Freunden. Das ist mir so beim ersten Lesen nicht aufgefallen. Auch die Erzählperspektive, die ja ab und zu wechselt, empfinde ich beim Hören viel intensiver.


    JMaria schrieb:

    Zitat

    Ich komme ja gerade aus der 3.Proust-Leserunde „Guermantes“, denn seit 2006 lesen wir bereits Proust. Er hat auch so seine Art, die Hauptfiguren nicht zu beschreiben, sondern über andere Elemente Atmosphäre zu schaffen. Ach, ich kanns einfach nicht so richtig ausdrücken. Es ist nur so, dass ich das Gefühl habe, dass hier ein ähnlicher Stil angewandt wird.


    Ja, beide können ganz wundervoll mit Sprache umgehen, nie sind die Metaphern platt oder lächerlich. Bei Johnson passiert aber doch um einiges mehr, er ist näher am Menschen dran, Proust würde ich noch für mehr abstrakt halten.


    Gruß von Steffi

  • Zitat

    Der am 1. September 1967 so leichthin erwähnte Fall Babendererde interessiert mich seit längerem, das Buch steht auf der Wunschliste. Kennt jemand von euch Johnsons ersten Roman, der ursprünglich auch bei Suhrkamp abgelehnt und erst nach Johnsons Tod veröffentlicht wurde? Jedenfalls treten darin schon Personen auf, die in den Jahrestagen wiederkehren, wenn auch nur in Erinnerungen.


    Hallo Friedrich Arthur,


    ja, den Roman kenne ich. Thematisch behandelt er die Vorgänge um die Junge Gemeinde in der DDR an der John-Brinckmann-Schule in Güstrow (auf der auch Uwe Johnson war). Die Niebuhrs, deren Geschichte in der Babendererde erzählt wird, tauchen in den Jahrestagen mehrfach auf.


    Viele Grüße


    Rat Krespel

  • Hallo!


    Ich lese vergleichsweise gemächlich (dank Nebenlektüren, so war ich heute überwiegend in den Unappetitlichkeiten des Peloponnesischen Krieg unterwegs) und bin inzwischen beim 23. Oktober 1967 angelangt.


    Eine grundsätzliche "Qualitätsfrage" stelle ich mir im Gegensatz zu anderen nicht. Der ersten Band gehört zwar sicher nicht zu den besten Büchern, die ich gelesen habe, ist aber doch irgendwo im oberen Drittel der Skala angesiedelt. Was die Form angeht, wirkt die Einteilung in Tage ab und zu doch etwas künstlich. Es macht Sinn, wenn die New York Times zitiert wird oder Ereignisse des Tages erzählt werden. Bei den anderen Handlungssträngen bzw. bei allgemeinen Beschreibungen wirkt das Datum darüber, dann doch etwas künstlich.


    CK

  • Hallo zusammen,


    Zitat von "Regina"

    liest du die Jahrestage jetzt zum ersten oder zweiten Male? Bin etwas verwirrt.


    Beim ersten Mal kam ich bis fast ans Ende des ersten Bandes, musste das Buch dann zurückbringen. Nun habe ich mit der Leserunde noch einmal von vorne begonnen.

    Zitat von "Leibgeber"


    Wir sollten dabei nicht überlesen, dass die Schilderungen der Guten Tante Times ironisch sind.
    Ihre Berichterstattung des Vietnamkriegs sieht Johnson durchaus nicht als positiv an.


    Aber so richtig kritisiert wird doch eigentlich nur die Sache mit Stalins Tochter. Von der Berichterstattung über Vietnam werden einfach nur die Toten herausgepickt und es ist anzunehmen, dass es daneben auch informative Berichte gibt. Wird so nicht eher der Krieg selber kritisiert als die Berichterstattung darüber?


    Zitat von "xenophanes"

    Was die Form angeht, wirkt die Einteilung in Tage ab und zu doch etwas künstlich.


    Manche Einträge kommen mir vor wie aus Anleitungen zu kreativem Schreiben: Man pickt etwas aus der Zeitung, und manchmal entwickelt sich daraus ein Gedankengang, dessen Faden dann weiterverfolgt wird, manchmal nicht.


    Die South-Ferry, deren Tag der Samstag ist, hat mich noch auf eine Idee gebracht: Könnten Wochentage und Inhalt zusammenhängen? Darauf werde ich beim Weiterlesen mal achten.
    Herzliche Grüsse, Maja


  • Eine Frage nebenbei: Kennt jemand kürzere gute Bücher über Johnson? Die 900 Seiten von Neumann bringe ich in absehbarer Zeit nicht unter.


    Die rororo bildmono von Jürgen Grambow ist vollständig in Ordnung. Grambow kennt sich gut aus und ist ein Johnson-Enthusiast.

  • Mir gefällt besonders Johnsons Umgang mit Erinnerung/Geschichte, Heimat und Schuld.


    Welche Themen hat er eurer Ansicht nach besonders gut in den Jahrestagen herausgearbeitet?


    FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10


  • Mir gefällt besonders Johnsons Umgang mit Erinnerung/Geschichte, Heimat und Schuld.


    Welche Themen hat er eurer Ansicht nach besonders gut in den Jahrestagen herausgearbeitet?


    FA



    Nach dem guten Monat, den ich gelesen habe, beeindruckt mich Maria sehr. Das Schwanken zwischen Angst und kindlicher Freude an Neuem, die Suche nach Geborgenheit und Heimat, und die Reaktion auf die Anforderungen in der Fremde sind von Johnson aus meiner Sicht sehr mitfühlend herausgearbeitet.

  • Hallo !


    Thematisch am dichtesten sind für mich Heimat, Heimatlosigkeit und Einsamkeit. Nicht nur die äußere Einsamkeit in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen sondern auch eine innere Einsamkeit und vielleicht auch dadurch der Wunsch Maries nach der Aufdeckung ihrer Identität. Auch Cresspahl ist für mich so ein suchender Charakter.


    Gruß von Steffi


  • Thematisch am dichtesten sind für mich Heimat, Heimatlosigkeit und Einsamkeit. Nicht nur die äußere Einsamkeit in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen sondern auch eine innere Einsamkeit und vielleicht auch dadurch der Wunsch Maries nach der Aufdeckung ihrer Identität. Auch Cresspahl ist für mich so ein suchender Charakter.


    Plus:
    wie schaffen wir uns Heimat, wie holen wir uns Heimat zurück durch Erinnerung.

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Plus:
    wie schaffen wir uns Heimat, wie holen wir uns Heimat zurück durch Erinnerung.


    Hallo zusammen,


    sehr schön formuliert.


    Steffi, parallel habe ich nun ebenfalls mit dem Hörbuch begonnen. Die Dialoge kommen durch die Vortragsweise von Max Volkert Martens, wie du schreibst, intensiver rüber, das habe ich auch so empfunden. Man bemerkt viel mehr Details.


    Im Hörbuch bin ich beim 05. September 1967, im Buch lese ich gerade den 24. Oktober 1967. Wie weit seit ihr denn alle?


    Über die Nachrichtenberichte kann ich nur sagen, dass sich eigentlich nichts verändert hat. Beängstigend aktuell. Ein russischer Diplomat wird ausgewiesen, das betroffene Land reagiert darauf mit Ausweisung eines anderen Diplomaten. Im Gefängnis wird ein Mitinsasse umgebracht. Mord und Totschlag auf den Straßen. Menschen sterben in Kriegen.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Hallo!


    Konnte am Wochenende an der Donau und der Save sitzend einiges lesen und bin nun Ende November 1967 angelangt.


    Mein bisherigen Eindrücke haben sich verfestigt, vor allem dahingehend, dass die einzelnen Abschnitte doch von sehr unterschiedlicher Qualität sind. Manchmal fühle ich mich an einen Erzählungsband erinnert, wo sehr gute Texte sich mit eher flauen abwechseln.


    Manche Kapitel fand ich sehr eindringlich (etwa die Beschreibung, wie es in Cresspahls Haushalt ohne Gattin zugeht (inklusive seine diversen Reaktionen darauf), Teile der Kapitel rund um die Machtergreifung in Jerichow, einige sozialkritische Passagen rund um New York ...).


    Andere Passagen wiederum finde ich deutlich weniger interessant (ästhetisch und inhaltlich).


    Die Tageseinteilung scheint mir immer willkürlicher zu sein, sieht man einmal von den NYT Referenzen ab. Johnsons Rechtfertigung des Vietnam Kriegs ähnelt der von Georg W. Bush erschreckend.


    CK

  • Hallo zusammen,
    Bin beim 26. Oktober, und langsam kristallisiert sich das Thema "Schuld" heraus. Cresspahls Schuld, seinen Teil zum Krieg in Deutschland beigetragen zu haben, parallelisiert mit Gesine, die auch in einer kriegführenden Nation lebt, und somit auch schuldig wird. Deutlich wird das im Text vom 22.Oktober, wo gefragt wird, warum sie nicht an die Demonstration gegangen sei. Man kann nicht einfach in Ruhe sein Leben führen, schon dadurch wird man schuldig. Sie will "wenigstens mit Kenntnis leben"


    Zitat von "xenophanes"

    Johnsons Rechtfertigung des Vietnam Kriegs ähnelt der von Georg W. Bush erschreckend.


    Johnsons Rechtfertigung? Kannst Du das etwas genauer beschreiben? Ich finde den impiziten Kommentar, der in der Auswahl der Zeitungsabschnitte enthalten ist, eher kriegskritisch.
    Gestolpert bin ich über Gesines Geburtsdatum: 3.3.33. Wäre zwar etwas Holzhammersymbolik, aber vielleicht ist darin doch eine Anspielung auf das 3. Reich versteckt?


    Herzliche Grüsse,
    Maja

    Einmal editiert, zuletzt von Maja ()

  • Gemeint war natürlich Lyndon B. Johnson, dachte, das ginge aus dem Kontext hervor :smile:


    CK


    So blöd :redface:


    Nachtrag zum Thema Schuld: Am 20. Oktober, Cresspahl auf der Reise nach Jerichow:"Er hatte ein flaues, widerwärtiges Gefühl künftiger Schuld"


    Ausserdem gibt es vermutlich zahlreiche Bezüge auf andere Texte, z.B Ende 14. Sept. "Unter dem weiten Rock..." erinnert mich an die Blechtrommel, und Mitte 14. Sept. "dass die Leerstellen in der wirklichen Person ungewarnt verdeckt werden von dem Bild der Person", da schimmert Max Frisch durch.


    Gruss, Maja


  • Gestolpert bin ich über Gesines Geburtsdatum: 3.3.33. Wäre zwar etwas Holzhammersymbolik, aber vielleicht ist darin doch eine Anspielung auf das 3. Reich versteckt?


    Hallo zusammen,
    hallo Maja


    das Datum ist wirklich ins Auge stechend und hat bestimmt mit dem 3. Reich zu tun. Ein paar Tage vor diesem Datum war der Reichstagsbrand. Im Online-Text habe ich noch folgendes gefunden:


    siehe unter 202, 2-7
    http://www.ndl.germanistik.phi…johnkomm/6710/671021.html


    da geht es um die Verhaftung Ernst Thälmann:
    http://www.ndl.germanistik.phi…mm/6710/671020.html#198_4


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)