Juli 2004: Heinrich von Kleist: „Michael Kohlhaas“

  • Hallo zusammen,


    Michael hat geschrieben::
    Die Hoffnung, sich in einem solchen Obrigkeitsapparat, der auch für mich als Leser nur schwer durchschaubar zu sein scheint, durchzusetzen und sein Recht einzufordern, stirbt bekanntlich zuletzt. Auch dies scheint mir bereits ein Hinweis auf Kafka zu sein.
    Was meint ihr?


    Ja, die Parallele zwischen Josef K. und Michael K. ist eindeutig. Beide stehen einem undurchschaubaren Obrigkeitsapparat gegenüber, gegen den sie keine Chance haben.



    Cordula hat geschrieben:
    Kleist beschreibt das nicht, weil es für den weiteren Verlauf der Geschichte nicht von großer Wichtigkeit wäre.


    Ja, richtig, der Untertitel des „Michael Kohlhaas“ lautet ja „Aus einer alten Chronik“ und Kleist passt seine Sprache einer alten Chronik an, z.B. durch Rechtsbegriffe und Redewendungen aus dem 16. Jahrhundert. Ansonsten ist es ja ein Bericht, in der Orte, Namen und Zeitangaben genau gemacht werden, aber beschreibende oder ausmalende Element fehl am Platze sind. Durch diese Knappheit erhält die Sprache zwar einen herben Charakter, das muss aber nicht unlyrisch sein, zumindest nicht bei Kleist.



    Zwischenzeitlich ist ja der dritte Graf Kallheim aufgetaucht:


    1. Graf Kallheim, Erzkanzler im Fürstentum Brandenburg, verschwägert mit den Tronkas


    2. Graf Kallheim, Präsident der Staatskanzlei im Fürstentum Sachsen


    3. Graf Aloysius von Kallheim


    Sind die drei miteinander verwandt?


    Wenn nicht, warum hat Kleist hier gleiche Namen genommen?


    Liebe Grüße von Hubert


    PS: Im Forum „Gemeinsames Lesen –Chronik“ habe ich noch mal 2 Links zu Kleist`s Kohlhaas hinterlegt


  • Hallo an Alle,


    habs mittlerweile auch geschafft und gestern mit dem Kohlhaas angefangen. Bin gerade soweit gekommen, dass er seinen Hof verkauft.
    Heute hab ich zwar mehr Zeit zum Lesen, befürchte aber, dass ich Euch nicht mehr einholen werde...


    Zur Sprache Kleists kann ich bis jetzt aber schon sagen, dass er auf wenigen Seiten durch seine Satzkonstruktionen eine unglaubliche Dichte entstehen lässt. Kein Wort ist überflüssig und durch das Tempo der Erzählung kann man sehr gut die Eigendynamik nachempfinden, die sein Kampf gegen die "Obrigkeit" annimmt.


    Hubert: Du hast ja schon mal den Zusammenhang der sieben Knechte = sieben apokalyptische Reiter erwähnt. Ich hab mal gelesen, Kleist hat "Hans" Kohlhase zum "Michael" in Anlehnung an den Erzengel gemacht. Wie denkst Du darüber?


    Liebe Grüße
    WannaBe

  • Hallo zusammen,
    hallo WannaBe,


    Du hast gepostet:
    habs mittlerweile auch geschafft und gestern mit dem Kohlhaas angefangen. Bin gerade soweit gekommen, dass er seinen Hof verkauft.
    Heute hab ich zwar mehr Zeit zum Lesen, befürchte aber, dass ich Euch nicht mehr einholen werde...


    Schön, dass Du jetzt zusammen mit uns liest, also mich holst Du bestimmt noch ein, i.M. komme ich nämlich kaum zum Lesen.



    Zur Sprache Kleists kann ich bis jetzt aber schon sagen, dass er auf wenigen Seiten durch seine Satzkonstruktionen eine unglaubliche Dichte entstehen lässt. Kein Wort ist überflüssig und durch das Tempo der Erzählung kann man sehr gut die Eigendynamik nachempfinden, die sein Kampf gegen die "Obrigkeit" annimmt.


    Ja, das hast Du sehr schön beschrieben, danke.



    Hubert: Du hast ja schon mal den Zusammenhang der sieben Knechte = sieben apokalyptische Reiter erwähnt. Ich hab mal gelesen, Kleist hat "Hans" Kohlhase zum "Michael" in Anlehnung an den Erzengel gemacht. Wie denkst Du darüber?


    Dass Kleist den Kohlhase in Michael umgetauft hat, bezieht sich eindeutig auf den Erzengel. Später, nachdem Kohlhaas Leipzig in Brand gesteckt hat, wird er sich bezeichnen als, „einen Statthalter Michaels, des Erzengels, der gekommen sei, an allen, die in dieser Streitsache des Junkers Partei ergreifen würden, mit Feuer und Schwert, die Arglist, in welcher die ganze Welt versunken sei, zu bestrafen.“


    Und drei Seiten weiter wird ihm ein Cherubschwert vorangetragen, und zwölf Knechte , mit brennenden Fackeln folgen ihm. M.M.n. deutet das Cherubschwert auch auf den Erzengel Michael und die zwölf Knechte stehen für die zwölf Engel, die nach der Offenbarung des Johannes nach dem Weltuntergang die zwölf Tore des neuen Jerusalem bewachen (Kap. 21, Vers 12).



    Ganz am Anfang wird das Alter von Kohlhaas genannt, wer sich das jetzt nicht gemerkt hat, bitte nicht nachsehen, sondern mal schätzen wie alt de Kohlhaas ist. M.M.n. bezieht sich sein Alter nämlich auch auf eine Bibelstelle.


    Liebe Grüße von Hubert

  • Hallöchen,
    also die ganzen Anspielungen auf den Erzengel, die verstehe ich noch. Aber Hubert, ich bin leider nicht bibelfest...was meinst du für eine Bibelstelle, wegen Kohlhaasens Alter???? :redface:


    Ein großer Unterschied zu Josef K. ist, daß Kohlhaas doch eigentlich gar nicht versucht, irgendetwas zu ergründen bzw. K. gar nicht gemacht hat, oder. Aber das ist ein "zu weites Feld", erst wenn wir bei Kafka sind...


    Was haltet Ihr eigentlich von dem Luther Gespräch?
    Klar, es ist ein möglicher Wendepunkt in der Erzählung. Er hat Einfluß auf Kohlhaas und kann ihn zur Ruhe bringen.


    Aber: " Wenn Staatsdiener hinter seinem Rücken Prozesse unterschlagen, oder sonst seines geheiligten Namens, in seiner Unwissenheit, spotten; wer anders als Gott darf ihn wegen der Wahl solcher Diener zur Rechenschaft ziehen, und bist du, gottverdammteer und entsetzlicher Mensch, befugt, ihn deshalb zu richten?"


    Ist das nicht etwas einfach. Es ist doch gerade das Problem von Kohlhaas, daß die die Obrigkeit untereinander klüngelt. Und ein Kurfürst muß sich halt darum kümmern, wem er vertraut... DAS ist doch das PROBLEM.
    Später mehr
    LG Jacky

  • Zitat von "Jacky"

    Was haltet Ihr eigentlich von dem Luther Gespräch?
    Klar, es ist ein möglicher Wendepunkt in der Erzählung. Er hat Einfluß auf Kohlhaas und kann ihn zur Ruhe bringen.


    Aber: " Wenn Staatsdiener hinter seinem Rücken Prozesse unterschlagen, oder sonst seines geheiligten Namens, in seiner Unwissenheit, spotten; wer anders als Gott darf ihn wegen der Wahl solcher Diener zur Rechenschaft ziehen, und bist du, gottverdammteer und entsetzlicher Mensch, befugt, ihn deshalb zu richten?"
    Ist das nicht etwas einfach. Es ist doch gerade das Problem von Kohlhaas, daß die Obrigkeit untereinander klüngelt. Und ein Kurfürst muß sich halt darum kümmern, wem er vertraut... DAS ist doch das PROBLEM.


    Hallo zusammen,
    hallo Jacky,


    natürlich ist ein Kurfürst für sein Personal verantwortlich. Nur wenn das Personal Fehler macht, muss ich ja nicht gleich zum Amokläufer werden. Wenn jeder Deutsche, dem in den letzten 10 Jahren vor Gericht Unrecht widerfahren ist, eine Stadt niedergebrannt hätte, gäbe es keine Städte mehr in Deutschland. Und ob man den Justizminister oder gar den Bundeskanzler für Fehler von einzelnen Staatsanwälten und Richtern verantwortlich machen kann, wage ich zu bezweifeln.


    Luther argumentiert hier in dem angeführten Zitat im Sinne des absolutistischen Gottesgnadentum und spricht folgerichtig dem Kohlhaas das Recht ab, den Kurfürsten zur Rechenschaft zu ziehen. Nur Gott darf i.d.S. den Kurfürsten zur Rechenschaft ziehen.


    Allerdings beruft sich ja auch Kohlhaas, als Statthalter des Erzengels darauf, „Gott allein unterworfen“ zu sein, und damit nimmt er ja Luthers Position, in Luthers religiösem Kampf, ein. Symbolisiert wird dies dadurch, dass Kohlhaas sein Mandat in Wittenberg an die Kirchentür klebt. Kohlhaas dehnt diese Position allerdings vom Religiösen auf das Weltliche aus, indem er sein Mandat beim zweitenmal an die Ecken des Rathauses heftet..


    Kleist hat in dem Luthergespräch eindrucksvoll dargestellt, wie zwei Menschen aneinander vorbeireden. Während Kohlhaas vom Naturrecht des Menschen spricht, redet Luther von absolutistischem Gottesgnadentum. So ist natürlich keine Verständigung zwischen beiden möglich, da nach Kohlhaas’ Rechtsauffassung Luthers Haltung die Gerechtigkeit untergräbt. Luther verlangt von Kohlhaas dass er Kompromisse eingeht und „um seines Erlösers willen, dem Junker vergibt“ Für Kohlhaas, dessen Rechtsgefühl „einer Goldwaage glich“, der sogar in „der Tugend der Gerechtigkeit ausschweifte“ ist das natürlich unmöglich.


    Kleist hat sich da wirklich ein schweres Thema vorgenommen und er hat es m.M.n. gut gemeistert. Für mich ist der "Kohlhaas", einer der wichtigsten Texte deutscher Sprache, und wie Terroristen und Amokläufer immer wieder beweisen, ein ewig modernes Thema.


    Liebe Grüße


    Hubert


    PS: Bilder wie "ein Rechtsgefühl, das einer Goldwaage glich" oder ein Mann "der in einer Tugend ausschweift" finde ich übrigens entgegen Thomas Manns Meinung sehr poetisch.

  • Hallo zusammen,
    hallo Hubert,


    Zitat

    [...]natürlich ist ein Kurfürst für sein Personal verantwortlich. Nur wenn das Personal Fehler macht, muss ich ja nicht gleich zum Amokläufer werden. Wenn jeder Deutsche, dem in den letzten 10 Jahren vor Gericht Unrecht widerfahren ist, eine Stadt niedergebrannt hätte, gäbe es keine Städte mehr in Deutschland. Und ob man den Justizminister oder gar den Bundeskanzler für Fehler von einzelnen Staatsanwälten und Richtern verantwortlich machen kann, wage ich zu bezweifeln.


    Häuser anzünden, das ist natürlich keine Lösung, egal für welches hohe Ziel auch immer. Bleibt die Frage nach dem "Verantwortlichen". Ist es der Kurfürst, weil er für sein Personal einzustehen hat? Ist es das Personal, weil hier Fehler gemacht wurden? Oder ist es Kohlhaas, der unangemessene Mittel einsetzt, um seinem "Naturrecht" Geltung zu verschaffen?
    Diese Fragen führen m.M.n. zur Betrachtung solcher korporativer Systeme selbst. Luther argumentiert, dass der Kurfürst nicht vom Unrecht wisse, das Kohlhaas wiederfahren sei. Das ist zwar richtig, aber was hätte Kohlhaas tun sollen. Bei den wiederholten Versuchen sein Recht innerhalb des weltlichen Systems einzufordern, ist er letztlich in den Strukturen selbst "steckengeblieben". Er wird nicht angehört, bis er durch seine Gewalt auf sich aufmerksam macht. Seine Frau kommt bei dem Versuch zum Kurfürsten zu gelangen sogar ums Leben. Letzteres mag literarisch übersteigert wirken, erinnert aber dennoch an die Odyssee durch die Instanzen eines Obrigkeitssystems, wie es Kleist darstellt und wie es uns ja auch nicht fremd ist. Die Hilflosigkeit, der Unmut und das Gefühl von Sinnlosigkeit fallen auf, die entstehen, während die einzelnen Personen als Individuen zu Beginn versuchen, sich durch die obrigkeitsstaatlichen Strukturen hindurch Gehör zu verschaffen.
    Auch das ist für mich ein sehr aktuelles Thema, das Kleist im Michael Kohlhaas sehr gut darstellt.


    Kohlhaas, scheitert zu Beginn damit, innerhalb des geltenden Rechtssystems sein Recht zugesprochen zu bekommen. Er stellt sich selbst außerhalb des Systems und nimmt als "Statthalter des Erzengels" göttliches Recht für sich in Anspruch, das ihm Luther im Gespräch verweigert, weil nur Gott allein Richter sein könne. Luther geht noch weiter, er verweigert ihm vorerst sogar dafür die heiligen Sakramente.


    Zitat

    Kleist hat in dem Luthergespräch eindrucksvoll dargestellt, wie zwei Menschen aneinander vorbeireden. Während Kohlhaas vom Naturrecht des Menschen spricht, redet Luther von absolutistischem Gottesgnadentum. So ist natürlich keine Verständigung zwischen beiden möglich, da nach Kohlhaas’ Rechtsauffassung Luthers Haltung die Gerechtigkeit untergräbt.


    Was Luther von Kohlhaas verlangt, ist, die weltliche Schmach zu ertragen, in Erfüllung eines höheren Rechts, in dem nur Gott allein als Richter auftreten kann. Allerdings ist das m.M.n. kein Kompromiss, sondern eine Unterordnung, die aus der Sicht des Theologen im weltlichen Diesseits hingenommen werden muss, in der Hoffnung auf die göttliche Gnade.
    Ich glaube auch, Hubert, dass beide aneinander vorbeireden, weil sie in ganz unterschiedlichen Rechtskategorien denken.
    Es treffen offenbar an dieser Stelle verschiedene Rechtsauffassungen aufeinander.


    Zitat

    Während Kohlhaas vom Naturrecht des Menschen spricht, redet Luther von absolutistischem Gottesgnadentum.


    Zu diesen beiden Standpunkten kommt die Auffassung hinzu, dass in weltlichen Rechtssystemen zwar Recht gesprochen werden muss, aber dabei nicht immer Gerechtigkeit herauskommt. Das eine ist ein weltlich juristischer Aspekt, der von Kohlhaas den Tod verlangt, weil er in seinen Gewalttaten geltendes Recht brach. Von Gerechtigkeit für seine Frau Elisabeth, die bei der Auseinandersetzung allerhöchstens göttlicher Gnade teilhaftig wird, kann in weltlichen Belangen wohl kaum gesprochen werden, oder?


    Grüße von Michael

  • Hallo liebe Mitleser,


    ich bin gerade mitten im Luthergespräch und stehe immer mehr auf Kohlhass' Seite.


    Natürlich darf man nicht zur Selbstjustiz greifen, aber Kohlhaas wäre nicht zum Mordbrenner geworden, hätte man ihm den Junker ausgeliefert. Stattdessen wird er wieder getäuscht (und die Bürger von Wittenberg auch). Soll er sich da noch auf Gottesgnadentum verlassen und die Schmach ohne Rachegedanken ertragen? Das ist von einem Menschen wohl etwas viel verlangt.


    Er ist ja sogar immer noch bereit, von Tronka von einem Gericht verurteilen zu lassen, und diese Strafe wäre sicher nur materieller Natur.


    Zur Altersfrage: ich glaube, es hieß er sei "im dreißigsen Jahr". Mit meiner Bibelfestigkeit haperts aber auch... :zwinker:


    Schönes Wochenende wünsch ich Euch
    Grüße
    WannaBe

  • Hallo an alle,


    ich habe die Erzählung jetzt zu Ende gelesen. Wie weit seid ihr?


    Ich glaube, daß das Dilemma, welches darin besteht, was man tun kann und darf, wenn man an die legalen rechtlichen Grenzen stößt, um sein Recht durchsetzen zu können, von Kleist sehr gut beschrieben wird. Als ich die Erzählung gelesen habe, habe ich natürlich zunächst mit Kohlhaas mitgefühlt. Die Feinde von Kohlhaas werden ja auch wirklich als korrupte Rechtsbrecher schlechthin dargestellt. Kleist stellt Kohlhaas als zum einem als Opfer von Manipulation und Willkür dar. Auf der anderen Seite kritisiert der Erzähler Kohlhaases Verhalten aber mehrmals. Der einleitende Satz beschreibt Michael Kohlhaas ja als einen „der rechtschaffendsten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“. Die einzige Möglichkeit die Kohlhaas hat, um zu seinem Recht zu kommen, ist Gewalt. Diese Gewalt an Unschuldigen ist aber trotzdem ein Unrecht. Diese Paradoxie finde ich, wird auch von der Erzählweise unterstützt. Zum einem wird es einem leicht gemacht, die Ohnmacht von Kohlhaas nachzuvollziehen, auf der anderen Seite wird aber beständig darauf hingewiesen, daß Kohlhaases agressives Verhalten nicht richtig ist. Am Ende wird er ja dafür dann auch hingerichtet. Und das obwohl er „Recht schaffend“ war, denn der Junker wird ja verurteilt.


    Liebe Grüße


    Cordula

  • Hallo zusammen,
    hallo WannaBe,


    Zitat

    Soll er sich da noch auf Gottesgnadentum verlassen und die Schmach ohne Rachegedanken ertragen? Das ist von einem Menschen wohl etwas viel verlangt.


    Verstehen kann ich sein Aufbegehren schon. Was soll er schon tun? Auch ich hielte es an seiner Stelle wohl gerade nicht allein mit göttlicher Gnade, etc. Aber Mordbrennen?
    Was ich ausdrücken wollte war eher, dass dies ein generelles Dilemma ist. Für ihn ist zu diesem Zeitpunkt eigentlich beides keine Lösung. Die weltliche Schuld erkennt er ja ohne Zweifel schon vor Luther an, sich allein göttlicher Gande anvertrauen, das möchte er auch nicht. Also verweigert ihm Luther die Sakramente an dieser Stelle. Was bleibt ihm? Das ist ein recht modernes Problem oder?


    Eigentlich mag ich den Kohlhaas gerade wegen dieser absurden Spannung, in der er leben und sich entscheiden muss. Das macht die Erzählung auch heute noch sehr reizvoll, finde ich.


    Zitat

    ich habe die Erzählung jetzt zu Ende gelesen. Wie weit seid ihr?


    Ich bin auch fertig, Cordula. :smile:


    Schönes Wochenende und liebe Grüße
    Michael

  • Hallo zusammen,


    ich bin noch nicht ganz fertig. Habe gerade die Zigeunerin-Episode gelesen. Meiner Meinung nach eine sehr interessante Stelle. Der Erzählfluß der Chronik wird hier unterbrochen, ich glaube daß es der einzige Rückblick in der Erzählung ist. Ein faszinierendes Machtspiel zeichnet sich hier ab. Kohlhaas hat die ganze Zeit ein Machtinstrument in der Hand gehabt...


    Natürlich ist Kohlhaas kein Vorbild, das wird schon in den ersten Sätzen geklärt. Ich glaube diese Erzählung zeigt sehr eindringlich was auf einem rechtschaffenden Menschen werden kann, wenn er zur Verzweiflung getrieben wird. In Berlin gibt es zur Zeit einen Film, der sich mit einem ähnlichen Thema- Selbstjustiz befaßt (Muxmäuschenstill). Der Erzähler steht auch eher auf Kohlhaasens Seite, so ist oft vom "armen" Kohlhaas zu lesen.


    Hallo Hubert, was ist denn nun mit der Bibelstelle (30 Jahre???) wo muß ich suchen????


    Ich glaube, daß diese ganzen Kallheims sehr deutlich zeigen, daß die Verschwägerungen über die Grenzen hinaus allgegenwärtig waren.


    Viele Grüße jacky

  • Zitat von "Michael"

    Häuser anzünden, das ist natürlich keine Lösung, egal für welches hohe Ziel auch immer. Bleibt die Frage nach dem "Verantwortlichen". Ist es der Kurfürst, weil er für sein Personal einzustehen hat? Ist es das Personal, weil hier Fehler gemacht wurden? Oder ist es Kohlhaas, der unangemessene Mittel einsetzt, um seinem "Naturrecht" Geltung zu verschaffen?
    Diese Fragen führen m.M.n. zur Betrachtung solcher korporativer Systeme selbst. Luther argumentiert, dass der Kurfürst nicht vom Unrecht wisse, das Kohlhaas wiederfahren sei. Das ist zwar richtig, aber was hätte Kohlhaas tun sollen. Bei den wiederholten Versuchen sein Recht innerhalb des weltlichen Systems einzufordern, ist er letztlich in den Strukturen selbst "steckengeblieben". Er wird nicht angehört, bis er durch seine Gewalt auf sich aufmerksam macht. Seine Frau kommt bei dem Versuch zum Kurfürsten zu gelangen sogar ums Leben. Letzteres mag literarisch übersteigert wirken, erinnert aber dennoch an die Odyssee durch die Instanzen eines Obrigkeitssystems, wie es Kleist darstellt und wie es uns ja auch nicht fremd ist. Die Hilflosigkeit, der Unmut und das Gefühl von Sinnlosigkeit fallen auf, die entstehen, während die einzelnen Personen als Individuen zu Beginn versuchen, sich durch die obrigkeitsstaatlichen Strukturen hindurch Gehör zu verschaffen.
    Auch das ist für mich ein sehr aktuelles Thema, das Kleist im Michael Kohlhaas sehr gut darstellt.


    Hallo zusammen,
    hallo Michael!


    Ja richtig, ein sehr aktuelles Thema, traurigerweise. Erstaunlich ist für mich, dass wir sehr leicht bereit sind, Verständnis für Kohlhaas aufzubringen, aber bei jedem Amokläufer oder Terroristen, sind wir sofort bereit zu Verurteilen, ohne auch nur nach den Gründen zu fragen (ich verallgemeinere hier mal, um eine Diskussion anzuregen).


    Warum hat Kohlhaas seine Frau nach Berlin geschickt und ist nicht den Weg über seinen Freund den Stadthauptmann Heinrich von Geusau gegangen, der ja später die Absetzung des ungerechten Erzkanzlers Graf Kallheim erreicht?
    Warum hat Kohlhaas nachdem ihm in Sachsen kein Recht erteilt wurde, nicht direkt den Kontakt zu Luther gesucht, bevor er Burgen und Städte angezündet und Menschen ermordet hat. Luther hat ja selbst nach Kohlhaas Verbrechen eine Wiederaufnahme des Verfahrens erreicht, wie viel leichter wäre das vorher gelungen?


    Von Gerechtigkeit für seine Frau Elisabeth, die bei der Auseinandersetzung allerhöchstens göttlicher Gnade teilhaftig wird, kann in weltlichen Belangen wohl kaum gesprochen werden, oder?


    Na ja, Kohlhaas Frau war ja nicht schuldlos an ihrem Unglück. Sie hatte sich „zu dreist an die Person des Landesherrn vorgedrängt, und, ohne Verschulden desselben, von dem bloßen rohen Eifer einer Wache, die ihn umringte, einen Stoß, mit dem Schaft einer Lanze, vor die Brust erhalten.“ Also in heutiger Sprache: Einer der Bodyguards des Kurfürsten, hatte eine Person, die sich widerrechtlich dem Kurfürsten näherte, erfolgreich abgewehrt. Das ist die Aufgabe eines Bodyguards, der nicht abwarten kann, ob die Person mit einem Messer auf den Kurfürsten einsticht oder nur einen Brief übergeben will. Dieser Vorfall ist m.M.n. nicht mal als fahrlässige Körperverletzung mit Todesfolgen zu werten, sondern als Unfall.



    Verstehen kann ich sein Aufbegehren schon. Was soll er schon tun? Auch ich hielte es an seiner Stelle wohl gerade nicht allein mit göttlicher Gnade, etc. Aber Mordbrennen?
    Was ich ausdrücken wollte war eher, dass dies ein generelles Dilemma ist. Für ihn ist zu diesem Zeitpunkt eigentlich beides keine Lösung. Die weltliche Schuld erkennt er ja ohne Zweifel schon vor Luther an, sich allein göttlicher Gande anvertrauen, das möchte er auch nicht. Also verweigert ihm Luther die Sakramente an dieser Stelle.


    Nur, damit kein falsches Lutherbild entsteht: In Wirklichkeit war Luther ein sehr verständlicher und versöhnlicher Mensch und der historische Luther hat dem historischen Kohlhaas auch die Sakramente gegeben. Kleist hat das allerdings um der Diskussion willen, abgeändert.


    Gruß von Hubert

  • Zitat von "WannaBe"

    Er ist ja sogar immer noch bereit, von Tronka von einem Gericht verurteilen zu lassen, und diese Strafe wäre sicher nur materieller Natur.


    Hallo zusammen,
    hallo WannaBe,


    zu diesem Zeitpunkt hat Kohlhaas aber schon folgendes angerichtet:


    - ein ganzes Schloss bis auf die Mauern niedergebrannt, wobei u.a. der Schlossvogt und der Verwalter mit Weib und Kindern getötet wurden und Kohlhaas selbst, „beim Eintritt in den Saal, einen Junker Hans von Tronka (hatte der was mit der Sache zu tun?), der ihm entgegen kam, bei der Brust fasste, und in den Winkel des Saals schleuderte, dass er sein Hirn an den Steinen versprützte, ..“


    - Dreimal Wittenberg in Brand gesetzt, wobei allein beim letzten Mal 42 Häuser (was hatten die Bewohner dieser Häuser mit der Sache zu tun?), Schulen und andere öffentliche Gebäude in Schutt und Asche gelegt wurden.


    - Die Stadt Leipzig an drei Seiten in Brand gesteckt.


    Wegen zwei gestohlener Pferde?



    Zur Altersfrage: ich glaube, es hieß er sei "im dreißigsen Jahr". Mit meiner Bibelfestigkeit haperts aber auch...


    Ja klar, ich hatte ja die Stelle wo das steht noch angegeben, mir ging es aber eher um eure Schätzung, hättet ihr den Kohlhaas ohne diese Angabe wirklich erst auf 30 geschätzt. Er hat immerhin 5 Kinder (damals wurde nicht so früh geheiratet), wobei auch das jüngste kein Wickelkind mehr ist, er ist ein gestandener Geschäftsmann, der schon siebzehnmal die Grenze nach Sachsen überschritten hat (wahrscheinlich immer zur Leipziger Messe?), eine Führungspersönlichkeit, dem es gelingt innerhalb kurzer Zeit, vierhundert Männer um sich zu versammeln, die bereit sind gegen die Obrigkeit zu kämpfen und es gelingt ihm auch ausgebildetes Militär zu schlagen.


    Liebe Grüße


    Hubert

  • Zitat von "Cordula"

    Die Feinde von Kohlhaas werden ja auch wirklich als korrupte Rechtsbrecher schlechthin dargestellt. Kleist stellt Kohlhaas als zum einem als Opfer von Manipulation und Willkür dar. Auf der anderen Seite kritisiert der Erzähler Kohlhaases Verhalten aber mehrmals.


    Hallo zusammen,
    hallo Cordula,


    Die Feinde von Kohlhaas sind aber doch nur die Tronkas?. Weder im Fürstentum Sachsen (der Kurfürst, der Prinz von Meißen, der Graf Wrede sind m.M.n. rechtschaffende Leute) noch im Fürstentum Brandenburg (der Kurfürst wird als gerechter Landesfürst dargestellt) herrscht ein Unrechtsystem. Wieso kämpft Kohlhaas gegen die Bewohner von Wittenberg und Leipzig und tötet Unschuldige?


    Liebe Grüße


    Hubert

  • Zitat von "Jacky"

    Hallo Hubert, was ist denn nun mit der Bibelstelle (30 Jahre???) wo muß ich suchen


    Hallo zusammen,
    hallo Jacky!


    Wie schon weiter oben erläutert interessiert mich zunächst mal wie alt ihr den Kohlhaas geschätzt hättet, ohne die Altersangabe von Kleist?


    Ich glaube, daß diese ganzen Kallheims sehr deutlich zeigen, daß die Verschwägerungen über die Grenzen hinaus allgegenwärtig waren.


    Ja, tatsächlich sind ja nur die Tronkas (da auch nur Wenzel und Kunz) die Bösen und die mit den Tronkas verschwägerten Kallheims helfen ihnen (eigentlich aber auch nur der Graf Kallheim in Brandenburg, der Kallheim in Sachsen ist m.M.n. neutral)


    Die verwandtschaftlichen Beziehungen sind m.M.n. von Kleist verwirrend dargestellt:


    Zunächst gibt es den Landdrost Graf Aloysius von Kallheim. Der hat zwei Kinder, Den Graf Kallheim, der Präsident der Staatskanzlei im Fürstentum Sachsen ist (und später von dem Kämmerer Kunz von Tronka in diesem Amt abgelöst wird) und eine Tochter Heloise, die mit dem Kämmerer Kunz von Tronka verheiratet ist. Somit ist dieser Graf on Kallheim, der aber m.M.n. Kohlhaas neutral gegenüber steht mit den Tronkas verschwägert.
    Dann gibt es noch den Graf Kallheim, der Erzkanzler im Fürstentum Brandenburg ist, angeblich soll der auch mit den Tronkas verschwägert sein, wie bleibt aber offen?. Dieser wird später von Heinrich von Gensau im Amt abgelöst, stirbt darauf und vererbt an Heloise. Warum?


    Viele Grüße


    Hubert

  • Hallo an Alle :winken:


    Bin heute mit dem Kohlhaas fertig geworden.


    Die Geschichte und vor allen Dingen auch der Schluß beeindruckt mich schon sehr. Werde sicher auch noch ein paar Tage über alles grübeln müssen, bis ich mir eine endgültige Meinung über Kohlhaas' Verhalten gemacht habe.


    Eigentlich dachte ich, er wäre mit der Verurteilung Tronkas restlos zufrieden, die Pferde sind wieder dickgefüttert, Tronka mit zwei Jahren Gefängnis bestraft. Dafür nimmt er auch anscheinend bereitwillig seine eigene Strafe hin - um im letzten Augenblick die Prophezeiung an den Kurfürst von Sachsen zu vernichten. Hätte er sie ihm übergeben, sozusagen als Zeichen guten Willens, wäre er nicht fast wie ein Märtyrer zum Schafott gegangen? Wie denkt Ihr darüber?


    Ausserdem rätsle ich noch an der Nachricht, die Kohlhaas vom Kastellan erhält, als er aus dem Gefängnis tritt - ist die Zigeunerin wirklich mit Elisabeth verwandt, trägt sie zufällig den gleichen Namen oder ist das Weib eine Erscheinung aus dem Jenseits?


    Um nochmal auf die Altersfrage zu kommen: dass man Kohlhaas aus heutiger Sicht wahrscheinlich älter schätzt, liegt m. E. daran, dass unsere Generation sehr viel später mit der Ausbildung fertig ist. Ein Dreißigjähriger arbeitet im Schnitt nach Abitur und Studium vielleicht mal seit fünf Jahren (zumindest in meinem Bekanntenkreis


    :elch: ), hat gerade geheiratet und setzt statistisch gesehen mit 33 sein erstes Kind in die Welt. Mitte des 16. Jahrh. war es sicher eher die Regel, mit zwölf Jahren als Knecht oder Magd eingestanden zu sein, oder mit 15 einem Söldnerheer beizutreten. Die Lebenserwartung war ja auch nicht so
    berauschend hoch.


    Hubert hat geschrieben: Die verwandtschaftlichen Beziehungen sind m.M.n. von Kleist verwirrend dargestellt.
    Ja, trotz mehrmaligen Lesens der Stellen, die die Grafen Kallheim betreffen, werde ich nicht so ganz schlau daraus, besonders das Verhältnis zu Heloise ist so undurchsichtig. Ich glaube, zum Kohlhaas schon mal einen Reclam Lektüreschlüssel gesehen zu haben, könnte der sowas erklären?


    Bin schon sehr gespannt auf die abschließende Diskussion
    Grüße
    WannaBe

  • Hallöchen an Alle,
    ich habe auch fertig :zwinker:
    In der Altersfrage stimme ich WannaBe vollkommen zu, sehr schön erklärt. Von seiner Art her ist man allerdings schnell verleitet den Kohlhaas älter zu schätzen.


    Zitat

    Eigentlich dachte ich, er wäre mit der Verurteilung Tronkas restlos zufrieden, die Pferde sind wieder dickgefüttert, Tronka mit zwei Jahren Gefängnis bestraft. Dafür nimmt er auch anscheinend bereitwillig seine eigene Strafe hin - um im letzten Augenblick die Prophezeiung an den Kurfürst von Sachsen zu vernichten. Hätte er sie ihm übergeben, sozusagen als Zeichen guten Willens, wäre er nicht fast wie ein Märtyrer zum Schafott gegangen? Wie denkt Ihr darüber?


    Ich glaube Kohlhaas ist zufrieden, daß ihm recht geschehen ist. Nach seiner Rechtsauffassung muß er aber auch sein Unrecht anerkennen. Das finde ich schon korrekt, ich glaube, daß er auch fast wie ein Märtyrer stirbt, er hat die Massen wieder auf seiner Seite, oder nicht? Und dem Kurfürsten die Prophezeihung geben ... niemals.


    Lieber Hubert, ich bin auch nicht der Meinung, daß der Kurfürst von Sachsen positiv geschildert wird. Der Prinz von Meißen schon eher. Sein andauerndes Ohnmächtig werden ist schon fast lächerlich, außerdem ist er meiner Meinung nach sehr willkürlich. Aber ich werde noch mal nachschauen, ob mich mein Eindruck täuscht.


    Die Zigeunerin, ist eine Geschichte für sich. Es mutet fast so an, als wäre sie Kohlhaas`s Frau, aber...da steckt noch mehr hinter. Durch diese Geschichte entsteht eine erneute Wendung in der Erzählung.


    Jaaaaa, Kohlhaas ist schon kein Netter.


    Zitat

    Erstaunlich ist für mich, dass wir sehr leicht bereit sind, Verständnis für Kohlhaas aufzubringen, aber bei jedem Amokläufer oder Terroristen, sind wir sofort bereit zu Verurteilen, ohne auch nur nach den Gründen zu fragen (ich verallgemeinere hier mal, um eine Diskussion anzuregen).


    good point :breitgrins:
    Ich glaube das hängt damit zusammen, daß man es literarisch sieht und auch wie der Erzähler bewertet. Andererseits glaube ich kaum, daß Kohlhaas etwas hätte ausrichten können. Und wo wären wir heute ohne die franz. Revolution??? :breitgrins:


    So nun hab ich erstmal meinen Gedankenmüll abgeladen :zwinker:


    liebe Grüße Jacky

  • Ach so und Hubert,
    was ist denn nun mit dem Alter?????? Willst Du, daß wir doof sterben? :rollen:
    Ich habe wirklich absolut null Ahnung, was an der dreissig biblisch ist.


    Viele Grüße Jacky

  • Zitat von "WannaBe"

    Um nochmal auf die Altersfrage zu kommen: dass man Kohlhaas aus heutiger Sicht wahrscheinlich älter schätzt, liegt m. E. daran, dass unsere Generation sehr viel später mit der Ausbildung fertig ist.
    Die Lebenserwartung war ja auch nicht so
    berauschend hoch.


    Hallo zusammen,
    hallo WannaBe,


    vielen Dank, dass Du dir Gedanken zu meiner Frage gemacht hast. Allerdings kann ich mich Dir nicht anschließen. Bei meinen Überlegungen, dass Kohlhaas eigentlich älter sein müsste als dreißig, bin ich nicht von heutigen Verhältnissen ausgegangen, sondern z.B. davon, dass Kohlhaas ein gestandener Geschäftsmann ist, mit Grundstücken in verschiedenen Ländern, ein Freund des Amtmanns und sogar des Stadthauptmanns, der wenig später sogar Erzkanzler des Kurfürstentums Brandenburg wird, - und das mit 30 Jahren?
    Gut ich weiß nicht genau mit wie viel Jahren man im 16. Jahrhundert geheiratet hat, der Adel sicher sehr früh, aber der Rest? Ich hatte mich an Grimmelshausen erinnert, weil ich mich gerade mit dem beschäftigt hatte, der hat mit 28 Jahren geheiratet und hatte mit 30 sicher noch keine 5 Kinder, obwohl später sogar noch viel mehr, allerdings das war 17. Jahrhundert.


    Was die Lebenserwartung betrifft, da darf man sich nicht täuschen:
    Martin Luther lebte von 1483 bis 1546
    Hans Sachs von 1494 bis 1576, der wurde 81 Jahre alt
    Cervantes lebte von 1547 bis 1616
    Also m.M.n. wurden die Menschen damals genau so alt wie heute, wenn sie erst mal das erste Lebensjahr überlebt hatten. Man darf bei solchen durchschnittlichen Lebenserwartungsvergleichen nicht vergessen, dass die Leute damals im Durchschnitt zehn Kinder hatten, und davon die Hälfte, das erste Lebensjahr nicht überlebte. Das heißt, um auf eine durchschnittliche Lebenserwartung von 45 Jahren zu kommen, musste der Rest 90 werden.




    Zitat


    Hubert hat geschrieben: Die verwandtschaftlichen Beziehungen sind m.M.n. von Kleist verwirrend dargestellt.
    Ja, trotz mehrmaligen Lesens der Stellen, die die Grafen Kallheim betreffen, werde ich nicht so ganz schlau daraus, besonders das Verhältnis zu Heloise ist so undurchsichtig.


    Ich glaube, ich habe das geklärt. Kleist hatte die Erzählung erst einfacher angelegt. Z.B. ist bei der Erstveröffentlichung in einer Zeitschrift Kohlhaas Frau nicht nach Berlin, sondern nach Dresden gereist, die ganze Erzählung war also der Kampf zwischen Kohlhaas und Adligen, Gericht usw. des Kurfürstentums Sachsen. Damit das ganze aber nicht so nach Zufall aussieht, sondern als allgemeingültig verstanden werden kann, hat Kleist bevor die Erzählung in Buchform veröffentlicht wurde, alles verdoppelt, also Abweisung vor dem Gericht in Dresden und in Berlin usw. Folgerichtig hat er auch neben dem Graf Kallheim in Sachsen, der mit den Tronkas verschwägert war, auch einen Graf Kallheim in Brandenburg geschaffen, der ebenfalls mit den Tronkas verschwägert war. Allerdings hat er als er die Familienverhältnisse erklärte, dass nämlich der Graf Kallheim aus Dresden ein Bruder der Heloise (Frau des Kunz von Tronka) ist, nicht mehr extra erwähnt, dass der Graf Kallheim aus Berlin auch ein Bruder der Heloise ist. Denkt man sich das dazu, dann ist der Fall geklärt und auch klar, warum Heloise den Kallheim aus Berlin beerbt. Also der Graf Aloysius von Kallheim hat drei Kinder, Heloise und die 2 Grafen Kallheim.


    Gruß von Hubert

  • Zitat von "Jacky"

    Lieber Hubert, ich bin auch nicht der Meinung, daß der Kurfürst von Sachsen positiv geschildert wird. Der Prinz von Meißen schon eher. Sein andauerndes Ohnmächtig werden ist schon fast lächerlich, außerdem ist er meiner Meinung nach sehr willkürlich. Aber ich werde noch mal nachschauen, ob mich mein Eindruck täuscht.


    Hallo zusammen,
    hallo Jacky,


    ich habe nicht gesagt, oder das zumindest nicht gemeint, dass der Kurfürst von Sachsen positiv geschildert wird, sondern dass er kein Unrechtsherrscher war. Wäre er das gewesen, hätte ja der Wenzel von Tronka nicht seine gerechte Strafe erhalten. Dass der dauernd in Ohnmacht fällt, hat mich auch genervt. Übrigens war der historische Kurfürst zu der Zeit Johann Friedrich I, und der hatte den Beinamen, der Großmütige.



    good point
    Ich glaube das hängt damit zusammen, daß man es literarisch sieht und auch wie der Erzähler bewertet. Andererseits glaube ich kaum, daß Kohlhaas etwas hätte ausrichten können. Und wo wären wir heute ohne die franz. Revolution???


    Der Erzähler bewertet m.M.n. den Kohlhaas eher kritisch?
    Im Gegensatz zu Kohlhaas, der um sein eigenes Recht kämpft und dabei unschuldiges Blut vergießt, kämpften die Revolutionäre der franz. Revolution, zumindest am Anfang für die Allgemeinheit und gegen einen Klassenfeind.
    In dem Buch „Kleists Kohlhaas, - Ein deutscher Traum vom Recht auf Mordbrennerei“ habe ich folgendes Zitat des RAF-Terroristen Holger Meins gefunden:


    „Entweder Schwein oder Mensch
    Entweder Überleben um jeden Preis
    oder Kampf bis zum Tod
    Entweder Problem oder Lösung
    Dazwischen gibt es nichts.


    Dazu folgender Begleittext: ...wie Kohlhaas sich, obwohl Muster eines guten Staatsbürgers, als Hund behandelt fühlte und im Austritt aus der Gesellschaft sein Menschsein zurückgewinnen wollte, erschien den Terroristen des deutschen Herbstes der ins System integrierte wie der von ihm unterdrückte Mensch als Tier."


    Wer nicht weiß, wer Holger Meins war:
    http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Holger_Meins.html

    Gruß von Hubert

  • Zitat von "Jacky"

    Ach so und Hubert,
    was ist denn nun mit dem Alter?????? Willst Du, daß wir doof sterben? :rollen:
    Ich habe wirklich absolut null Ahnung, was an der dreissig biblisch ist.


    Viele Grüße Jacky


    Liebe Jäcky,


    keineswegs will ich euch Wissen vorenthalten, mir ging es halt wirklich darum erst eure Meinung zu Kohlhaas Alter zu hören. Wenn ihr aber alle der Meinung seit, dass mit den 30 Jahren ist okay, dann kann es ja auch Zufall sein, obwohl bei Kleist eigentlich nichts Zufall ist.
    Anschließend also einen Auszug aus meiner mit Berch geführten Diskussion (Berchs Erlaubnis habe ich eingeholt) zu diesem Thema außerhalb des Forums, aus dem ihr seht, welchen biblischen Bezug ich gesehen hätte, wenn Kleist, das Alter bewusst gesetzt hätte.


    Zitat

    Hallo Berch,


    danke für Deine Antwort. Deine Gedankengänge zu Jesus Alter sind genau richtig. Mich hat die Stelle im Kohlhaas "Dieser außerordentliche Mann würde, bis in sein dreißigstes Jahr ...." an das Lukasevangelium Kap. 3 Vers. 23 erinnert, wo es heißt: " Und Jesus war, als er auftrat, etwa dreißig Jahre alt ...". Das kann natürlich auch Zufall sein, gerade wenn Du den Kohlhaas wirklich erst auf 30 geschätzt hast. Ich hätte ihn nämlich ohne die Angaben im Buch wesentlich älter geschätzt. Gut die 5 kleinen Kinder - aber m.W's hat man damals ja nicht so früh geheiratet und fünf Kinder, wobei das kleinste ja auch kein Wickelkind mehr war, aber vor allem ist er schon 17 Mal über die brandenburgisch/sächsische Grenze gereist, und falls er immer nur zur Leipziger Messe gereist ist? Und kann man mit 30 schon eine Terrorgruppe von über 100 Mann leiten, die eine Stadt wie Leipzig angreift? Das waren meine Gedanken und wenn die richtig gewesen wären, dann wäre es halt kein Zufall, dass Kohlhaas 30 ist, sondern bewußt von Kleist so gesetzt. Mal sehen, was die anderen sagen.


    Gruß von Hubert


    @all
    Ist es für euch okay, wenn wir den Rest der Woche noch über Kohlhaas diskutieren und dann am Wochenende mit Kafka beginnen. Ihr macht doch hoffentlich noch alle mit beim Kafka?


    Gruß von Hubert