März 2005: Geoffrey Chaucer - Canterbury Tales

  • Zitat von "Saltanah"


    Das ging mir auch so. Dass sie mittelalterliche Dichtung so etwas hervorgebracht hat, hätte ich nie erwartet.


    Ich habe einiges an mittelalterlicher Literatur gelesen, und wollte vor allem auf die formalen Vorzüge kombiniert mit klugen Seitenbemerkungen hinaus, weniger auf den Inhalt (da gibt es ja die schrägsten Dinge).
    Was die Beispiele von "Monströsem" angeht, findet sich einiges in den späten Bearbeitungen des Artusstoffes (worüber sich dann ja auch ein Monty-Python-Film erfolgreich lustig macht).


    Zitat von "Saltanah"


    - Merkur als Gott des Schlafes? Das kommt mir komisch vor. (526-528)
    The winged god Mercury, he thought, came near
    (...)
    His sleep-imbuing wand held in the air


    Merkur geht ja auf den griechischen Hermes zurück zu dessen Aufgaben es gehörte, Seelen in den Hades zu begleiten. Vielleicht ist dieser "Schlaf" auch eine Anspielung darauf?


    Zitat von "Saltanah"


    Kennst du Boccaccios Buch? Ich habe vergeblich im Internet nach einem Onlinetext gesucht, und wusste bis gestern nicht mal von der Existenz dieses Buches.


    Eigenes Buch? Vermute mal, es ist eine der Geschichte aus dem Dekameron.


    Zitat von "Regina"


    Was mich vor die Frage stellt, wie schief wohl mein Mittelalterbild ist?


    Das traditionelle Bild vom dunklen Mittelalter ist ganz verkehrt, aber leider nicht umzubringen. Aber auch bei den Fachleuten hat sich hier in den letzten Jahrzehnten viel geändert, zuletzt in der Geistesgeschichtsschreibung. Inzwischen hat man erkannt, dass die Neuzeit nicht so plötzlich in der Renaissance angebrochen ist, sondern es im MA schon viele vorbereitende Tendenzen gab. Darunter auch ziemlich "moderne" Philosophen wie Roger Bacon.


    Zitat von "Finsbury"


    Chaucers Ironie findet in der deutschen Literatur durchaus Parallelen, wenn auch nicht auf so hohem Niveau.
    a) Neidhart von Reuental hat sich zu Beginn des 13.Jahrhunderts oft derb über die Bauern, aber auch Ritter und "Pfaffen" lustig gemacht.
    b) Ein Könner in schon kabarettistischem Humor war sicher Oswald von Wolkenstein, 1377-1445, der z.B. seine Teilnahme am Konstanzer Konzil dazu genutzt hat, sich über so ziemlich alle Bevölkerungsschichten lustig zu machen.


    Neidhart las ich, Wolkenstein ist noch eine unverzeihliche Leselücke, von wenigen kürzeren Texten abgesehen :rollen:
    Auch bei Gottfried findet sich ja feine Ironie, weshalb ich ihn erwähnte.
    Ich kenne auch andere "Antikenromane" aus dem Mittelalter, aber so charmant wie Chaucer das macht, habe ich es noch nicht gelesen. Zumindest hat es mich mehr amüsiert als anderes in dem Genre.


    CK

  • Zitat von "xenophanes"

    Das traditionelle Bild vom dunklen Mittelalter ist ganz verkehrt, aber leider nicht umzubringen.


    Seufz. Eigentlich "weiß" ich das auch, aber das Klischee ist halt so tief in meinem Bewusstsein verankert, dass es mein besseres (zugegebenermaßen nicht besonders umfangreiches) Wissen doch immer wieder überwindet.



    Laut Wikipdia ist Boccaccios Werk "Teseida delle nozze di Emilia" die Vorlage für die Erzählung des Ritters.
    http://en.wikipedia.org/wiki/Giovanni_Boccaccio


    Wie schon früher geschrieben bin ich in mittelalterlicher Literatur nicht besonders belesen, aber mittlerweile ist mir eingefallen, dass ich vor ewigen Zeiten (circa Ende der 70er) mal einige Geschichten aus dem Decamerone gelesen habe. Und das zeichnet sich ja nicht gerade, gelinde gesagt, durch sexuelle Prüderie aus. Nachdem mir jetzt endlich klar geworden ist, dass Chaucer ja ungefähr zeitgleich (etwas später) gelebt und geschrieben hat, finde ich auch die bei ihm auftauchende Freizügigkeit bis Grobheit nicht mehr so überraschend.


    Was mich zur Geschichte des Müllers bringt. Hier könnte ich mir gut vorstellen, dass die Vorlage aus just dem Decamerone stammt. Stimmt das? Die Erzählung an sich fand ich viel uninteressanter als die des Ritters, aber natürlich dem Erzähler, dem grobschlächtigen und dazu noch betrunkenen Müller angemessen. Ich gehe davon aus, dass Chaucer das bewusst als Kontrastprogramm nach der "edlen" Rittergeschichte (die especially pleased the gentlefolk Miller's Prologue 5) gewählt hat. Was aber beide gemeinsam haben, ist das Thema der Liebe, wenn auch in sehr unterschiedlicher Ausführung.


    Auch der Müller hat einen Namen (Miller's Prologue 20-21):
    Our host saw, then, that he was drunk with ale,
    And said to him: Wait, Robin, my dear brother


    So weit für heute,
    Saltanah

  • Zitat von "Saltanah"


    Wie schon früher geschrieben bin ich in mittelalterlicher Literatur nicht besonders belesen


    Meiner Erfahrung nach gibt es überhaupt kaum Nicht-Philologen, welche mittelalterliche Literatur lesen. Ich habe damit auch erst angefangen, als Mediävistik auf meinen Studienplan stand.


    Zitat von "Saltanah"


    gesagt, durch sexuelle Prüderie aus. Nachdem mir jetzt endlich klar geworden ist, dass Chaucer ja ungefähr zeitgleich (etwas später) gelebt und geschrieben hat, finde ich auch die bei ihm auftauchende Freizügigkeit bis Grobheit nicht mehr so überraschend.


    Im Mittelalter hatten die Menschen eine komplett anderes Schamgefühl. So sind z.B. in Städten Familien von zu Hause nackt in ein öffentliches Bad gegangen etc.


    Wenn dich das interessiert, empfehle ich dringend Norbert Elias' "Über den Prozeß der Zivilisation" zu lesen. Darin findet sich umfangreiches Anschauungsmaterial aus dem Mittelalter zu diesen Fragen (auch Essen, Schlafen etc.)


    Mit der "Geschichte des Müllers" bin ich noch nicht fertig. Überhaupt wird es diese Woche für mich eng, da ich am Mittwoch nach Lissabon fliege und erst am Sonntag zurückkomme. :smile:


    Werden Chaucer aber einpacken.


    CK

  • Hallo zusammen,


    nur kurz; ich stecke immer noch in der Geschichte des Ritter.
    Herrlich, am Ende des 3. Teils, wie sich Mars und Venus zanken, Jupiter ist noch zu jung und unerfahren,um den Streit zu schlichten, und deshalb muss Saturn eingreifen :breitgrins:


    Übrigens beginne ich mich zu fragen, wie stark wir es eigentlich hier noch mit Mittelalter zu tun haben. Die Antike (vor allem deren Götterwelt) kam doch erst in der Renaissance wieder richtig zu Ehren, oder nicht?


    Ob die Geschichte des Müllers auch aus dem Decamerone stammt, darauf habe ich beim kurzen Nachschlagen noch keinen Hinweis gefunden. Aber Chaucer greift eine im MA beliebte (komische) Gattung auf, die auch schon früh in der Volkssprache verfasst wurde: das Fabliau. Die grobschlächtige Art des Müllers soll auf den Stilwechsel vorbereiten.


    Immer noch ritterliche Grüsse,
    Maja

  • Zitat von "Maja"


    Übrigens beginne ich mich zu fragen, wie stark wir es eigentlich hier noch mit Mittelalter zu tun haben. Die Antike (vor allem deren Götterwelt) kam doch erst in der Renaissance wieder richtig zu Ehren, oder nicht?


    Zumindest nicht aus diesem Grund: es gab im Mittelalter ein ganzes Genre "Antikenroman". Stoffe waren Alexander, Troia und anderes.


    Melde mich nach Lissabon ab :urlaub:


    CK

  • Zitat von "Maja"


    Herrlich, am Ende des 3. Teils, wie sich Mars und Venus zanken, Jupiter ist noch zu jung und unerfahren,um den Streit zu schlichten, und deshalb muss Saturn eingreifen :breitgrins:


    Ja, die Stelle fand ich auch phantastisch:
    Age has a great advantage over youth
    In wisdom and by custom, that's the truth.
    The old may be out-run but not outreasoned.

    (Ritter 1589-1591)


    Saltanah

  • Hallo zusammen,


    In der Geschichte des Ritters kommt auch schon zum ersten Mal die Parallele zwischen Pilgerreise und Leben, dort wo Theseus' Vater diesen tröstet und daran erinnert, dass jeder Mensch sterben muss:
    And we been pilgrims passing to and fro (V.1990)


    Zitat von "Regina"

    Da musste ich ziemlich grinsen, als er das Begräbnis in aller Ausführlichkeit nicht beschreibt.


    An dieser Stelle gefällt mir das wiederholte
    Nor...
    Nor...

    der neuenglischen Übersetzung eindeutig besser als das mittelenglische "Ne..."! Klingt doch irgendwie mehr nach Begräbnis.


    An der Geschichte des Ritters gefällt mir, dass derjenige, der zu Mars gebetet hat, nur scheinbar gewinnt. Geradezu pazifistisch!


    Herzliche Grüsse,
    Maja

  • Hallo euch allen,


    bin gerade mit der Geschichte des Müllers fertig geworden.


    Doch zunächst zurück zum "Ritter".


    Mich beschäftigte besonders
    1) das Motiv des Todes, das bei der Beschreibung des Marstempels hervorscheint (1195 - 2023). Ich fühlte mich hier an Hieronimus Boschs Bilder erinnert, der zwar später lebte (~1450- 1517), aber ähnlich grausame Darstellungen des Todes liebte.
    In Huizingas "Herbst des Mittelalters" las ich dann, dass im 15. Jahrhundert bereits eine starke Memento mori- Orientierung herrschte: "Es scheint, als hätte der spätmittelalterliche Geist den Tod unter keinem anderen Gescihtspunkt sehen können als nur unter dem der Vergänglichkeit."
    Nun steht ja Chaucer erst an der Schwelle des 15. Jahrhunderts, aber ich denke, dass auch zu seiner Zeit durch die Erfahrungen der großen Pest ind der Mitte des 14.Jahrhunderts der Tod sozusagen als Generalbass unter vielen Texten liegt.
    Arno Borst dagegen schreibt in "Lebensformen im Mittelalter" über Boccaccio - die Vorlage Chaucers: " Boccaccio predigt kein Memento mori. Er fragt nicht nach dem Seelenheil der Pesttoten, nicht danach, ob sie ohne Beichte und Letzte Ölung die unheimliche Schwelle des Lebens überschritten. Zwischen Leben und Tod besteht eine viel schlichtere Verbindung, Geselligkeit. Herkommen und Vorsorge bestimmen, dass der Tod keinen Einzelmenschen trifft.[...] Die nächste Generation wird die Lücke füllen."
    Mir scheint, Chaucer hat auch noch viel von Boccaccios Ansichten, wenn wir den gesellig begleiteten Tod Arcites' und den schließlichen Gewinn Emilias durch Palamon ansehen.
    Ich bin sehr gespannt, wie das Thema Tod in den anderen Geschichten behandelt wird.
    2) die Zeitsprünge, die sich auch im Original wiederfinden. Chaucer springt an einigen Stellen ganz modern vom Präteritum ins Präsens, z.B.
    Vers 2506 ff, zum Zwecke der Vergegenwärtigung besonders spannender Handlungen? Was meint ihr dazu? Manchmal finde ich den Beginn und das Ende des Zeitsprungs relativ willkürlich und nicht unbedingt mit den spannendsten Stellen übereinstimmend.


    Die Erzählung des Müllers ist wirklich ein Schwank, derb und etwas grob in den Mitteln, mit denen Spaß erzeugt wird. So etwas gibt es auch in den GESTA ROMANORUM und natürlich bei Boccaccio, der Unterschied besteht tatsächlich wohl darin, dass diese wenig originelle Erzählung so gut in die Rahmenerzählung zu dem betrunkenen Müller passt.


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo, ChaucerianerInnen,


    der Thread liegt im Moment ja ziemlich still!
    Ich bin gerade am Anfang der Erzählung vom Rechtsanwalt und grüble etwas über die Überlieferungslage, da ich dazu im Kindler und in meiner Insel-Ausgabe keine Infos gefunden habe. Ist Fragment 1 identisch mit dem Ellesmere-Manuskript oder fasst dieses mehrere Fragmente zusammen? Nach welchen Kriterien wurde die Reihenfolge festgelegt?


    Habt ihr dazu Infos?


    HG finsbury :rollen:

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo allerseits!


    Ich habe gerade die Geschichte des Gutsverwalters beendet. Insgesamt hat sie mich nicht so beeindruckt, aber einige Formulierungen haben mir doch gefallen.


    Im Prolog fiel mir der Vergleich des Lebens mit einem (Bier?)Fass auf, dessen Hahn geöffnet ist. Das kannte ich bisher nicht, ist aber ein verständliches Bild, und mal eine Abwechslung zu der üblichen Sanduhr.
    Auch die Beschreibung des Alters, das der Gutsverwalter liefert, fand ich, wenn auch sehr negativ, lesenswert:
    ... the strength to play that game
    Is gone, though we love foolishness the same.
    (...)
    'Yet we have four live coals, as I can show;
    Lies, boasting, greed and rage will always glow.
    (...)
    Desire never fails
    (...)
    There's nothing left but dotage at the last!
    (25 ff)
    Hier spricht ein Mann, der sich mit seinem Älterwerden absolut nicht anfreunden kann. Ich sehe ihn als unangenehmen Miesepeter vor mir, der seine Unzufriedenheit an anderen auslässt, überall Beleidigungen und Kränkungen seiner Person sieht (der Müller erzählt eine Geschichte, in der ein Tischler schlecht wegkommt, und da der Gutsverwalter selbst Tischler ist, bezieht er das natürlich auf sich selbst), und sich gleich dafür rächt.


    Die Geschichte selbst:
    Laut meinen spärlichen Anmerkungen ist es das erste Mal in der englischen Literatur, dass Dialekt als komisches Element verwendet wird.


    "The greatest scholar is not the wisest man",
    As the wolf said in answer to the mare.
    (200-201)
    Das klingt mir nach einer Fabel, kennt ihr vielleicht eine solche mit Wolf und Pferd?
    The greatest scholar... ist ein schöner Seitenhieb auf die Gelehrten, noch extremer kommt es etwas später:
    My house is small, but you are learned men
    And by your arguments can make a place
    Twenty foot broad as infinite as space.
    Take a look round and see if it will do,
    Or make it bigger with your parley-voo.
    (268-272)


    Der Rest der Erzählung hat eine Geschichte aus Boccaccios Dekameron zum Vorbild (9. Nacht, 6. Geschichte), allerdings teilweise verändert. Wer will kann sie hier nachlesen. (Jetzt möchte ich mal darauf hinweisen, dass das nicht in meinem Buch steht, sondern dass ich die Vorlage selbst erkannt habe. Und da bin ich auch ganz stolz drauf!)


    Übrigens fiel mir beim Blättern im Dekameron auf, dass das ja 10x10 Geschichten umfasst. Wollte Chaucer mit seinen geplanten 120 Geschichten Boccaccio noch übertreffen?


    Gleich mache ich mit der unbeendeten Geschichte des Kochs weiter, und dann kommt der Rechtsgelehrte an die Reihe. Wie weit seid ihr vorgedrungen?
    Zu den Manuskripten habe ich auch keine Informationen.


    Frühlingsgrüße,
    Saltanah

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "Saltanah"

    Im Prolog fiel mir der Vergleich des Lebens mit einem (Bier?)Fass auf, dessen Hahn geöffnet ist. Das kannte ich bisher nicht, ist aber ein verständliches Bild, und mal eine Abwechslung zu der üblichen Sanduhr.


    Nicht nur eine Abwechslung, sondern eigentlich auch viel präziser - oder umfassender, wie man will. Erst moderne Technik hat dies ja obsolet gemacht: Vom Bier im Fass war eigentlich nur der "mittlere" Teil wirklich geniessbar. Der Beginn (wenn ich mich recht erinnere) voller überschäumender Hefe, der Schluss war sauer. Dies nun aufs menschliche Leben übertragen ...


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Zitat von "Saltanah"

    "The greatest scholar is not the wisest man",
    As the wolf said in answer to the mare.
    (200-201)
    Das klingt mir nach einer Fabel, kennt ihr vielleicht eine solche mit Wolf und Pferd?


    Hallo Saltanah,


    nach der Inselausgabe bezieht Chaucer sich hier auf eine volkstümliche Tierfabel, "....die sich auch bei La Fontaine findet, [dort] sagt die Stute zum hungrigen Wolf, der ihr Fohlen kaufen wollte, daß der Preis an ihrem Hinterfuß geschrieben stehe. Als ihn der Wolf zu lesen versucht, schlägt sie ihn damit nieder."
    Wobei das Pferd in dem Kontext des Chaucer-Textes den Wolf als Gelehrten anspricht. Das ist mir so aus anderen Fabeln nicht bekannt. Nun ja ... . Ein großes Maul hat er ja! :zwinker:


    HG
    finsbury


    PS: Bin in der Geschichte des Rechtsanwalts, komme aber im Moment nicht weiter.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo zusammen!


    Nachdem mein Computer heute morgen gleich zwei Beiträge verschluckt hat, versuch' ich's noch einmal. Vielleicht hat er jetzt keinen Hunger mehr.


    :lesen: Ich habe die Geschichten von Müller und Gutsverwalter gelesen und mich bestens amüsiert. Nur das Schulenglischvokabular erwies sich als eher ungenügend.:breitgrins:


    Die 3 Erzählungen sind durch das Prinzip der Erwiderung verbunden: Der Müller fühlt sich vom hohen Stil der Rittererzählung (mit idealisierter höfischer Liebe) provoziert und erzählt seinen derben Schwank. Der Verwalter sieht sich in seiner als Zimmermann gekränkt und will sich am Müller rächen. Den Bezug zum Müller der Rahmenerzählung verstärkt er, indem er den Müller in der Geschichte auch Dudelsack spielen lässt.

    Zitat von "finsbury"

    Ich bin sehr gespannt, wie das Thema Tod in den anderen Geschichten behandelt wird.

    Bis jetzt ist der Tod nicht zentral, eher das Rad Fortunas, welches dafür sorgt, dass von den Menschen (Männern...) im Wettstreit keiner lange oben bleibt. Aber obwohl in den komischen Geschichten alle sündigen, kommt keiner ernstthaft zu Schaden oder stirbt sogar. Nur die Stolzen werden vom hohen Ross heruntergeholt und die Betrüger selbst betrogen.


    The reeve's Prologue

    Zitat von "Saltanah"

    Hier spricht ein Mann, der sich mit seinem Älterwerden absolut nicht anfreunden kann.


    Danke für den Hinweis, ich hatte ihn aufgrund seiner Worte als weise und abgeklärt eingeordnet. Aber die Tatsache, dass er sich dann nicht lange bitten lässt, seine derbe Geschichte doch zu erzählen, spricht wohl eher dafür, dass er unzufrieden ist.


    Zitat von "finsbury"

    Nach welchen Kriterien wurde die Reihenfolge festgelegt?


    Es gibt Hinweise darauf, dass Chaucer umordnete und zeitweise eine Geschichte einem anderen Erzähler zuschrieb. In den Manuskripten kommt The Knight's Tale als erste nach dem General Prologue. Vermutlich entstand sie aber als separates Werk schon früher und wurde erst später von Chaucer revidiert und angepasst. Auch die ersten Worte des Man of Law könnten den Beginn der ganzen Sammlung anzeigen! Aber die Geschichte des -Ritters ist aus verschiedenen Gründen ein idealer Beginn: Er ist die sozial höchste Person, die Geschichte führt viele Themen der Tales ein, viele Topoi und Handlungsmotive werden eingeführt (weibl Schönheit, Liebe, 2 Männer u. 1 Frau), und die Pilgerreise wird in ihrem übertragenen Sinn erwähnt.
    Was den Rest betrifft, fehlen den Editoren die Hinweise. Die Referenzen zum Fortgang der Reise sind ungenügend, und Datum-Hinweise widersprechen sich. Innerhalb der Fragmente gibt es recht gleichbleibende Gruppen, aber zwischen den Fragmenten fehlt die Verbindung.
    Bei mir kommt jetzt die Geschichte des Kochs.


    Herzliche Grüsse,
    Maja

  • Zitat von "finsbury"


    der Thread liegt im Moment ja ziemlich still!


    Ich bin sicher, dass alle nur höflichkeitshalber meine Rückkehr aus Lissabon abwarten wollten :breitgrins:


    Zitat von "finsbury"


    Ist Fragment 1 identisch mit dem Ellesmere-Manuskript oder fasst dieses mehrere Fragmente zusammen? Nach welchen Kriterien wurde die Reihenfolge festgelegt?


    Über die Kriterien kann ich nichts sagen, allerdings scheint das Manuskript sehr umfangreich zu sein, da laut Martin Lehnert die Insel Ausgabe darauf beruht:


    "Als Originaltext haben wir unserer Übersetzung die Standardausgabe von F.N. Robinson zugrunde gelegt, der wir auch in der Anordnung der Erzählungen und in der Zeilenzählung folgen [...]
    Die Ausgabe Robinsons basiert auf dem in der Huntington Library in San Marino, Kalifornien, aufbewahrten prachtvollen Ellesmere-Manuskript, aus dem auch die beigegebnen farbigen Miniaturbilder der Pilger auf ihren Pferden stammen."
    [S. 35/36]


    Es gibt ein Buch über das Manuskript:
    Herbert C. Schulz: The Ellesmere Manuscript of Chaucer's Canterbury Tales. Huntington Library Publications. San Marino 1966


    Außerdem ist 1911 eine Faksimile Ausgabe in 2 Bänden in Manchester erschienen.


    Gerade bestellt habe ich:


    Schulz, Herbert C. ELLESMERE MANUSCRIPT OF CHAUCER'S CANTERBURY TALES.|THE, San Marino, California Huntington Library 1999 8vo., quarter cloth with decorated paper covered boards. 64 pages. <Bestellnr. 55588> USD 13.15
    The "Ellesmere Chaucer" is one of the most valuable and cherished manuscripts in the Huntington Library. Of the several distinctive features which contribute to the pre-eminent position of the Ellesmere manuscripts among all other manuscripts of the 'Canterbury Tales', the most notable is the series of twenty-three paintings depicting the Canterbury Pilgrims--all beautifully reproduced in this volume. The flyleaves are reproduced from the first and last flyleaves of the Ellesmere manuscript.
    [SW: 0873281527 Illuminated Manuscripts United Kingdom CANTERBURY TALES]
    Preis: 10,14 EUR


    Wird aber etwas dauern, da es aus Amerika auf dem Seeweg verschickt wird.


    CK

  • Hallo Chaucerianer!


    Durch das viele Herumsitzen auf Flughäfen und in Flugzeugen hab ich inzwischen die "Erzählung der Frau aus Bath" beendet und werde erst dann weiterlesen, wenn das hier entsprechend "verarbeitet" wurde.


    Zitat von "Maja"


    Die 3 Erzählungen sind durch das Prinzip der Erwiderung verbunden: Der Müller fühlt sich vom hohen Stil der Rittererzählung (mit idealisierter höfischer Liebe) provoziert und erzählt seinen derben Schwank. Der Verwalter sieht sich in seiner als Zimmermann gekränkt und will sich am Müller rächen. Den Bezug zum Müller der Rahmenerzählung verstärkt er, indem er den Müller in der Geschichte auch Dudelsack spielen lässt.


    Kontrast als Strukturprinzip: Das ist mir auch aufgefallen. Im Gegensatz zur direkten literarischen Raffinesse der Erzählung des Ritters liegt hier die Kunstfertigkeit vor allem auch in der thematischen Anordnung der Geschichten.


    Zur Erzählung des Müllers:


    Chaucer hält die Erzählperspektive des ungebildeten Müllers nicht immer durch, da er regelmäßig "gebildete" Anspielungen einfließen läßt. Cato etc.


    Interessant auch, dass Astrologie dem Glauben entgegen gesetzt wird:


    Der Mann ist hier durch Sternenguckerei
    In Wahn verfallen oder Raserei.
    Ich dacht es immer, ob das gut wird gehen!
    Ich lobe immer mir den schlichten Mann,
    Der weiter nichts als seinen Glauben kann!

    [3451ff.]


    Gut gefiel mir auch, dass die Erzählung nicht nur religiöse Naivität aufs Korn nimmt, sondern der zentrale Betrug mit der gefälschten Sintflut auch von einer gehörigen religiösen Respektlosigkeit zeugt.


    Zur Erzählung des Landvogts:


    Eine derb-didaktische Geschichte. Der böse Müller findet seine gerechte Strafe, indem die beiden Studenten seine Gattin und Tochter "verführen".


    CK

  • Zitat von "xenophanes"

    Ich bin sicher, dass alle nur höflichkeitshalber meine Rückkehr aus Lissabon abwarten wollten :breitgrins:


    Aber natürlich!


    Zitat von "xenophanes"


    Schulz, Herbert C. ELLESMERE MANUSCRIPT OF CHAUCER'S CANTERBURY TALES.|THE, San Marino, California Huntington Library 1999 8vo., quarter cloth with decorated paper covered boards. 64 pages. <Bestellnr. 55588> USD 13.15
    The "Ellesmere Chaucer" is one of the most valuable and cherished manuscripts in the Huntington Library. Of the several distinctive features which contribute to the pre-eminent position of the Ellesmere manuscripts among all other manuscripts of the 'Canterbury Tales', the most notable is the series of twenty-three paintings depicting the Canterbury Pilgrims--all beautifully reproduced in this volume. The flyleaves are reproduced from the first and last flyleaves of the Ellesmere manuscript.
    [SW: 0873281527 Illuminated Manuscripts United Kingdom CANTERBURY TALES]
    Preis: 10,14 EUR


    Das klingt ja sehr interessant. Hätte ich auch gern.


    Zitat von "xenophanes"

    Interessant auch, dass Astrologie dem Glauben entgegen gesetzt wird:


    Der Mann ist hier durch Sternenguckerei
    In Wahn verfallen oder Raserei.
    Ich dacht es immer, ob das gut wird gehen!
    Ich lobe immer mir den schlichten Mann,
    Der weiter nichts als seinen Glauben kann!


    Wobei die "Sternenguckerei" ja als Wissenschaft angesehen wurde (glaube ich zumindest); nicht umsonst war Nicholas ein Student. Der Müller hat keine hohe Meinung von Studenten/Wissenschaftlern, genauso wenig wie der Müller der nächsten Geschichte, wobei dann aber auffällig ist, dass die Gelehrten am Ende doch "gewinnen".


    Ist es euch eigentlich aufgefallen, dass jede Geschichte mit einer Anrufung Gottes endet?
    Ritter:
    Thus ended Palamon and Emily,
    And God save all this happy company!
    Amen.

    Müller:
    And God bring all of us to Kingdom Come.
    Gutsverwalter:
    And God that sits in majesty on high
    Bring all this company, great and small, to Glory!
    Thus I've payd out the Miller with my story!


    Ich bin zur Zeit mit dem Rechtsgelehrten beschäftigt.


    Grüße,
    Saltanah

  • Zitat von "Saltanah"


    Das klingt ja sehr interessant. Hätte ich auch gern.


    Es gäbe antiquarisch noch eine monochrome Faksimileausgabe für 240 Euro...


    Zitat von "Saltanah"


    Wobei die "Sternenguckerei" ja als Wissenschaft angesehen wurde (glaube ich zumindest); nicht umsonst war Nicholas ein Student.


    Korrekt. Da die Naturwissenschaft der Kirche immer suspekt war, schließt sich hier der Kreis.


    CK

  • Habe mich ein wenig im Decamerone herumgetrieben um meine Erinnerung aufzufrischen, was speziell die Rahmenhandlung betrifft. Sie ist so zahm wie ich mich meinte zu erinnern. Wie erfrischend hingegen Chaucer wo sich ein Trunkbold einfach vorrüpelt oder eine beleidigte Leberwurst sich meint rächen zu müssen.
    Bei Boccaccio folgen alle brav dem Tagesmonarchen und sind geradezu erpicht zu gefallen. Das wird schnell langweilig.


    Ich fange jetzt mit dem Rechtsgelehrten an, weiterhin im Original, denn wenn ich die schönen Reime der Inselausgabe bei euch lese, habe ich schon gar keine Lust auf die kunstlose wörtliche Übersetzung in der Goldmannausgabe.