Dezember 2004:Albert Camus - Der Fremde / Der Mythos ..

  • Ich schließe mich meinen Vorrednern an.


    Heute Abend fahre ich zu einem Ort, an dem sich auch ein Exemplar "Der Mythos des Sisyphos" befindet. Ich werde sicherlich zumindest mit dem Lesen anfangen können.


    Den 2. Teil von "Der Fremde" habe ich schon gelesen - vielleicht traue ich mich aber für diese Leserunde mal ans Original.


    LG
    Nightfever

  • Hallo allerseits!


    Der Titel des Romans lautet bekanntlich „Der Fremde“ und im ersten Teil des Buches haben wir oft von Meursaults Indifferenz und seiner anscheinenden Gefühllosigkeit geredet, seiner Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Verhaltensweisen usw. Aber wie sieht Meursault sich eigentlich selbst? Empfindet er sich selbst auch als irgendwie anders, als „Fremder“? Einige Stellen im zweiten Teil des Romans haben mich daran zweifeln lassen...


    Da gibt es z. B. die Szene als Meursault zum ersten Mal mit seinem Anwalt zusammentrifft und dieser ob Meursaults normwidrigen Antworten zu verzweifeln scheint, weil er darin keinen Ansatzpunkt für eine erfolgreiche Verteidigung ausfindig machen kann. Als der Anwalt verärgert die Zelle verlässt, schreibt Meursault, dass er ihn gerne noch zurückgehalten hätte um „ihm zu versichern, dass ich so war wie alle, ganz genauso wie alle“.


    Oder was ist, als er auf die Frage des Verteidigers, ob er Kummer über den Tod der Mutter verspürt habe, antwortet, dass er seine Mutter zwar gern gehabt, aber dass das nichts Weiteres zu bedeuten hätte: „Alle vernünftigen Menschen hätten mehr oder weniger den Tod derer gewünscht, die sie liebten.“ Tatsächlich alle Menschen? Findet hier nicht eine Art Projektion statt, mit der Meursault sich selbst zu versichern sucht, nicht anders als alle anderen zu sein?


    Erst im Verlauf der Verhandlung, wo die Anklage je länger je mehr Meursaults moralische Grundeinstellungen in Zweifel zu ziehen versucht, scheint er sich darüber klar zu werden, wie sehr er sich doch eigentlich von der Norm seiner Mitmenschen entfremdet hat. Wenn er z. B. schreibt, dass er zum erstenmal seit Jahren das „unsinnige Bedürfnis“ gehabt habe zu weinen, „weil ich gespürt habe, wie sehr ich von all diesen Leuten verabscheut wurde,“ heisst das für mich nichts anderes, als dass ihm bewusst wird, wie sehr er sich von all diesen Leuten unterscheidet.


    „Da habe ich etwas gespürt, was den ganzen Saal ergriff, und zum erstenmal habe ich verstanden, dass ich schuldig war.“ Schuldig nicht so sehr des Mordes an einem Araber, als an seiner Abweichung von gesellschaftlichen Normen und Vorstellungen. Die Gerichtsverhandlung wird so zu einer Art Inquisition, wo es nicht so sehr um die Aburteilung eines Justiz-Verbrechens geht, als um die Bestrafung eines Andersdenkenden, eines Häretikers, der vom „wahren“ Glauben abgekommen ist.


    Schönes Wochenende noch


    riff-raff

  • Hallo zusammen,


    Wie versprochen ein paar Gedanken zum Beginn des zweiten Teils:
    1. "Kapitel": Anwalt und Untersuchungsrichter
    Beim Anwalt beginnt es schon merkwürdig: Dieser will gleich zum Kern der Sache kommen - und beginnt mit dem Beerdigungstag!
    Beim Untersuchungsrichter ist mir wieder das Licht aufgefallen: Beim 1. Besuch ist es gedämpft, Beim 2. Besuch dann hell, und prompt gerät Meursault wieder in Schwierigkeiten.


    Auch der Untersuchungsrichter fragt ihn, warum er auf eine Leiche geschossen habe. Offenbar liegt darin vor allem das Ungeheuerliche.


    Meursaults Schweigen wird ihm als Verstocktheit angelastet. Mich hat es beim Lesen richtig kribbelig gemacht, weil ich auf jede Frage eine Antwort gewusst hätte, die ihn entlastet hätte. Er hätte sich leicht - wenigstens weitgehend - herausreden können! Ist es Euch auch so ergangen?


    Dann taucht auch noch die Frage nach dem Sinn des Lebens auf. Das des Untersuchungsrichters hätte keinen Sinn mehr, wenn er nicht an Gott glauben könnte.


    Kapitel 3: Am Anfang ein Gegensatz zu den vielen "Das-interessierte-mich-nicht" vom ersten Teil: "Es interessierte mich, einen Prozess zu sehen."
    Zur Gerichtsverhandlung habe ich vorerst nur eine Frage: Was denkt ihr von der Stelle, wo er den Journalisten anschaut und das Gefühl hat, er werde von sich selber angeschaut?


    riff-raff: Merci für Deine Denkanstösse, ich blättere ein wenig zurück und gehe später darauf ein!


    Herzliche Grüsse,
    Maja

  • Hallo zusammen,


    einige interessante Gedanken..., doch leider hatte ich in den letzten Tagen so viel zu tun, dass ich so zu gar nichts mehr gekommen bin. Ich werde meine Gedanken dazu aber in Kürze noch niederschreiben.


    Bis dahin,
    Michael

  • Hallo zusammen,


    Zitat von "riff-raff"

    Da gibt es z. B. die Szene als Meursault zum ersten Mal mit seinem Anwalt zusammentrifft und dieser ob Meursaults normwidrigen Antworten zu verzweifeln scheint, weil er darin keinen Ansatzpunkt für eine erfolgreiche Verteidigung ausfindig machen kann. Als der Anwalt verärgert die Zelle verlässt, schreibt Meursault, dass er ihn gerne noch zurückgehalten hätte um „ihm zu versichern, dass ich so war wie alle, ganz genauso wie alle“.


    Oder was ist, als er auf die Frage des Verteidigers, ob er Kummer über den Tod der Mutter verspürt habe, antwortet, dass er seine Mutter zwar gern gehabt, aber dass das nichts Weiteres zu bedeuten hätte: „Alle vernünftigen Menschen hätten mehr oder weniger den Tod derer gewünscht, die sie liebten.“ Tatsächlich alle Menschen? Findet hier nicht eine Art Projektion statt, mit der Meursault sich selbst zu versichern sucht, nicht anders als alle anderen zu sein?


    Da eröffnet sich wohl die Frage, in wie weit der "Fremde" wirklich ein Fremder ist oder anders gefragt: Was hat er mit allen anderen Menschen gemein? Ich glaube immer noch, es ist das "Fremdsein" selbst. Es ist die Frage der Individualität, die vielleicht alle Menschen trennt und gleichzeitig eint, weil dieses "Dem-anderen-fremd-sein" eben für alle gilt. Das Ganze steigert sich zu der völligen Absurdität, dass man sich selbst gegenüber entfremdet sein kann. Und dieses Gefühl, sich und der Welt entfremdet zu sein, ist der Ausgangspunkt für die Erkenntnis, sich mit der Umwelt nicht wirklich vereinen zu können. Mit niemandem kommt Meursault im zweiten Teil überein: nicht mit dem Verteidiger, nicht mit dem Richter, nicht mit dem Priester (ein ganz wichtiger Moment, wie ich finde), nicht einmal mit Marie. Und er steht nicht nur abgetrennt von diesen Personen, sondern auch außerhalb des jeweiligen Systems, dass sie repräsentieren: der Priester für das System christlicher Werte und für den Glauben an Erlösung; sein Anwalt für ein Rechtssystem, das auch ihm eine Verteidigung "seines Lebens" zugestehen würde, usw. Aber das alles gibt Meursault keinen Sinn.


    Zitat von "Maja"

    Dann taucht auch noch die Frage nach dem Sinn des Lebens auf. Das des Untersuchungsrichters hätte keinen Sinn mehr, wenn er nicht an Gott glauben könnte.


    Ich denke die Frage nach einem Lebenssinn stellt sich im zweiten Teil ganz deutlich. Jedoch lehnt Meursault alle diese "Sinndarreichungen", besonders auffällig im Falle des Richters oder des Priesters, ab. Das entfremdet ihn von allen gängigen Wert- und Sinnstiftungssystemen und von einer Gesellschaft, die auf diesen Systemen aufbaut.


    Soweit ein erster Gedanke.
    Liebe Grüße von
    Michael :smile:

  • Hallo zusammen,


    ich habe den Eindruck, dass die Entfremdung dort einsetzt, wo der Mensch nicht mehr mir der Natur (Meer, Sonne, Himmel) eins ist. Wenn er sich nicht mehr als eines der Elemente empfindet und über sich nachzudenken beginnt.
    Das Gleich- oder Anders-Sein wie die anderen Menschen ist dabei nur ein Gesichtspunkt unter anderen. Im Roman gibt es ja beides, Meursault ist auch irritiert, als der Untersuchungsrichter argumentiert, alle Menschen glaubten an Gott.


    Heute lese ich noch das letzte Kapitel und bin dann gespannt auf den Zusammenhang mit dem Sisyphos!


    Herzliche Grüsse,
    Maja

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "Maja"

    Zur Gerichtsverhandlung habe ich vorerst nur eine Frage: Was denkt ihr von der Stelle, wo er den Journalisten anschaut und das Gefühl hat, er werde von sich selber angeschaut?


    Genau diese Stelle habe ich mir auch angestrichen... Haben sich da zwei verwandte Seelen wiedererkannt? - Es gibt im Roman noch weitere Personen, über deren Bedeutung ich mir im Unklaren bin: z. B. die "Roboterfrau" oder der alte Salamano mit seinem Hund...


    Und noch eine Stelle, die mir rätselhaft ist: Bei der Urteilsverkündung, als ihm der Vorsitzende das Todesurteil bekannt gibt, heisst es:


    "Da schien es mir, dass ich das Gefühl erkannte, das ich auf allen Gesichtern las. Ich glaube, es war Achtung."


    Achtung?... - Ver-achtung doch wohl eher, meinetwegen auch Mitleid oder peinliches Betroffensein (der junge Journalist wendet z. B. die Augen ab) aber Achtung... Wovor denn? Wenige Seiten vorher will er ja noch gespürt haben, "wie sehr ich von all diesen Leuten verabscheut wurde." Kann mir das jemand erklären? Wie lautet die Stelle eigentlich im Original, Maja?


    Schönes Wochenende noch...


    riff-raff

  • Hallo zusammen,


    wenn es im Fremden ins Detail geht, wird es manchmal ganz schön kniffelig, finde ich. Vielleicht ist das der Grund, warum mir dieses Buch trotz mehrfachen Lesens noch immer ein paar Rätsel aufgibt, was ja auch reizvoll sein kann. Vielleicht wird es Zeit den Sisyphos hinzuzuziehen und uns dann diese Stellen noch einmal vorzunehmen.


    Zitat

    Es gibt im Roman noch weitere Personen, über deren Bedeutung ich mir im Unklaren bin: z. B. die "Roboterfrau" oder der alte Salamano mit seinem Hund...


    Salamano ist für mich eine Figur, die besonders schön den Kontrast von Liebe/Haß in der ganzen vereinenden Wiedersprüchlichkeit aufdeckt. Im übertragenen Sinne kann man etwas im Leben hassen und gleichzeitig so lieben, dass man ohne es nicht auszukommen scheint. Die ganze Zeit scheint er seinen Hund zu verachten und behandelt ihn entsprechend, als er fort ist, merkt er dass ihm etwas fehlt. Ähnlich ergeht es dem Menschen vielleicht manches Mal mit dem Leben selbst. Man kann es noch so verachten, davon zu lassen fällt einem wiederum schwer. Auch damit wieder verbunden das Gefühl höchster Absurdität und Wiedersprüchlichkeit. Vielleicht in dieser Art auch ein stilistisches Mittel? Z.B., wie schon oft diskutiert, die Sonne einmal wärmend, einmal verbrennend. Trotzdem vereint sich beides hinter ein und derselben Sonne.
    Nur mal so ein Gedanke...


    Schönes Wochenende,
    Michael

  • Hallo zusammen,


    Zitat von "riff-raff"

    Und noch eine Stelle, die mir rätselhaft ist: Bei der Urteilsverkündung, als ihm der Vorsitzende das Todesurteil bekannt gibt, heisst es:
    "Da schien es mir, dass ich das Gefühl erkannte, das ich auf allen Gesichtern las. Ich glaube, es war Achtung."
    Achtung?... -


    Auf Französisch steht hier "considération", wozu mein Wörterbuch folgende Auswahlsendung liefert: Betrachtung, Erwägung, Überlegung, Bewegrund, Rücksicht, Ansehen, Hochachtung, Beachtung, Achtung, Ansehen, Wertschätzung.
    "Achtung" scheint mir nicht schlecht getroffen. Ich erkläre mir die Stelle, wie auch den Kontrast zur vorangehenden, wo er Abscheu spürt, so, dass er seine eigene Empfindung auf die Zuschauer projiziert. Er achtet sich selber, weil er ehrlich geblieben ist, und liest dasselbe nun auf den Gesichtern der Zuschauer.


    Zitat von "Michael"

    Vielleicht wird es Zeit den Sisyphos hinzuzuziehen und uns dann diese Stellen noch einmal vorzunehmen.


    Ich schliesse mich an. Wo stecken eigentlich die anderen?? :winken:


    Herzliche Grüsse,
    Maja

  • Hallo!


    Zitat von "Maja"

    Wo stecken eigentlich die anderen?? :winken:


    Ja, wo sind die alle hingekommen? Schon genug von Camus? :zwinker:


    LG,
    Michael

  • Ich bin immer noch hier und warte


    1. auf den Startschuss zum Sisyphos und
    2. darauf, dass ich endlich mal wieder in der Stadtbücherei vorbeikomme... (um ihn mir auszuleihen)


    Ich habe neulich in das Exemplar eines Freundes hineingeschaut und war schwer enttäuscht, weil mir gleich auf der ersten Seite unbegründete Annahman und Ungereimtheiten entgegensprangen. Mein Deutschlehrer hat mich allerdings noch einmal ermutigt, trotzdem wenigstens den Anfang zu lesen.
    Na, mal schauen.


    Wollen wir dann im Laufe der Woche mit dem Sisyphos anfangen?


    LG
    Nightfever

  • Guten Morgen,


    ich bin auch noch da und hoffe, jetzt wieder mehr Zeit zu haben, in der letzten Zeit hatte ich einfach nicht die nötige Ruhe...


    Aber das Buch lässt mich nicht los. Es ist in seiner Art einfach faszinierend.
    Also, bald mehr...

  • Guten Abend


    Ich bin neu hier und wollte an dieser Stelle kurz hallo sagen.


    Für den Anfang habe ich eine Anmerkung zu Meursault, bzw.
    zu seinem Namen. Wie viele von euch bereits richtig vermutet
    haben, stammt er u.a. vom französischen wort "meure" für
    sterben. "sault" ist etwas älteres französisch und würde übersetzt
    soviel wie dumm, blöd heissen (was die franzosen heute z.b. als
    bête bezeichnen). Übersetzt bedeutet sein Name also
    Dumm-Sterbender. Scheint mir doch noch wichtig für das Buch...


    Welchen Gedanken ich noch hatte beim durchlesen der Posts,
    wie gesagt wurde, versucht Camus die Enfremdung Meursaults
    von Konventionen darzustellen. Könnte es auch sein, dass Meursault bereits "eine Stufe vorher", d.h., aufgrund seiner Unfähigkeit zu richten verurteilt wird, Stichwort gleich-gültig (was ja irgendwann in das Nichtbefolgen von Konventionen mündet)?!


    Ich wünsche euch einen guten Abend
    -halungg

  • Hallo, soweit erst mal meine Gedanken:


    Gleich zum Beginn des zweiten Teils (Zusammentreffen mit dem Anwalt) ist mir aufgefallen, dass Meursault die Wahrheit sagt, versucht nicht, sich zu verteidigen, seine Tat zu entschuldigen oder sie verständlich zu machen. Das hat mich schon beim ersten Lesen fasziniert.


    Dadurch, dass niemand (der Anwalt steht wohl für die Gemeinschaft, zu der sich Meursault nicht zugehörig fühlt?) die Wahrheit hören möchte und es überhaupt nicht in Erwägung zieht, dass es die Wahrheit sein könnte, sondern alle erwarten, dass er seine Tat erklärt und sich verteidigt, dadurch steht Meursault immer mehr im Abseits. Nun versucht er über die ständige Unterstreichung und Hervorhebung seiner 'Normalität' wieder auf die andere Seite, zurück in die Gemeinschaft, zu gelangen, was ihm natürlich nicht gelingen kann.


    Erst durch diesen Mord beginnt er ernsthaft sich Gedanken um sein soziales Leben zu machen, auf Seite 100 sagt er, dass sich die Leute gewöhnlich nicht um ihn kümmern und dass er sich anstrengen muss, zu verstehen, dass er beachtet wird.


    Was es nun mit diesem Journalisten auf sich hat, habe ich bisher noch nicht verstanden und komme da auch nicht weiter. Soll es ausdrücken, dass er sich wünscht, jemand anders zu sein, aus seiner Haut/Situation rauszuwollen, ein relativ Unbeteiligter, jemand der zur Gemeinschaft gehört oder sieht er in ihm, wie es vielleicht in einem anderen Leben hätte sein können?



    lg, carina1606

  • Hallo,


    Zitat von "halungg"


    Übersetzt bedeutet sein Name also
    Dumm-Sterbender. Scheint mir doch noch wichtig für das Buch...


    Interessanter Gedanke. Ich frage mich nur, ob Meursault wirklich im Sinne dieser Namensgebung "dumm" stirbt. Oder ist es als allgemeines Attribut gemeint, dem er sich sozusagen während seiner Geschichte entwindet? Ich glaube, dass er am Ende sein Leben gewissermaßen durchschaut, oder jedenfalls meint es zu tun.


    Zitat von "carina"

    Dadurch, dass niemand (der Anwalt steht wohl für die Gemeinschaft, zu der sich Meursault nicht zugehörig fühlt?) die Wahrheit hören möchte und es überhaupt nicht in Erwägung zieht, dass es die Wahrheit sein könnte, sondern alle erwarten, dass er seine Tat erklärt und sich verteidigt, dadurch steht Meursault immer mehr im Abseits.


    Im ersten Teil zeigt sich die Ent-Fremdung vielleicht nur mehr als das Gefühl Meursaults in einzelnen Situationen in denen es zu Reibereien zwischen ihm und seiner Umgebung kommt. Im zweiten Teil steht er m.M.n. außen und wird von den Personen (Anwalt, Richter, Marie, Priester) auch als außenstehend, als fremd wahrgenommen und entsprechend behandelt. Die Entfremdung hat hier auch eine ganz räumliche Komponente durch seine Inhaftierung. Interessanter Weise ist er weniger eingeschlossen, denn er leugnet ja nicht und ist auch keine weitere Gefahr, sondern vielmehr ausgeschlossen. Im Gefängnis wird ihm die Teilnahme am Leben in gewisser Weise schon verwährt. (Auschluss von "normalen" zwischenmenschlichen Kontakten, beschriebenerweise auch sexueller Art, usw.)
    Die Versuche ihn wieder zu integrieren (Gespräch mit dem Richter, oder dem Priester) basieren darauf, ihn vom jeweiligen Sinnzusammenhang, an den die unterschiedlichen Personen für sich festhalten - sei es ein Rechtssystem, ein christliches Glaubensgefüge, oder ähnliches - zu überzeugen. Doch Meursault will sich nicht mehr überzeugen lassen. Am Ende blitzt der Priester regelrecht ab. Meursault will seine Ent-Fremdung nicht aufheben, ich meine, in dem Bewusstsein, dass sich diese nicht aufheben lässt.


    Liebe Grüße,
    Michael

  • Hallo zusammen,


    Zitat von "Michael"

    Am Ende blitzt der Priester regelrecht ab.


    Und doch bewirkt sein Besuch offenbar etwas, eine Veränderung. Was geschieht da genau??


    Zitat von "Michael"

    Meursault will seine Ent-Fremdung nicht aufheben, ich meine, in dem Bewusstsein, dass sich diese nicht aufheben lässt.


    Irgendwie habe ich den Eindruck, dass Meursault in einer gewissen Weise weniger entfremdet ist als die anderen Menschen. Er lebt in Einklang mit der Natur, dem Körperlichen und letzlich mit sich selbst.


    [size=16px]Warum ist er am Schluss glücklich?[/size]


    Herzliche Grüsse, bin gespannt auf Eure Antworten,
    Maja

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "Maja"


    Und doch bewirkt sein Besuch offenbar etwas, eine Veränderung. Was geschieht da genau??


    Mich hat vor allem Meursaults Wutanfall dem Priester gegenüber beschäftigt. So emotional wie in dieser Szene haben wir Meursault im Verlaufe des Romans noch gar nie kennen gelernt. Er wird sogar tätlich, packt den Priester am Kragen der Soutane und schüttelt ihn, die Wächter müssen einschreiten. Meist ist es doch so, dass wenn man in einem Streitgespräch die Stimme erhebt oder sogar handgreiflich wird, dann sind einem die nötigen Argumente ausgegangen oder man agiert aus der Defensive heraus. Meursault formuliert hier sein Credo, sein Glaubensbekenntnis, aber er tut es unbeherrscht und ausser sich vor Wut. Für mich untergräbt dieser Wutanfall irgendwie die Glaubwürdigkeit seiner Worte. Hat er wirkliche Erkenntnis erlangt wie er behauptet oder fürchtet er bloss, der Priester könne ihn in seinen mühsam erarbeiteten Gewissheiten wieder schwankend machen?


    Liebe Grüsse


    riff-raff

    Einmal editiert, zuletzt von ()

  • Hallo zusammen!
    Hallo Nightfever!


    Zitat von "Nightfever"

    Wollen wir dann im Laufe der Woche mit dem Sisyphos anfangen?


    Ich für meinen Teil habe nicht mehr länger warten können und damit begonnen...


    Zitat

    Ich habe neulich in das Exemplar eines Freundes hineingeschaut und war schwer enttäuscht, weil mir gleich auf der ersten Seite unbegründete Annahman und Ungereimtheiten entgegensprangen.


    Genau diese für dich unbegründeten Annahmen und Ungereimtheiten sind es, die mich interessieren würden. Willst du uns nicht daran teilhaben lassen? Zitiere sie doch...


    Gruss


    riff-raff

  • Hallo alle,
    Hallo riff-raff!


    Ich habe jetzt auch mit dem "Mythos des Sisyphos" angefangen.
    Ich habe die neue rororo-Ausgabe in der Übersetzung von Vincent von Wroblewsky (geiler Name *g*)


    Bin auf Seite 17. Das Lesen geht langsam, weil ich Schnupfen habe *hatschi* - so mit tränenden Augen und so *schnief*


    Der Anfang des Essays beschäftigt sich ja mit dem Selbstmord. Dabei finde ich zweierlei interessant:


    1. Camus behauptet, jeder normale/gesunde Mensch habe schon einemal über Selbstmord nachgedacht. Ich verstehe "nachdenken" hier im Sinne von "überlegt, man Selbstmord begehen sollte". Wie seht ihr das? Man könnte es auch neutraler verstehen, aber dann macht die Bemerkung nicht mehr so viel Sinn, oder? Jedenfalls finde ich das eine spannende und riskante Aussage. Findet ihr euch darin wieder?


    2. Indem Camus die Frage nach dem "Leben wollen" als wichtig ansieht, hat er IMHO seine Antwort schon gegeben - ihm ist das Leben wichtig :breitgrins: Sonst würde er sich mit anderen Fragestellungen beschäftigen. Oder? Er hat ja auch keinen Selbstmord begangen...


    Ich finde den Text einerseits sehr schlicht, gut verständlich geschrieben, habe aber andererseits das Gefühl, die Gedankengänge nicht nachvollziehen zu können. Er springt so...


    Zum Beispiel dieses:


    Zitat

    Über alle wesentlichen Probleme (...) gibt es wahrscheinlich nur zwei Denkweisen: die von La Palisse und die von Don Quijote.. Nur das Gleichgewicht von Evidenz und Begeisterung kann uns gleichzeitig Zugang zur Emotion und zur Klarheit verschaffen.


    Was soll das? Er stellt Vermutungen und Behauptungen in den Raum und macht sich nicht die Mühe, sie zu erläutern oder herzuleiten. Und er erklärt auch nicht wirklich, was das nun mit seinem eigentlichen Thema (Selbstmord) zu tun hat.


    Oder hier:

    Zitat

    Eine solche Tat [Selbstmord] bereitet sich in der Stille des Herzens vor, geradeso wie ein bedeutendes Werk. Der Mensch selbst weiß nichts davon. Eines Abend drückt er ab oder geht ins Wasser.


    Und das weiß Camus woher? Weil er mit lauter Selbstmödern gesprochen hat? Vielleicht gar nach ihrem Tod? Haha. Er stellt hier wieder eine Behauptung auf, ohne sie ausreichend mit Argumenten zu untermauern. Die Relativierung kommt dann auch zwei ABsätze später in Form eines Sternchens *


    Beide Beispiele stammen von Seite 12 meiner Ausgabe.


    Angesichts solcher Spekulationen sehe ich det Janze ein bisschen skeptisch. Mal sehen, ob der Herr Camus mich noch überzeugen wird...


    Was meint ihr denn?


    riff-raff: Ist das für den Anfang ein zufriedenstellendes Beispiel?


    Liebe Grüße
    Nightfever

  • Hallo zusammen,


    Zitat von "riff-raff"

    Mich hat vor allem Meursaults Wutanfall dem Priester gegenüber beschäftigt. So emotional wie in dieser Szene haben wir Meursault im Verlaufe des Romans noch gar nie kennen gelernt. Er wird sogar tätlich, packt den Priester am Kragen der Soutane und schüttelt ihn, die Wächter müssen einschreiten. Meist ist es doch so, dass wenn man in einem Streitgespräch die Stimme erhebt oder sogar handgreiflich wird, dann sind einem die nötigen Argumente ausgegangen oder man agiert aus der Defensive heraus. Meursault formuliert hier sein Credo, sein Glaubensbekenntnis, aber er tut es unbeherrscht und ausser sich vor Wut. Für mich untergräbt dieser Wutanfall irgendwie die Glaubwürdigkeit seiner Worte. Hat er wirkliche Erkenntnis erlangt wie er behauptet oder fürchtet er bloss, der Priester könne ihn in seinen mühsam erarbeiteten Gewissheiten wieder schwankend machen?


    Ich habe diese Situation etwas anders interpretiert. Der Prister nimmt im Vergleich zum Richter oder Anwalt eine Sonderstellung ein. Noch über den Tod hinaus hat er den Anspruch zu Missionieren, Meursault den Sinn über den Tod hinaus zuzusprechen, etc. Das muss jemanden wie Meursault m.M.n. in eine unangenehme Defensive drängen. Richter und Anwalt bsp. (auch Marie) lassen ja von ihm ab, weil er nicht reagiert, wie sie es erwarten. Jeder fällt sein Urteil und zieht daraus seine Schlüsse. Der Richter spricht letztlich das Todesurteil, welches Meursault akzeptiert. Der Priester will aber im Sinne "seiner Sache", seiner "Heilslehre" nicht ablassen, Meursault nicht akzeptieren. Ich denke, in diesem Moment hält Meursault wütend und entschieden dagegen, um seine Position, seine Erkenntnis zu bewahren.


    Zitat von "Maja"

    Und doch bewirkt sein Besuch offenbar etwas, eine Veränderung. Was geschieht da genau??


    (...) von Hoffnung entleert, öffnete ich mich angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum erstenmal der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt. (Interessant ist hier die Abwesenheit der Sonne, oder?)


    Ich interpretiere das Ende so, dass dort "nur" die befreiende Erkenntnis über das absurde Leben steht. Nicht mehr, nicht weniger. Diese Erkenntnis beinhaltet, dass es für Meusault nichts gibt, dessen sinngebender Bedeutung er sich annähern könnte - auch nicht im Sinne einer Umkehrung seiner Entfremdung: Keine Hoffnung auf irgendetwas! Keine Religion, keine bestimmte, andere vorgegebene Werte- oder Moralvorstellung. Er will sich weder verteidigen, um seine Tat zu "erklären", also für den Richter oder andere wenigstens ein bisschen sinnbehaftet erscheinen zu lassen, noch will er in einem Sinne bereuen, um dadurch "göttliche" Vergebung zu erlangen - an die er nicht glauben kann -, oder sogar einen höheren Sinn jenseits des menschlichen Lebens akzeptieren. Die Zurückweisung geglicher Hoffnungsansätze, ja jeder Hoffnung selbst. Ich bleibe dabei: Meursault bleibt seiner Umwelt entfremdet. Näher kommt er vielleicht allein sich selbst durch seine Erkenntnis. Vielleicht liegt in diesem Zustand die Zufriedenheit eines glücklichen Todes.


    Liebe Grüße,
    Michael


    PS.: Ich war in den letzten Tagen krank und etwas denk- und schreibfaul. Ich denke, dass es jetzt wieder bergauf geht. :smile:
    Ich fange jetzt auch mit dem Sisyphos an.

    Zitat

    Angesichts solcher Spekulationen sehe ich det Janze ein bisschen skeptisch. Mal sehen, ob der Herr Camus mich noch überzeugen wird...


    Und so skeptisch sehe ich die Sache ganz und gar nicht. :zwinker: