September 2002: Dostojewski: Verbrechen und Strafe

  • Zitat von "ikarus"


    JMaria, Du fragst, warum sich Raskolnikoff nicht auch (wie Swidrigailoff) umgebracht hat. Der Gedanke, sich umzubringen, ist ihm ja auch gekommen. Durch seine Tat hatte er sich von der Gesellschaft abgespalten. Dieser Zustand stürzte ihn in eine seelische Krise. (Nicht seine Tat! Die hat er ja nie als Verbrechen anerkannt.) Allmählich begreift er aber seine Schuld und daß nur eine Selbstanzeige bei der Polizei und die daraus resultierende Strafe zu seiner Erlösung führen können. Er wollte nicht sterben, sondern erweckt werden - wie Lazarus. Er wollte zurück ins Leben. Und, wie Du richtig schreibst, bedeutete für ihn das Gefängnis diese Rückkehr.


    Hallo Ikarus
    danke, daß du nochmals Lazarus erwähnt und erklärt hast. Das hab ich beim Lesen garnicht so registriert, obwohl ich mich schon darüber gewundert habe, wie fanatisch Rodja Sonja gebeten hat diesen Bibeltext aus dem Johannes-Evangelium zu lesen. Als ob sein Leben davon abhing.


    Jetzt ist mir das klarer :)


    LG Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo JMaria


    Ich dachte mir beim Lesen zwar schon, daß Dostojewski nicht zufällig diese Lazarus-Geschichte durch Sonja aus der Bibel vorlesen ließ, der Zusammenhang ist mir aber auch erst ganz zum Schluß klar geworden.


    Beim nachdenken darüber sind mir noch mehr Parallelen zur Bibel aufgefallen.


    War nicht auch Maria Magdalena eine "Sünderin" wie Sonja? Und Maria Magdalena sah Jesus nach seiner Auferstehung auch zuerst.


    Am Schluß des Romans heißt es: "Sieben Jahre, bloß sieben Jahre! Zu Anfang ihres Glückes waren sie beide in manchen Augenblicken bereit, diese sieben Jahre als sieben Tage zu betrachten." Auch Jesus ist doch nach sieben Tagen auferstanden. Und Raskolnikoff wird, sozusagen, von den Schuldigen auferstehen.


    Jesus hat am Kreuz kurz vor seinem Tod seine Mutter einem Jünger (welchem eigentlich?) anvertraut. (Joh. 19 Vers 25 - 27). Und Raskolnikoff seine Familie Rasumichin.


    Wir hatten doch mal eine kleine Diskussion, welcher Titel dem Buch angemessener wäre. Unter diesem religiösen Aspekt finde ich "Schuld und Sühne" schon passender. Obwohl die genaue Übersetzung "Verbrechen und Strafe" ist.


    Ich glaube ich werde jetzt noch etwas weiter darüber nachgrübeln. So schnell läßt mich der Roman doch nicht los. :D


    Viele Grüße
    ikarus

    "Der Umgang mit Büchern bringt die Leute um den Verstand" (Erasmus von Rotterdam)

  • Hallo JMaria,
    hallo ikarus,


    ich sehe, ihr denkt noch genauso oft an den Roman wie ich. Danke für eure Gedanken zu den Verbindungen mit der Religion. Irgendwie hatte ich auch das Gefühl, dass da noch was dahintersteckt, aber ich konnte es einfach nicht fassen - jetzt ist mir doch vieles klarer. :)


    Mir ist noch mal das Thema Ideologie durch den Kopf gegangen - Raskolnikows Ideologie geht ja über in Kriminalität - diese Gefahr zeigt uns die Geschichte ja immer wieder (ob Terrorismus, Geiselnahmen oder Kriege). Raskolnikow wendet sich von seiner Ideologie ab und wird auferweckt - aber ist nicht das Christentum auch eine Ideologie ? Kann der Mensch ohne Ideologien nicht leben und kann die Religion oder die Gesellschaft diese in Schach halten ?


    Gruß von
    Steffi

  • Hallo zusammen



    Die ganzen Bibelaspekte sind mir bewußt garnicht aufgefallen. Mich beeindruckt das Buch immer mehr und bin nur noch erstaunt. Ich kann dir nur zustimmen Ikarus und bin sehr froh, daß dir das aufgefallen ist. Es schließen sich so manche Lücken.


    Zitat


    Wir hatten doch mal eine kleine Diskussion, welcher Titel dem Buch angemessener wäre. Unter diesem religiösen Aspekt finde ich "Schuld und Sühne" schon passender. Obwohl die genaue Übersetzung "Verbrechen und Strafe" ist.


    Vor deinem Beitrag habe ich eher zu "Verbrechen und Strafe" tendiert, aber das muß ich nun nochmals überdenken.


    Zitat


    Ich glaube ich werde jetzt noch etwas weiter darüber nachgrübeln. So schnell läßt mich der Roman doch nicht los. :D


    du sagst es.


    Zitat von "Steffi"

    Mir ist noch mal das Thema Ideologie durch den Kopf gegangen - Raskolnikows Ideologie geht ja über in Kriminalität - diese Gefahr zeigt uns die Geschichte ja immer wieder (ob Terrorismus, Geiselnahmen oder Kriege). Raskolnikow wendet sich von seiner Ideologie ab und wird auferweckt - aber ist nicht das Christentum auch eine Ideologie ? Kann der Mensch ohne Ideologien nicht leben und kann die Religion oder die Gesellschaft diese in Schach halten ?


    Ich glaube nicht, daß es ohne "Glauben" geht. Mir liegt dieses Wort eher, worin der Glaube auch immer aussehen mag. Der Mensch neigt m. E. dazu sich an etwas festzuhalten, sich aufzurichten, das Hoffnung ausstrahlt.

    In den letzten Worten von Dostojewski, daß diese Wiederauferstehung Rodjas ein anderes Leben, eine andere Geschichte sei. Da fragte ich mich auch ob Rodja überhaupt mit einer anderen "Ideologie" zufrieden ist oder ob sich alles in irgendeiner weise wiederholen würde. Dass dieser Mensch immer eine Ideologie oder Glauben auf sich zuschneidert, weil er sich als Individualisten sieht?

    In Schach halten? Ich weiß nicht ob das geht. Es muß eine Ordnung in einem System geben und nur wenn an einem Strang gezogen wird, dann gibt es wohl sowas. Aber wenn es um den einzelnen Menschen geht, muß jeder für sich selbst an Moralvorstellungen festhalten.


    Es ist für mich sehr schwer, das alles richtig auszudrücken und niederzuschreiben, ich hoffe es wirkt nicht zu wirr.
    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo JMaria !


    Du schreibst:

    Zitat

    Aber wenn es um den einzelnen Menschen geht, muß jeder für sich selbst an Moralvorstellungen festhalten.


    Danke, ich bin sicher dass du da genau einen wichtigen Aspekt des Romans getroffen hast, jeder muss seine Wünsche und Ziele mit seiner Moral in Einklang bringen oder sich seinen Moralvorstellungen erst bewußt werden. Und der Glaube (du hast recht, ein viel besseres Wort !) kann dabei eine Hilfe sein.


    Wie weit war damals eigentlich in Russland der Sozialismus bzw. Kommunismus gediehen ? Dostojewski scheint ja eher dem individuellen Menschen zugetan zu sein.


    Übrigens, "Schuld und Sühne" gefällt mir als Titel auch besser - obwohl ich nicht genau sagen kann, warum - eher gefühlsmäßig :wink:


    Gruß von
    Steffi

  • Hallo Steffi
    In Europa herrschte das monarchische Prinzip. Einer der Wahrer war Alexander I. (1801-25), der auf dem Wiener Kongress die Ordnung maßgeblich mit bestimmte.
    Dostojewskis große Romane entstanden zur Zeit der Herrschaft Alexander II. (1855-81).
    Der Sozialismus existierte in den Köpfen einiger Gruppen als sog. utopischer Sozialismus, dessen Vertreter Idealbilder künftiger Gesellschaftsformen entwarfen.
    Dostojewski war so einer :!:
    Wegen der Teilnahme am utopisch- sozialist. Petraschewski- Kreis wurde er 1849 zum Tode verurteilt, später zu Verbannung begnadigt.
    Aber das ist sicher allgemein bekannt :erroet:
    Nach der Verbannung wurde er überzeugter Christ und radikaler Gegner des atheistischen Sozialismus.
    Der Kommunismus, der im Gegensatz zum Sozialismus die Erhaltung des Staates, d.h. der bestehenden Ordnung, nicht befürwortete, spielte keine Rolle.
    Soweit mein Wissensstand :?
    Schöne Grüße
    Rainer

  • Hallo Rainer


    Danke für Deine interessanten Ausführungen. Ich hätte nicht gedacht, daß der Roman so autobiographisch zu lesen ist. Jetzt verstehe ich auch, warum Dostojewski die Figur, die Raskolnikoff zum Christen macht Sonja (=die Weise) genannt hat.


    Als Ergänzung zu Deinen historischen Erläuterungen ist in "Gemeinsames Lesen - Chronik" ein Link zur Geschichte St. Petersburgs zu finden.


    Viele Grüße
    ikarus

    "Der Umgang mit Büchern bringt die Leute um den Verstand" (Erasmus von Rotterdam)

  • ein dezenter Hinweis


    am Dienstag 26.11.2002 von 22.00 - 22.57 sendet der hr 2


    Schwere Bücher: Dostojewskis Schuld und Sühne
    Präsentiert von Michael Quast, beschrieben von Rainer M. Dachselt


    Wieder stellt sich Michael Quast einem besonders gewichtigem Werk der Weltliteratur: Dostojewskis „Schuld und Sühne". Und wieder ist die Spannung groß, wie das Ringen mit dem Bildungsgut ausgeht. Wird es Quast gelingen, die Übersicht zu behalten, während sich das Studio mit den gestalten des Romans bevölkert? Wird er standhalten, wenn haarsträubende Servicerubriken, grauenvolle Musikteppiche und Geisterstimmen aus der Regie ihn von allen Seiten bedrängen? Und wird die Sendung ihren kulturellen Auftrag erfüllen, wenn Mütterchen Taiga und Väterchen Frost im Verein mit den Donkosaken nichts unversucht lassen, das Reflexionsniveau auf sibirische Werte zu drücken? Diese und andere Fragen werden zum Vergnügen der Zuhörer vielleicht gelöst in der hr2-Literatur-Comedy „Schwere Bücher".


    LG Dyke