Beiträge von Sir Thomas


    Unzeitgemäße Betrachtungen


    Der zweite – interessanteste - Teil, wendet sich gegen eine bestimmte Form bürgerlicher Bildung, insbesondere soweit sie auf wissenschaftlich betriebener Historik beruht.


    Hallo Gronauer,


    ich habe aufgrund Deines Postings den zweiten Teil der "Unzeitgemäßen ..." (Vom Nutzen und Nachteil der Historie ...) noch einmal überflogen. N. plädiert dafür - und das ist für mich der interessanteste Aspekt dieser Schrift -, die Vergangenheit als interpretier- und wandelbar zu betrachten und sie sich zu Nutze zu machen für das tägliche Leben (was immer das auch konkret bedeuten mag). Die Interpretation der Vergangenheit ist für ihn eine Unterabteilung der Kunst - womit sich der Bogen zurückspannen lässt zu der vorherigen Schrift "Die Geburt der Tragödie ...", in der "die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers, die Kunst aber unter der des Lebens" gesehen wird (das Zitat stammt aus dem später von N. vorangestellten "Versuch einer Selbstkritik", Abschnitt 2).



    So weit scheinen unsere Positionen nicht auseinander zu liegen. "Lebensfeindliche Bildungshuberei" lehnt N. ab - und setzt an deren Stelle die kräftigen Wahnbilder eines heroischen Lebens. Was ist das aber anderes als l'art pour l'art?


    LG


    Tom

    Den von Dir wiedergegebenen Satz hätte ich korrekterweise als Zitat kennzeichnen müssen (auch eingedenk aktuellen Anlasses :zwinker:): er ist von Wieland selbst, eine Stelle aus dem Roman!


    Der Satz leitet das 7. Kapitel des 1. Buchs ein, das ich mittlerweile beendet habe.


    Nach sehr gutem Beginn wird das Werk schwächer. Die abstruse philosophische Diskussion im 11. Kapitel sowie die beiden letzten Kapitel (12 und 13) haben die Qualität eines Bauernschwanks, der vermutlich gewollt war, mir aber ganz und gar nicht mundet.

    Noch eine kleine Randbemerkung zu den ersten Kapiteln: Der Ort Abdera scheint bei Wieland so etwas wie eine Aura der Dummheit auf die Bewohner auszustrahlen. Kaum wurden die Tejer zu Abderiten, so schlugen sie aus der Art. Und einige Seiten später: Wenn ein Protagoras oder Demokritus aus ihrem Mittel entsprang, so war die gute Stadt Abdera gewiß eben so unschuldig daran, als Lykurgus und seine Gesetze, wenn in Sparta ein Dummkopf oder eine Memme geboren wurde.


    Das führt mich gedanklich zum Begriff des "genius loci" zur Kennzeichnung der spezifischen geistigen Atmosphäre, die auf die Bewohner eines Orts wirkt und deren Denken und Handeln prägt. Ich glaube, dass diese Annahme in bestimmten und extremen Fällen durchaus gerechtfertigt ist. War Wieland ein Anhänger dieses Gedankens? Weiß man etwas darüber?


    Dieser Wieland liest sich ja sehr süffig. Ich bin bereits bei Kapitel 4 oder so.


    Ich komme auch zügig voran.



    Das einzige Rätsel: Was macht diese Schwarze bei ihm? Ein Beispiel weltmännischer Toleranz?


    Eine bessere Erklärung habe ich auch nicht.



    Was beide Beispiele angeht, kann ich auch durchaus noch heute im Kulturgeschehen meiner Heimatregion, des Ruhrgebietes, Parallelen finden.


    Mir fällt spontan Berlin ein (Flughafenneubau). Abdera ist eben zeitlos und überall, ein Zustand, in dem die "Einbildung einen so großen Vorsprung über die Vernunft gewinnt, dass es dieser niemals möglich ist, sie einzuholen." Das Ergebnis dieses Zustands ist Mittelmäßigkeit, gepaart mit einer ordentlichen Portion Geist- und Geschmacklosigkeit. "Die guten Leute hatten sich nie träumen lassen, dass die Seele ein anderes Interesse habe als der Magen ... Mit all ihrer Schwärmerei für die Künste hatten die Abderiten gar keinen Geschmack; es ahndete ihnen nicht einmal, dass das Schöne aus einem höheren Grund schön sei, als weil es ihnen so beliebte."


    Was auffällt: Wieland liebt das Spiel mit dem Leser. Er spricht ihn oft an, mahnt ihn zur Geduld, macht ihn sogar lächerlich. Mir gefällt das. Ist eigentlich bekannt, wie die Zeitgenossen Wielands diese Ironie auffassten?


    Es grüßt


    Tom


    heute ist der 1. Februar. Wollten wir mit den "Abderiten" beginnen?


    Ja, finsbury wird den LR-Ordner wohl in Kürze eröffnen.



    Meine einfache Reclam-Ausgabe ist ebenfalls total "nackich".



    Für mich bis jetzt zwei Befunde. Es wird nötig sein, sich mit der griechischen Geistesentwicklung im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung (in der DDR rechnete man nicht nach Christi Geburt) zu befassen. Wird sich danach Lesevergnügen einstellen? Oder kann man ganz unbelastet da hineingehen?


    Kann man meiner Meinung nach. Obwohl ein wenig Wissen über den von Dir genannten Zeitraum sicher nicht schadet.


    Ich wünsche mir übrigens von Dir, dass Du in dieser Leserunde nicht bei jeder Gelegenheit (passend oder unpassend) Deine DDR-Reflektionen einschiebst. Ist das wohl möglich?


    LG


    Tom

    Nicht ganz einverstanden. Die Kunst soll bei F.N. nicht nur der Kunst dienen, sondern universale Umwälzungen bewirken. Die Kunst um der Kunst gehört genau zu dem, was er ein Buch später, in den "Unzeitgemäßen Betrachtungen", als lebensfeindliche Bildungshuberei niedermacht. Noch ein paar Tage, dann mehr dazu.


    Ich bin gespannt!


    LG


    Tom


    Kann man über Nietzsche etwas schreiben, ohne den thread in Brand zu setzen? Ich wage es mal, nach absolviertem Walkürenritt durch die "Geburt der Tragödie". [...] Wenn man das Buch dann nach 150 Seiten aus der Hand legt und sich denkt: beim Himmel, was für ein Haufen Unsinn! – dann ist das ein legitimes Urteil.


    Interessant, was Du aus diesem schmalen Band so alles ziehst. Ich habe von der "Geburt der Tragödie" etwa dies behalten: In der griechischen Antike, so Nietzsche, entdeckt der Mensch das Mittel, nicht nur Kunst zu produzieren, sondern selbst ein Kunstwerk zu sein und sein Leben als Kunstwerk zu gestalten. Kunst ist seitdem die einzige wahre metaphysische Tätigkeit des Menschen.


    Insofern ist die "Geburt ..." nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein "Manifest" des l'art pour l'art.


    Das ist ebenfalls ein legitimes Urteil. :zwinker:


    Ich muss mich wahrscheinlich damit abfinden, dass mit Christa Wolf eine der letzten Autorinnen abgetreten ist, die alles von Anfang an miterlebt hat, und der große DDR-Roman nicht mehr geschrieben werden kann.


    Seltsam larmoyanter Thread: Was ist denn so katastrophal an der Tatsache, dass der "große DDR-Roman" nicht geschrieben wurde oder nicht geschrieben werden wird? Was ist in diesem Zusammenhang übrigens mit Tellkamps "Der Turm"?


    Hat überhaupt jemand mit eingereichten E-Books Erfahrungen?


    Wenn ein Manuskript einem normalen Verlag (also kein E-Book- oder Print On Demand-Verlag) auschließlich als E-Book angeboten wird, landet es sicher im Papierkorb - unabhängig von der Qualität. Das E-Book ist im tradionellen Verlagsgeschäft klassische Zweit-, keine Erstverwertung.


    Reine E-Book-Verlage müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sie den (Um)Weg über das Papier nicht gehen wollen. Dieses Geschäftsmodell ist derzeit noch überwiegend unseriös und zielt nur auf die Geldgeilheit unbedarfter Möchtegernautoren, die dabei allerdings fast immer über den Leisten gezogen werden.


    Klingt pessimistisch - ist es auch.


    Ich hatte die schlichte rote Paperback-Ausgabe aus dem Outlook-Verlag in der Hand, und von ihr kann ich, so leid es mir tut, nur abraten. ... Ohne jegliche Textpflege sind solche Editionen einfach nur ärgerlich.


    Bei amazon gibt es eine Vielzahl solch zweifelhafter Verlage/Editionen. In der Regel handelt es sich dabei um schlampig gescannte Texte ohne Urheberrecht, an denen die "normale" Verlagswelt kein Interesse mehr hat. Ein gutes Beispiel sind viele Werke Wielands, die von seriösen Häusern nicht mehr nachgedruckt werden und deshalb ein lohnendes Feld für diese Pseudoverlage sind.


    Danke, Tom, dass du auf Wielands Jubiläum aufmerksam machst, das ist mir ganz durch die Lappen gegangen!


    Da wirst Du nicht der einzige und letzte sein. Angesichts des anstehenden Richard Wagner-Jubiläums im nächsten Jahr wird Wieland kaum mehr als eine Randnotiz in den Feuilletons abgeben. Schade, aber hysterischer Opernpomp und germanischer Heldentod kommen halt immer noch besser an als antikisierende Literatur des 18. Jahrhunderts.


    LG


    Tom