März 2006: Montaigne - Essais

  • Zitat von "sandhofer"


    Hier auch die Rechtfertigung dafür, dass er keine Quellenangaben gibt. Fehler sollen ihm und nicht dem Zitierten angelastet werden. Wenn das heutzutage Schule machen würde :entsetzt: !


    Eventuell solltest du auch da ein wenig Ironie einkalkulieren. :zwinker:


    Ansonsten bin ich entsetzt übers Lesetempo, ich dachte es geht gemütlich zu, ich komme da nicht nach.
    Muss wohl darauf zurückgreifen, was aus der ersten Lektüre hängenblieb.
    :zwinker:


    Bis zum Osterwochenende, da hab ich viel Zeit.


    Leibgeber

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)

  • Zitat von "Leibgeber"

    Ansonsten bin ich entsetzt übers Lesetempo, ich dachte es geht gemütlich zu, ich komme da nicht nach.


    Ich komme gerne jederzeit auf etwas zurück, kein Problem. Ironie beim Nichtbelegen von Zitaten? Hm ... ich weiss nicht ... mir schien er da sehr ernst ...


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo!


    Ich las nun die lange "Apologie für Raymond Sebond" zu Ende. Tatsächlich hat das meinen Eindruck, dass Montaigne ein "Aufklärer" ist, deutlich modifiziert. Besser: Mir die Widersprüchlichkeit seiner Weltanschauung drastisch vor Augen geführt.


    Während sein Menschen- und Gesellschaftsbild (Erziehung, Justiz etc.) in vielen seiner "Essais" extrem vorurteilsfrei ist, und es wohl nur wenige Menschen seiner Zeit gab, die sich und ihre Zeit so von "objektiv" von außen betrachten konnten, wie Montaigne, schreibt er hier eine rhetorische sehr gelungene Apologie des Katholizismus. Wortreich versucht er zu belegen, dass Wissen so gut wie unmöglich ist, indem er lange kontradiktorische Positionen zu einzelnen Fragen aufzählt. Damit positioniert er sich meiner Meinung nach als einer der wortgewandsten Skeptiker der Philosophiegeschichte.


    Freilich kann man logisch nicht von "Es gibt kein zuverlässiges Wissen" zu "Deshalb muss man sich an Gott halten" kommen. Das wird zwar als einzige "vernünftige" Alternative präsentiert, ist es aber natürlich nicht.


    Ich werde jetzt eine kleine Montaigne-Lesepause einlegen (maximal zwei Wochen).


    CK

  • Hallo zusammen!



    Da sind wir somit ziemlich am selben Punkt angelangt. Sowohl was die Lesepause wie was die Einschätzung Montaignes betrifft.


    Montaigne will mir nun ziemlich modern erscheinen, moderner jedenfalls als die Aufklärer. Auch seine Methodik - das Denken in Essai-Form - spricht für den Skeptiker, der von den Dingen immer alle Seiten betrachtet und wieder in Zweifel zieht. (Sein Festhalten am katholischen Glauben wirkt dann schon fast wie Kierkegaards Salto mortale in den Glauben.) Wittgensteins Spätphilosophie - mit immer nur provisorisch festgehaltenen Inseln der Sicherheit ("We make up the rules as we go along") - steht ebenfalls vor meinem geistigen Auge. Natürlich auch Burton, der sich ähnlich um seine Denkobjekte herumdreht.


    Aber noch immer glitscht mir Montaigne aus den Fingern ...


    Grüsse


    Sandhofer

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  • Zitat von "xenophanes"

    Was natürlich nicht heißt, dass wir uns hier nicht noch über bereits Gelesenes austauschen können.


    Hi!


    So war's auch nicht gemeint ... :breitgrins:


    Ich muss übrigens meine Aussage betr. der Modernität von Montaigne wieder zurücknehmen bzw. relativieren. Gerade das grosse Kapitel über Sebond zeigt in gewissem Sinn einen mittelalterlichen Montaigne. Genau wie die grossen Scholastiker (auf die er übrigens in diesm Kapitel nur ganz kurz Bezug nimmt - er hat sie offenbar auch nie gelesen) geht er davon aus, dass der katholische Glaube logisch zu sichern sein. Mindestens zwei Scholastiker (Thomas von Aquin; den andern müsste ich zu Hause hervorsuchen (nicht Abälard und nicht Bonaventura - iirc steht er in meiner Bibliothek zu meiner Linken - also ein Name zwischen M und T)) waren ja dieser Meinung und sind in der festen Überzeugung, durch Vernunft und unwiderlegbare Logik (bzw. das, was sie dafür hielten) jeden überzeugen zu können, auch abmarschiert, um die Muslime zu missionieren. Beide habe nichts erreicht, beiden ist aber auch wunderbarer Weise nichts passiert. So ähnlich erscheint mir Montaigne in diesem Kapitel. Wie weit er sich da auf Sebond (und der wiederum sich offenbar auf den Aquinaten) stützt, entzieht sich meiner Kenntnis.


    Interessant für jeden Büchermenschen natürlich auch das Kapitel über Montaignes Bibliothek. Interessant auch die drei Namen von Autoren, die er quasi als "moderne Klassiker" bezeichnet. Johannes Secundus - wer kennt den heute noch? (Lohnt sich eine Lektüre? - Ich werde dem sicher noch nachgehen ... )


    Grüsse


    Sandhofer

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  • Hallo!


    Zitat von "sandhofer"

    Ich muss übrigens meine Aussage betr. der Modernität von Montaigne wieder zurücknehmen bzw. relativieren. Gerade das grosse Kapitel über Sebond zeigt in gewissem Sinn einen mittelalterlichen Montaigne. Genau wie die grossen Scholastiker (auf die er übrigens in diesm Kapitel nur ganz kurz Bezug nimmt - er hat sie offenbar auch nie gelesen) geht er davon aus, dass der katholische Glaube logisch zu sichern sein.


    So streng sehe ich das nicht. Einerseits war dieser Glaube einer logischen Begründbarkeit ja bis in die Aufklärung verbreitet. Der Deismus "glaubt" ja auch an eine Vernunftreligion.


    Auf der anderen Seite ist die Art wie er argumentiert schon sehr modern. Dieser radikale Skeptizismus steht doch den Scholastikern ziemlich fern. Radikaler Skeptizismus ist doch fast schon per definitionem anti-mittelalterlich.


    CK

  • Zitat von "xenophanes"

    So streng sehe ich das nicht. Einerseits war dieser Glaube einer logischen Begründbarkeit ja bis in die Aufklärung verbreitet. Der Deismus "glaubt" ja auch an eine Vernunftreligion.


    Hallo!


    Wobei aber die "Vernunftreligion" eine andere, eigene ist. Die mittelalterlichen Gottesgelehrten aber waren der Ansicht, dass der gewachsene katholische Glaube logisch und von daher problemlos vermittelbar sei (inkl. Dreieinigkeit!)).


    Montaigne einen mittelalterlichen Denker nennen, würde ich natürlich auch nicht. Er ist eine faszinierende Mischung aus vielem. Was mir seine unmethodische Methodik ein bisschen erhellt.


    Grüsse


    Sandhofer


    PS. Nikolaus von Kues war der andere ... :redface:

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  • Hallo!


    Zitat von "sandhofer"


    Wobei aber die "Vernunftreligion" eine andere, eigene ist. Die mittelalterlichen Gottesgelehrten aber waren der Ansicht, dass der gewachsene katholische Glaube logisch und von daher problemlos vermittelbar sei (inkl. Dreieinigkeit!)).


    Bin mir trotzdem nicht sicher, ob Montaigne das unterschreiben würde. Er agumentiert ja ausschließlich ex negativo. Man kann nichts Sicheres wissen, daher ist es am besten man hält sich an Gott. Ohne Gott wäre man epistemologisch hilflos.


    Er schreibt ja auch, dass des Menschen Verständnisvermögen für einfache Dinge nicht ausreicht. Das schließt IMO mit ein, dass es für "Gottesfragen" bei weitem nicht ausreichen kann. Er macht sich über dieses naive Gottesverständnis ja auch lustig.


    CK

  • Hallo,


    ein Auszug aus meinen "Notizen":


    Den Auftakt zum ersten Buch bilden eine Reihe von besonders kurzen Essais. Die für seine Zeit beachtliche Vorurteilslosigkeit zeigt sich im elften Stück "Über die Zukunftsdeutungen". Während bei vielen Intellektuellen der Renaissance die Astrologie ein hohes Ansehen genießt, unterzieht Montaigne diesen Humbug, "ein vielsagendes Beispiel für die wahnsinnige Neugierde Menschennatur" [S. 26], einer nüchternen Betrachtung:


    Zitat

    Tatsächlich mit eigenen Augen gesehen aber habe ich, daß bei öffentlichen Wirren die durch solche Heimsuchung verstörten Menschen sich wie auf jeden anderen Aberglauben auch auf den stürzen, im Himmel die Ursachen und Androhungen ihres Unglücks ausfindig zu machen zu können [...]
    Ein leichtes Spiel bietet ihnen aber besonders der dunke, vieldeutige und verstiegne prophetische Jargon, dem seine Urheber nie einen klaren Sinn geben, damit die Nachwelt den ihr jeweils passenden hineinlegen könne.
    [S. 27]


    Bis auf den heutigen Tag verstehen das viele Menschen nicht, was der Erfolg diverser hanebücherner Entschlüsselungsbücher (Bibelcode und Co.) hinreichend belegt. Hübsch auch, dass Montaigne bereits mit Statistik argumentiert, die heute noch bei der Entlarvung esoterischen Unsinns große Dienste leistet. Er bringt ein Beispiel aus der Antike:


    Zitat

    Als Diagoras, den sie den Atheisten nannten, auf der Insel Samothrake weilte, zeigte ihm im Tempel einer die zahlreichen Bilder und Votivtafeln, und fragte ihn: "Du meinst also, daß die Götter sich nicht um menschliche Angelegenheit kümmern? Was aber sagst du nun dazu, daß so viele Menschen durch ihre Gnade gerettet wurden?" "Der Eindruck täuscht", antwortet er, "denn die Ertrunknen, deren weit mehr waren, sind ja nicht mitgemalt!"
    [S. 27]


    CK

  • Hallo zusammen!


    Es geht wieder weiter in der Lektüre. Die Essais scheinen mir gegen Schluss tatsächlich länger zu werden, aber auch persönlicher. Montaigne zitiert weniger, berichtet mehr von sich und auch eigener Erfahrung.


    Der auf Sebond folgende Essai handelt ein weiteres Mal vom Sterben. Mir scheint es das wohl wichtigste Thema der Essais zu sein. Anders als z.B. bei Boëthius, der im Angesicht des Todes ein bisschen pathetisch wird (andererseits: wie würden wir reagieren?), scheint Montaigne auch hier prosaisch und nüchtern das Ganze zu betrachten. (Aber dann schwebte er natürlich auch nicht in akuter Todesgefahr!) Jedenfalls versteht er es, so zu schreiben, dass selbst "unangenehme" Themen faszinieren.


    Grüsse


    Sandhofer

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  • Hallo zusammen!


    Zitat von "xenophanes"

    Habe dummerweise "Die Elenden" angefangen


    Hätte ich auch um ein Haar - hab's dann gescheiterweise sein lassen :zwinker:


    Ich komme im Moment - bedingt durch anderweitige Überlastung - nur langsam voran. Ich geniesse die Lektüre allerdings mittlerweilen sehr. Wenn ich meine Sekundärquellen richtig verstanden habe, hat Montaigne ja ein Leben lang an den Essais gefeilt und am Schluss jeweils auch neue angefügt, oder? Irgendwie macht sich dies m.M.n. bemerkbar - mir gefällt die zweite Hälfte bedeutend besser. Um etwas wirklich Gescheites dazu schreiben zu können, brauchte ich allerdings viel Musse - und die fehlt mir leider im Moment.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen!


    Nun, da hat der Crash auch eine von meinen Antworten "gefressen". Muss sie mal wieder rekunstruieren, wenn ich Musse habe. Es ging um Montaigne, den Philosophen.


    Liest eigentlich noch jemand mit ausser xenophanes?


    Grüsse


    Sandhofer

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  • Hallo zusammen!


    Nachdem ich dieses Wochenende weder ganz gesund noch richtig krank war, geht's jetzt wieder langsam voran.


    Ich habe bereits schon geschrieben, dass mir die späteren (= im Buch weiter hinten angeführten?) Essais besser gefallen. Zwar schweift Montaigne immer noch gern ab. Aber er wird persönlicher, versteckt sich weniger hinten Zitaten aus den Klassikern. Die einzelnen Teile erscheinen mir abgerundeter. Montaigne wollte kein Philosoph sein - ist er ein "belletristischer" Autor?


    Und was heisst "kein Philosoph"? Im Sinne eines Fachphilosophen war er es sicher nicht. Weder für damalige noch für heutige Begriffe. Theologie hat er ebenfalls - offenbar absichtlich und bewusst - links liegen lassen. Dennoch ist er wohl das, was der Alltagsverstand als "Philosophen" bezeichnen würde: Er denkt nach über die "condition humaine" - auch wenn ich mich jetzt nicht erinnern kann, diesen Begriff bei ihm gefunden zu haben. Und die "condition humaine" exemplifiziert er an der "condition de Montaigne", über die allein zu schreiben er sich befugt fühlt.


    Grüsse


    Sandhofer

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  • Hallo!


    Werde jetzt die Essais langsam, aber stetig zu Ende lesen.


    2,18 "Wenn man einander des Lügens bezichtigt" ist nicht nur stark autobiographisch geprägt, Montaigne rechtfertigt auch sein Unterfangen als unbedeutender Mensch ein Buch zu schreiben:


    Zitat

    Was ich schreibe, ist für den Winkel einer Hausbibliothek bestimmt, zum Zeitvertreib eines Nachbarn, eines Verwandten oder eines Freundes, dem es Freude machen mag, mich in diesem Abbild wiederzutreffen und den Umgang fortzusetzen. Die anderen brachten den Mut auf, über sich selbst zu sprechen, weil sie in ihrem Selbst einen reichen und ergiebigen Gegenstand fanden; ich umgekehrt, weil ich den meinen so karg und unergiebig fand, daß man mich nicht verdächtigen kann, ich wollte damit großtun.


    CK

  • Hallo!


    Nach der Lektürepause las ich mich inzwischen wieder gut ein und beendete inzwischen das zweite Buch. Es endet mit einem der längeren Texte: "Über die Ähnlichkeit der Kinder mit ihren Vätern".


    Darum geht es aber nur kurz. Am Rande gesagt: Es wäre hilfreich ein Inhaltsverzeichnis der "Essais" zu haben, das als Titel jeweils das tatsächliche Thema bezeichnet :smile:


    Nr. 37 hat zwei große Themen. Viel Autobiographisches (speziell Montaignes Krankheit betreffend) und danach eine ausführliche Kritik der zeitgenössischen Medizin samt Ärzteschaft.


    Montaigne sieht überraschend klar, dass die damalige Heilkunst mehr Schaden als Nutzen stiftet. Er bedient sich dabei einer sehr rationalen Kritik, in dem er auf zahlreiche Widersprüche des medizinischen "Wissens" hinweist sowie auf methodologisch kritisiert, wie man zu diesem "Wissen" kommt.


    Garniert ist das Ganze mit Spitzen gegen die Leichtgläubigkeit seiner Mitmenschen. Das hat sich ja bis heute nicht geändert, wenn man sieht, wie viele alternativen Heilmethoden nachlaufen, die oft nachweislich keinerlei Wirkung haben.


    CK

  • Zitat von "sandhofer"

    Hallo zusammen!
    Liest eigentlich noch jemand mit ausser xenophanes?


    Ich lese natürlich mit und weiter, und melde mich aus dem Urlaub zurück, in den ich Montaigne allerdings nicht mitgenommen hatte.
    :smile:


    Leibgeber

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)