Nietzsche


  • Da ist es: Teil 1, Nr. 11:



    Um N. Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: man sollte das nicht mit einem Vorverständnis ex post nach Erfahrungen aus tausendjährigen Zeiten lesen, sondern ex ante nach der Konstruktion des "Übermenschen" im Zarathustra, so wackelig sie auch ist.


    Hallo Gronauer,


    vielen Dank für Deine Suche. Ich werde das bei Gelegenheit nachschlagen.


    Was das Thema "Gerechtigkeit widerfahren lassen" betrifft, so meine ich, dass Nietzsche heute nicht mehr ausschließlich als der verfluchte Philosoph, der den Nazis einen Unterbau für Euthanasie und Endlösung lieferte, gesehen werden darf. Der "Übermensch" ist eine starke und mehrdeutige Metapher für die Fähigkeit des Menschen, über sich selbst hinauszuwachsen. Dazu bedarf es einiger Einsichten und Voraussetzungen, um die sich große Teile des Nietzsche-Werks ranken - nicht mehr und nicht weniger. Im Grunde war Nietzsche ein kranker Mensch, der das "starke Leben" vergötterte, weil es ihm verwehrt war.


    Einen schönen Start in eine kurze Woche wünscht


    Tom

  • Im Prinzip sehe ich das auch so, aber die Metapher des "Übermenschen" hat durchaus auch so, wie sie unmittelbar auf N. zurückzuführen ist, ihre sinistren Seiten.


  • Im Prinzip sehe ich das auch so, aber die Metapher des "Übermenschen" hat durchaus auch so, wie sie unmittelbar auf N. zurückzuführen ist, ihre sinistren Seiten.


    Das ist richtig. Ohne die NS-Erfahrung würde man damit aber wohl anders umgehen.

  • In der GM hatte ich erstmals den Eindruck, ab hier werde es gefährlich - mehr noch als im Zarathustra, dessen seltsame Form doch einiges abschleift. Trotzdem: auf der anderen Waagschale liegt eine - so ridiküle wie bezeichnende - sprachliche Fehlleistung.


    Der 3. Teil, "Was bedeuten asketische Ideale?", endet im 26. Kapitel mit einem Crescendo der Verwünschungen gegen alles, was Nietzsche "nicht mag", und hier folgt eine Breitseite nach der anderen gegen - unter anderem - priesterliche asketische Ideale, den "Bauer" Luther, die Gerechtigkeits-Tartüfferie, die Wissenschaft, die historische Wissenschaft im besonderen, wiederum gegen Mitleid, Tolstoisches Mitleid im besonderen, Antisemiten (ja, auch gegen die!), Wagners Musik, und es nimmt kein Ende; der Leser prallt schier zurück, er meint, geradezu die Tintenkleckse im Manuskript vor sich zu sehen - ach was, man meint, man sehe die Spucke eines delirierenden Redners fortsprühen. Und dann, am Ende dieser atemlosen Tirade, folgt ein Halbsatz - ein Füllsel, von denen es in dieser Schrift wimmelt ("...man versteht mich?" - gerade so, als sei Nietzsche von der Überzeugungskraft seiner Gedanken ganz und gar nicht überzeugt), und in dem sich die Hassmütze in eine Schellenkappe wandelt; ein Halbsatz, in dem die Realität die Satire rechts überholt:

    Zitat

    "...man überhöre diesen Zaunpfahl nicht!"


    Das steht da tatsächlich. An dieser Stelle, Nietzsche sehe es mir nach, flog mich ein Hauch von Mitleid an.

  • @ Sir Thomas:


    Zitat

    Bei Pessoa kann man fundierte Nietzsche-Kenntnisse voraussetzen, wenn ich mich recht entsinne.


    Wohl wahr. Googelt man unter Pessoa + Nietzsche, so erhält man, jedenfalls in portugiesischer Sprache, viele Seiten mit Abhandlungen zu diesem seltsamen Paar angezeigt.


    Vielleicht kann man, pointiert, sagen: Bernardo Soares ist Nietzsches Übermensch, wenn er einen schlechten Tag erwischt hat.

  • Ich denke, Nietzsche hat sich selbst viel weniger ernst genommen als viele ihn. Er relativiert sich des öfteren, stellt auch sich selbst in Frage, hinterfragt sich, misstraut sich bisweilen selbst und schiebt Satire und Ironie und manchmal grotesken Humor in seine Ausschweifungen. Er war eben ein sprachwitziger Philosoph. Ich lese gerade die Unzeitgemäßen Betrachtungen und finde dort viel Satire und bissigen Spott, aber immer habe ich das Gefühl, auch ein verstecktes Augenzwinkern zu sehen, zu erlesen. Liege ich falsch? Kann sein. Nietzsche auf einen gemainsamen Nanner zu bringen wird wohl nie möglich sein... Zum Glück.

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10


  • Ich denke, Nietzsche hat sich selbst viel weniger ernst genommen als viele ihn. ... immer habe ich das Gefühl, auch ein verstecktes Augenzwinkern zu sehen, zu erlesen. Liege ich falsch?


    Hallo Friedrich-Arthur,


    nein, Du liegst nicht falsch. "Es ist durchaus nicht nötig, nicht einmal erwünscht, Partei für mich zu nehmen: im Gegenteil, eine Dosis Neugier, wie vor einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstand, schiene mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir." FN an Carl Fuchs, zit. n. R. Safranski: Nietzsche - Biographie seines Denkens

  • Nachdem ich Nietzsche recht hart anging, noch eine Bemerkung zu seinen Verdiensten.


    Durch alle seine Schriften zieht sich ein sehr diesseitiger Vitalitätsgedanke. Sein unverhohlener Hass gegenüber dem Priesterstande beruht ganz wesentlich hierauf ("Gegen den Priester hat man keine Gründe, man hat das Zuchthaus"). Wie nur wenige andere hat Nietzsche hier den Finger auf ein eine gefährliche Stelle aller Diesseits-Leugnung von religiöser und idealistischer Seite gelegt. Die Vertröstung auf ein vermeintlich besseres Jenseits führt systematisch zu einer Beschmutzung aller Erscheinungen von Welt und Leben. Diese Beschmutzung dessen, was erfahrbar ist, zugunsten eines Versprechens, an dem gar nichts erfahrbar - allenfalls etwas glaubbar - ist, funktioniert als Unterdrückungsapparat, oder ist zumindest als ein solcher zu benutzen, und Nietzsche pragert gezielt die Unterdrückung aufwärtsstrebender, etitärer Naturen auf diesem Wege an. Nietzsches Kritik ist aber m.E. gar nicht notwendig nur auf den elitären Übermenschen zu beschränken. Lässt man die Schaumkronen auf seinen Schriften beiseite, schaut also durchaus Bedenkenswertes dabei heraus.

  • Mir dringt sich oft das Gefühl auf, dass nichts von Nietzsches Gedanken so missverstanden, missbraucht und missdeutet wurde, wie die Idee des Übermenschen.


    Ich denke die Idee war und ist immer noch ein kultureller und stilistisch hoch entwickelter Übermensch, ein über die menschlichen Abgründe und Schwächen hinauswachsender Mensch, ein Mensch, der den menschlichen Niederungen entsteigt, der große Wurf des Menschseins und der Menschheit und kein arischer Blöndling mit Wehrmachtshelm oder eine fliegende amerikanische Comicfigur oder ähnliches. Bei vielen würde sich der Erfinder der Idee in seinem Grabe umdrehen und würde ihn der Ekel aufzehrenden Schüttelfrost machen.


    Er kann sich leider seit vielen Jahren nicht mehr wehren, dass sollten wir ihn zumindest zubilligen.


    Man muss Nietzsche nur lage genug und langsam genug und wiederlesen und der Sekundär- und Tertiärliteratur gegenüber asketisch eingestellt sein, dazu noch dem eigenen Urteil trauen und Erfahrungen über Meinungen stellen und wird merken, warum er bei Schriftstellern und Künstlern so geachtet und geehrt wurde und immer noch wird.


    Nietzsche hat mich das langsame und wiederholte Lesen gelehrt.

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Zitat

    Nietzsche hat mich das langsame und wiederholte Lesen gelehrt.


    Gerade die Aphoristik macht es nicht leicht, aber da wäre es in der Tat angebracht. Zu leicht liest man dort darüber hinweg.

    Einmal editiert, zuletzt von Gronauer ()

  • Zitat

    Mir dringt sich oft das Gefühl auf, dass nichts von Nietzsches Gedanken so missverstanden, missbraucht und missdeutet wurde, wie die Idee des Übermenschen.


    Das und alles, was hierzu noch angemerkt wird, ist alles richtig, Friedrich-Arthur. Das macht mir den Übermenschen, den Nietzsche meinte, aber immer noch nicht verdaulich.


  • Nur ein Hinweis auf eine seltsame Brüderschaft im Geiste:


    In Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“ war mir ein Kapitel unangenehm aufgestoßen, in dem Pessoa darlegt, weshalb Güte und Mildtätigkeit prinzipiell abzulehnen seien, nämlich aus ästhetischen Gründen des Zartgefühls. Nietzsche hat spätestens seit dem Zarathustra, in Ansätzen sogar schon in der Fröhlichen Wissenschaft, diese Dinge ebenfalls schroff verworfen, zu Gunsten seines Konzepts des macht- und selbstsüchtigen Übermenschen. Wie seltsam mutet dieser Konsens zwischen dem eingezogenen Melancholiker und dem Propheten der Tyrannis des abgehobenen Übermenschen an. Oder, ins bedeutend allgemeine: könnte es wohl sein, dass die zartesten und die gewalttätigsten Gemüter sich in der Indolenz ihres Autismus die Hand reichen?


    R. Safranski hat für diese Brüderschaft eine plausible Formel: Nietzsche hatte sich verhältnismäßig früh entschieden, ein ästhetisches Leitbild anstelle eines moralischen zu verfolgen. Und das entspricht dem so zerquälten wie rücksichtslosen Ästhetizismus Pessoas, wie er mir in dem Buch der Unruhe begegnete, recht gut.

  • Ich habe beim Weihnachtsbesuch bei meinen Eltern meinem Vater die alte Nietzsche-Hanser-Ausgabe in 6 Bänden abluchsen können. Sie stand immer bei uns zu Hause, seit ich Kind war, aber ich habe sie nie gelesen. Unglaublich nicht war? Ich hatte sie griffbereit, aber ich schlug sie nie auf. Die Ideologen in der DDR haben ganze Arbeit geleistet mit ihren Verläumdungen und Verzerrungen. Heute weiß ich warum: Nietzsche ist geistige Nahrung für freie kritische Denker(innen) und ein Prediger des Individualismus erster Güte. Das war natürlich garnicht im Interesse eines auf Kollektiv angelegten Systems in dem das richtige Denken gelehrt wurde. Ich habe zwar die Hauptwerke inzwischen gelesen, teilweise wiedergelesen und einige Passagen lerne ich fast auswendig, weil sie so schön sind, aber diese Ausgabe ist so schön, trotz ihres Gilbes eine Erinnerung und schließt Werk aus dem Nachlass mit ein, dass ich noch nicht kenne. Also Grund zur Freude. Was ich jedenfalls nicht vergesse, ist der Aufruf zum Individualismus und zur Befreiung des Menschen, die ja Emanzipation im weitesten Sinne ist und eine Tendenz für die Zukunft der Menschheit. Aber erst muss der Nachlass warten, die nordische Mythologie hat mich in ihrem Bann.

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Schön, dass du mit Nietzsche so viel Freude hast!
    Ich selbst las ihn ganz früh zum ersten Mal - natürlich ohne rechtes Verständnis, was mich in keiner Weise davon abhielt, in der jugendlichen Begeisterung halb und halb zu glauben, ich hätte alles selbst geschrieben. Seither haben mich Nietzsches Werke immer wieder begleitet und in ihrer Sprach- und Gedankengewalt, ihrem unerschöpflichem Reichtum beglückt wie wenig anderes. Gewiss gibt es auch eine "dunkle" Seite bei Nietzsche: eine brutale, antihumanistische, sozialdarwinistische, aber du betonst zu Recht den Individualismus, war Nietzsche doch gleichzeitig Antikollektivist, Antinationalist und Anti-Antisemit, weshalb ich es besonders absurd finde, dass ihn manche bis heute ideologisch in die Nähe der Nazis rücken.
    Für mich ist Nietzsche vor allem ein Genie der Klarsicht, selbst im beginnenden Wahnsinn scheint er noch alles zu begreifen, beschreibt es wunderbar und kann doch nichts mehr aufhalten, will es vielleicht gar nicht mehr. Unglaublich ausserdem, wie viel Lebensbejahung Nietzsche seiner körperlichen Krankheit abgetrotzt hat, die Briefe zeigen ein Leben voll Schmerz, Einsamkeit und Arbeit.


    So, zu dieser Éloge hast du mich animiert!
    Ich hätte gute Lust, selbst wieder einmal einen Band Nietzsche zur Hand zu nehmen, was ich leider schon lange nicht mehr getan habe.