Thomas Mann

  • Hallo Tom,


    vielen Dank für Deine Zusammenfassung. Ich halte fest, dass Thomas Manns Beschäftigung mit Dostojewski in zeitlichem und inhaltlichem Zusammenhang mit seiner Arbeit am "Doktor Faustus" steht. Ich fühlte mich auf der ersten Seite der "Dämonen/Bösen Geister" gleich an den Tonfall des Serenus Zeitblom erinnert ...


    Gruß
    Klaus :winken:

  • Leiden und Größe der Meister - Essays von Thomas Mann


    Wie schon erwähnt: In der o.g. Sammlung gibt es gleich mehrere Aufsätze Manns über Goethe. Zwei davon habe ich mittlerweile gelesen. Hier die wesentlichen Früchte im stenografischen Stil:


    Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters (1932, Rede an der preußischen Akademie der Künste zum einhundertjährigen Todestag Goethes)


    TM eröffnet eine Reihe von Goethe-Perspektiven:
    → Goethe als Herr und Meister der klassischen Bildungsepoche, einer Epoche des idealistischen Individualismus, die den deutschen Kulturbegriff begründet hat und deren humaner Zauber in einer psychologischen Verbindung von autobiographischer Selbstausbildung und Selbsterfüllung mit dem Erziehungsgedanken besteht; die Erziehungsidee bildet Brücke und Übergang aus der Welt des Individuums in die Welt des Sozialen
    → Goethe als Idealtyp einer auf ruhiger und gleichmäßiger Bildung beruhenden bürgerlichen Leitkultur, einer Kultur, die im italienischen Renaissance-Humanismus des 15. Jahrhunderts sowie in den deutschen Figuren Erasmus und (mit Einschränkungen) Luther wurzelt
    → Goethe als Repräsentant des Mittelstands, der ein idealer Nährboden für Talent, standhafte Humanität und schöne, ruhige Bildung ist
    → Goethe als Mensch der Mitte, als gesetzter Dichter, dem alles Exzentrische, Exaltierte, Sakrale, Himmelsstürmerische und Gespreizte zutiefst fremd ist
    → Goethe als erfolgreicher Geschäftsmann, der einmal Begonnenes mit Gründlichkeit fertigstellt, der den Prozess der Ausführung indes höher achtet als den des Beendens; "ehrgeizloses, stilles und fast pflanzenartiges Wachstum aus unscheinbaren Anfängen ins Allbedeutende" (Zitat TM)
    → Novalis' Kritik an Goethe: der „Wilhelm Meister“ sei gegen die Poesie gerichtet, ein die ökonomische Natur feierndes Buch über gewöhnliche menschliche Dinge, die in einer gebildeten und gefälligen Sprache vorgetragen werden. Novalis: „Goethe ist ein praktischer Dichter. Er ist in seinen Werken, was der Engländer in seinen Waren ist: höchst einfach, nett, bequem und dauerhaft. Wer diese Anmut des Sprechens besitzt, kann uns das Unbedeutendste erzählen, und wir werden uns angezogen und unterhalten finden.“
    → Goethes Realismus steht dem Dichtertum Schillers entgegen, das vom Idealismus ausgeht; Goethe gab der Wirklichkeit poetische Gestalt, während Schiller das Poetische verwirklichen wollte.
    → Goethe als der wahre Menschenfreund, der keinen hohen Begriff von der Menschheit hatte, während der Idealist Schiller so groß von der Menschheit dachte, dass er Gefahr lief, die Menschen zu verachten; der Idealist ist deshalb der glücklichere Geist, der Realist der kältere, boshaftere und mißmutigere
    → Goethe als Nihilist, der „seine Sach' auf nichts gestellt“ hat, der nicht an die Menschheit bzw. deren Befreiung und Reinigung glaubt und noch nicht einmal an die Kunst („Gedichte sind wie ein Kuss, aber aus Küssen werden keine Kinder“); den Aspekt des Nihilismus greift TM in seinem Goethe-Roman „Lotte in Weimar“ von 1939 noch einmal auf, indem er den Goethe-Adlatus Riemer ähnliche Überlegungen anstellen lässt.
    → Goethe als Aristokrat des Lebens, der geringschätzig auf „sehnsuchtsvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen“ blickt
    → der späte Goethe als Überwinder des bürgerlichen Individualismus und der klassisch-humanistischen Kultur, der in den „Wanderjahren“ den Blick auf ein Zeitalter der Einseitigkeit und Nüchternheit wirft, in der der Einzelne zu einem Rädchen im Getriebe der Gemeinschaft wird



    Phantasie über Goethe (1948)


    Goethes metapysische Gewißheit, ein Mann des großen Loses, für das Große geboren, ein Glückskind und großer Herr, ein Mann der Welt zu sein (diese Einstellung übernahm TM als Charakterzug für Joseph und Felix Krull); Goethe spricht von „angeborenen Verdiensten“; das ist ein Affront gegen das Wollen, Streben, Kämpfen, das höchst löblich, aber nicht vornehm und im Grunde aussichtslos ist; auf die Substanz des Menschen, aufs Existentielle kommt es ihm an: „Man muss etwas sein, um etwas zu machen.“


    Goethes Glauben und Moral wurzeln im Spinozismus, d.h. der Idee von der Vollkommenheit und Notwendigkeit alles Daseins (Natur-Ästhetizismus) sowie der Vorstellung einer Welt, die von End-Ursachen und End-Zwecken frei ist und in der das Böse wie das Gute sein Recht hat (Anti-Moralismus). Daraus leitet er eine Zweckfremdheit der Kunst- wie der Naturschöpfung ab. Selbst sein dichterisches Talent betrachtet er als Natur. Goethe: „Wir kämpfen für die Vollkommenheit des Kunstwerks in und an sich selbst. Die Moralisten denken an dessen wirkung nach außen, um welche sich der wahre Künstler gar nicht bekümmert, so wenig wie die Natur, wenn sie einen Löwen oder einen Kolibri hervorbringt.“


    Was immer man damit auch anfangen mag: Ich habe diese beiden Aufsätze als bereichernd empfunden.


    Diesen Beitrag stelle ich auch in den Goethe-Ordner.


    Es grüßt

    Tom

  • Ich setze die lockeren Berichte über die Lektüre der Thomas Mann-Essays fort. Heute: Leiden und Größe Richard Wagners (1933, Vortrag zum 50. Todestag Wagners an der Universität München)


    Wagner und das 19. Jahrhundert


    Die Kunst des 19. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch einen Ehrgeiz des großen Formats, den Geschmack am Grandiosen und Massenhaften und durch einen Naturalismus, der sich ins Symbolische steigert und ins Mythische wächst (Beispiele: Goethes „Faust“, Balzacs und Zolas Romanzyklen).


    Psychologie und Mythos erheben Wagners Werk über das Niveau des älteren musikalischen Schaupiels. Figuren wie Kundry (Parsifal), zugleich sakrale Gralsbotin und weltliche Verfüherin, sind ausgefeilte Doppelexistenzen. Vor allem dem weiblichen Personal haftet häufig ein Zug von Edelhysterie, etwas Somnambules, Verzücktes und Seherisches an, das ihre romantische Heroik und mythische Pathologie mit eigentümlicher und bedenklicher Modernität durchsetzt.


    Wagners Künstlertum


    Seinem Verhältnis zu den Einzelkünsten (Musik, Literatur) haftet viel Dilettantisches an. Er hielt sich selbst zeitweise für einen absoluten Stümper und jämerlichen Musiker. Seine Libretti sind keine Literatur, sondern ergänzungsbedürftiger Musikdunst. Seine Musik ist so ganz und gar nicht Musik, sie ist Psychologie, Symbol, Mythik, Emphatik. Er ist kein Dichter und kein Musiker, sondern etwas Drittes, worin diese Eingeschaften verschmelzen: ein Theaterdionysos.


    Wagners Künstlertum unterhält ebenso Beziehungen zu Perioden, die von der unseren fernab liegen, wie es dem Modernen-Intellektualistischen angehört. Wagner liebte einerseits eine großbürgerlich-bourgeoise Aura und luxuriöse Umgebung für seine Arbeit, sprach andererseits aber auch von der Notwendigkeit künstlerisch-wollüstiger Stimmung, um seine blutig schwere Arbeit zu schaffen. Beides hat sich in seinem Werk niedergeschlagen.


    Wagners Romantik


    Besonders „Tristan ...“ zeugt von erzromantischer, morbider und zaubervoller Nachtverherrlichung (Novalis!) und dringt tief in die Sensiblitität und Mysterien dieser Geistesbewegung ein. Liebestod, Wollust und Verneinung des Willens sind Bestandteile einer dunkel erotischen Philosophie und einer atheistischen Metaphysik. Wagner war auf eine gesunde Art krank, er kultivierte eine morbide Art, heroisch und erotisch zu sein und gleicht darin seinen Brüdern im Geiste: Poe und Baudelaire. Sein Musiktheater war eine Wundergrotte für die Glaubenslüsternheit einer mürben Spätwelt, sein Personal eine Häufung extremer und anstößiger Ausgefallenheit. All das war mit der klassisch-humanen und eigentlich vornehmen Kunstszene nicht mehr vereinbar – es war nur noch romantisch und entsprach der seit dem Ende der Goethezeit leidender gewordenen Seelenlage des Abendlandes.


    Wagners Deutschtum


    Wagners Nationalismus ist politikfremd und von einer anarchischen Gleichgültigkeit gegen das Staatliche geprägt. Er verband jedoch seine Sache (Bayreuth!) mit der des Bismarckschen Reiches. Die europäische Hegemonie seiner Kunst ist das kulturelle Zubehör zur politischen Hegemonie Bismarcks.

    Wagner begann als Kulturutopist und Sozialist. Er ging den Weg des deutschen Bürgertums: von der Revolution zur Enttäuschung, zum Pessimismus und einer resignierten Innerlichkeit.


    Wagners Kunst mit ihrer Sinnigkeit, ihrem mythisch-metaphysischen Hang und ihrem tiefernsten Selbstgefühl ist deutsch und weltoffen zugleich, weil sie modern gebrochen, dekorativ, analytisch, intellektuell und zugleich Selbstdarstellung und Selbstkritik deutschen Wesens ist.


    Fazit: Ich kann nicht behaupten, dass Thomas Mann es geschafft hat, mir die Musik Wagners näher zu bringen. Trotzdem war es erneut ein großartiges Vergnügen, den Ausführungen des Zauberers zu folgen.


    LG


    Tom

  • Hallo zusammen,


    heute habe ich erfahren, dass die FAS gestern ihre Leser, insbesondere die Thomas Mann Fans, in den April geschickt haben. In der "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" wurde nämlich behauptet, dass in den Kellern eines Prager Wohnhauses ein Konvolut unbekannter Aufzeichnungen von Heinrich Mann gefunden wurde. Darunter seien auch mehrere Kapitel der "Buddenbrooks" gewesen und somit die Behauptung aufgestellt, Heinrich Mann hätte die Buddenbrooks geschrieben.


    echt böse :elch: :clown:

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • ein Radio-Tipp:


    MDR Figaro // Ursendung 2013 // Luther, so nah und so fern.


    Ein Thomas Mann Panorama


    28.03.2013


    22:00 bis 23:00


    Luther der Sprachschöpfer, der Glaubenskämpfer, der Befreier vom römischen Zentralismus und der Stifter einer neuen Orthodoxie - alle Dimensionen der Gestalt blitzen auf, und am Ende steht das Projekt eines Lustspiels, "Luthers Hochzeit" betitelt. Er hat es nicht mehr schreiben können.



    http://programm.ard.de/Radio/D…?event_id=284319812198913

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)


  • ein Radio-Tipp:


    MDR Figaro // Ursendung 2013 // Luther, so nah und so fern.


    Ein Thomas Mann Panorama


    Danke, Maria! Das klingt interessant. Leider kann ich nicht live mithören (ich bin unterwegs, aber nicht im MDR-Sendegebiet). Wer einen Mitschnitt anfertigt, ihn in seine Dropbox packt und mit mir teilt, möge sich bei mir melden.


    Schöne Ostern!


    Tom


  • Hallo Tom


    was ist eine Dropbox?


    Ein kostenloses online tool, mit dem Du Dokumente hochladen und mit anderen, von Dir freigegebenen Personen, teilen kannst. Wenn Du mir Deine Mailadresse via PM sendest, kann ich Dich einladen, dort ein Konto zu eröffnen. Ich finde dropbox praktisch, wenn es um den Austausch großer Datenmengen geht (Fotos, Musik etc.).


    http://www.dropbox.com


    LG


    Tom

  • Hallo Tom,


    muß ich mir überlegen und mir im Netz näher betrachten.
    Von mir auch ein Tipp. Du kannst dich bei Phonostar für die Radio Cloud Aufnahme anmelden. 2 Std. sind immer kostenlos. Somit kannst du dir Thomas Mann programmieren und nach der Aufnahme downloaden und löschen, dann ist dein 2-Std-Speicher wieder frei.


    http://www.phonostar.de/


    Thomas Mann am 28.03.
    http://www.phonostar.de/radio/mdrfigaro/diskurs/s/1059


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)


  • Von mir auch ein Tipp. Du kannst dich bei Phonostar für die Radio Cloud Aufnahme anmelden. 2 Std. sind immer kostenlos. Somit kannst du dir Thomas Mann programmieren und nach der Aufnahme downloaden und löschen, dann ist dein 2-Std-Speicher wieder frei.


    http://www.phonostar.de/


    Thomas Mann am 28.03.
    http://www.phonostar.de/radio/mdrfigaro/diskurs/s/1059


    Hallo Maria,


    das hat hervorragend funktioniert! Zum Inhalt des Radioessays später evtl. mehr.


    Schöne Ostern!

  • Hallo Tom,


    ja, die Radio Cloud ist praktisch und ich habe sie natürlich auch fürs Feature über Thomas Mann und Luther genutzt. Es spannt einen Bogen der politischen Ansichten Thomas Manns zu den historischen Begebenheiten in der deutschen Geschichte, ebenso die Wichtigkeit Luthers für die deutsche Sprache. Ich fands sehr informativ in seiner Kürze. Leider kenne ich weder die "Betrachtungen eines Unpolitischen" noch "Doktor Faustus", beides Werke an die ich mich noch gewagt habe. Du hast dich ja schon sehr viel weiter ins Thomas Mann Universum reingewagt.


    Ein Lustspiel über Luther von Thomas Mann hätte mich natürlich interessiert.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Ein Lustspiel über Luther von Thomas Mann hätte mich natürlich interessiert.



    Von Thomas Mann? Abgesehen davon, dass das Theater seine Welt nicht war - auch das Komische oder Lustige war es doch kaum. Genau so wenig wie bei Schiller oder Goethe. Idyllisch (oder, wie Goethe es ausgedrückt hätte: "behaglich"), wie z.B. in Herr und Hund, ja. Aber komisch? Selbst sein Bruder, der ja nun auch kein grosser Komiker war, konnte im Professor Unrat komischer werden ... Oder habe ich was verpasst?

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Abgesehen davon, dass das Theater seine Welt nicht war - auch das Komische oder Lustige war es doch kaum.


    Sein einziges vollendetes Theaterstück (Fiorenza, 1906) kenne ich nicht. Es soll aber nicht der Rede wert sein. Das Theater war wohl definitiv nicht das Metier Thomas Manns. Richtig komisch oder gar lustig ist er natürlich nicht. Seine Ironie hat aber durchaus Qualitäten, die ich sehr schätze.

  • Dazu kommt: Er ist eine deutsche Institution. Sehen Sie sich, fernab von den Buddenbrook, die notfalls und dem Namen nach auch Unterschichtenangehörige kennen, mal Joseph u. s. Brüder an - Welcher moderne Autor würde sich auch nur die Mühe machen, ein solches Monumentalwerk zu verfassen? Wenn er es denn könnte?


  • Dazu kommt: Er ist eine deutsche Institution. Sehen Sie sich, fernab von den Buddenbrook, die notfalls und dem Namen nach auch Unterschichtenangehörige kennen, mal Joseph u. s. Brüder an - Welcher moderne Autor würde sich auch nur die Mühe machen, ein solches Monumentalwerk zu verfassen? Wenn er es denn könnte?


    Uwe Johnson.


  • ein Radio-Tipp:


    MDR Figaro // Ursendung 2013 // Luther, so nah und so fern.


    Ein Thomas Mann Panorama


    Hier der versprochene Kommentar zum Inhalt: Nach einer kurzen Würdigung Luthers, die der Autor weitgehend Egon Friedells "Kulturgeschichte des Abendlands" entnommen hat, wird chronologisch aufgezeigt, wie Thomas Mann sich mit dem Reformator in seinem Werk auseinandergesetzt hat - zunächst noch indirekt (z.B. in der Beschreibung des protestantischen Lebensstils der Buddenbrooks), später dann auch sehr direkt (z.B. im "Doktor Faustus" und in seiner Ansprache "Deutschland und die Deutschen"). Fazit: Mann mochte den "Gottesbarbar" Luther nicht - er war ihm schlicht zu grob. Er kam allerdings nicht umhin, vor allem die Leistungen Luthers für die Entwicklung der deutschen Sprache zu würdigen. Gegen Lebensende fand er die Widersprüchlichkeit dieser Figur dann interessant genug, um daraus ein Lustspiel entwickeln zu wollen. Es blieb ein Fragment.


    Insgesamt ein interessanter Beitrag, der nichts Neues bietet und im Lutherjahr 2017 bestimmt noch einmal gesendet wird.