Beiträge von Sir Thomas


    ... ich finde es reizvoll wenn nicht nur Autor und Werk betrachtet wird sondern auch die damalige Zeit miteinbezogen wird.


    Hi Maria,


    so geht es mir auch. Ich bin spät zum Lesen von Biographien gekommen und nutze dieses Genre sehr selten. Derzeit habe ich allerdings meinen Spaß mit Safranskis "Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus". Danke für den Hinweis auf Storm.


    LG


    Tom

    Heute Abend läuft auf "Einsfestival" ein Spielfilm über das Gerichtsverfahren gegen den amerikanischen Dichter Allen Ginsberg. Was ich darüber lesen konnte, hat mich doch sehr an die Prozesse gegen Flaubert, Baudelaire und O. Wilde erinnert. Angefangen hat diese Art der Bekämpfung von Literatur mWn. mit Sokrates, dem "Verderber der Jugend", was mich zu zwei Fragen führt:
    Gibt es ein lesenswertes Buch über die Prozesse gegen Dichter und Autoren?
    Kennt jemand weitere Beispiele der juristischen Verfolgung von Autoren (und ich meine jetzt nicht die Art von Terror in totalitären Systemen und Diktaturen)?


    LG


    Tom


    Eva Hesse hat für die "Cantos" übrigens heute den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung gewonnen.


    Ihre Übersetzung von T.S. Eliots "The Waste Land" ist nicht gerade gelungen - und wird mWn. heute auch nicht mehr gelobt. Das soll aber nichts bedeuten in Bezug auf E. Pound. Vielleicht hat sie da bessere Arbeit geleistet.


    Ich vermute, dass nicht nur die klassische stationäre Buchhandlung ein Auslaufmodell ist, sondern auch die Kommunikationsform "Forum".


    Das scheint erst recht für ein Klassikerforum zu gelten. Für uns Gipsköppe gibt es bald nicht einmal mehr die Nische. Muss man das bedauern?


    Einen ganzen Fluss abzugraben, um Froschteiche und -gräben zu wässern, das ist schon eine gargantueske Leistung!


    Es ist vor allem eine Leistung einseitiger, rein instrumenteller Rationalität - und ich denke, dass es Wieland darauf ankam, das ausschließlich zweckrationale, den Geist und die Seele vernachlässigende Denken des Bürgertums zu demaskieren. Die "Fehlleistungen" der Abderiten entspringen dem immer wieder betonten Defizit im Hinblick auf ästhetische Bildung und - damit verbunden - logischem Urteilsvermögen. Das ist schon ein rasanter Ansatz, der sich gegen das naive enzyklopädische Bemühen der französischen Aufklärer um Diderot und Voltaire richtet.


    Der Prozess um des Esels Schatten ist geradezu visionär, er beschreibt exakt den heutigen alltäglichen Wahnsinn um Urheber- und gewerbliche Schutzrechte.



    Interessant ist, dass das Rechtssystem, über die Zeiten und Völker hinweg, immer scharfe Kritiker unter den Schriftstellern auf den Plan gerufen hat, auch und gerade bezüglich der Länge der Prozesse, der Geldgier der Anwälte und des anderen juristischen Personals. Zuletzt las ich darüber in zwei Romanen von Dickens ...


    ... und dann vergessen wir Kafka nicht!


    Das Justizwesen als Albtraum der bürgerlichen Gesellschaft? Warum nicht.



    Es wird zum Ende hin aber auch zum Problem des Lesers.


    Das könnte die Absicht Wielands gewesen sein. Der Leser wird zum einem indirekt am Prozess Beteiligten - mit allen Konsequenzen. Ein ungetrübtes Lesevergnügen ist es allerdings nicht mehr.


    Ich würde mich freuen, wenn viele Leute folgen würden und ihre Accounts und Bestellungen löschen. Erst so bekommt Amazon den perfekten Denkzettel und wird in Zukunft seine Arbeiter hoffentlich besser behandeln. Solch ein Unternehmen sollte man nicht unterstützen.


    Hallo Pascal,


    unabhängig davon, dass Du in bester Absicht handelst, möchte ich Dich warnen: Das, was Du schreibst, kommt einem Boykottaufruf gleich - und der ist juristisches Glatteis. Öffentliche Boykottaufrufe sind sehr problematisch, wenn nicht gar unzulässig (wenn ich mich recht entsinne). Ich bin übrigens kein Jurist, stehe auch nicht in Diensten von amazon.


    LG


    Tom

    In den Ausführungen ("Digressionen") über das Theaterwesen verdeutlicht Wieland einmal mehr, wie beliebig die Kunst von den Abderiten hingenommen wird, so lang sie nur unterhält; wie wenig künstlerisch-ästhetisches Urteilsvermögen in den abderitischen Köpfen waltet; und wie sehr die Abderiten letztlich die Möglichkeiten ungenutzt lassen, sich an dem Dargebotenen zu reiben. Die einzige Frage, die sich die Zuschauer nach einer Aufführung stellen, lautet: "Hat es Ihnen gefallen?"


    Schuld daran ist die in jeder bürgerlichen Gesellschaft sträflich vernachlässigte "éducation sentimentale & esthétique" zugunsten der "éducation polytechnique". Man hätte schwerlich einen Ort finden können, wo für die Bildung des inneren Gefühls, des Verstandes und des Herzens der künftigen Bürger weniger gesorgt worden wäre (Seite 14 meiner Reclam-Ausgabe, die - so ganz nebenbei bemerkt - bindungstechnisch ihren Geist aufgegeben hat).


    Über den damaligen Stand des Theaterwesens weiß man ein wenig durch Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre". Es muss schlimm gewesen sein - in etwas so schlimm wie Vieles, was heutzutage über die TV-Bildschirme flimmert. Selbst dann, wenn Qualität auf dem Programm stand (wie in Abdera die Stücke des Euripides), müssen die Inszenierungen einer ähnlichen Katastrophe gleichgekommen sein, wie Wieland sie beschreibt. Auch wenn hier die Mannheimer Bühne das Bild für den Roman abgab (wie sandhofer meint), kommt man wohl nicht umhin, auch die (vorgoethischen) Weimarer Verhältnisse in unsere Geschichte hineinzudenken. Übrigens ist mir das künstlerische Mannheim jener Zeit eher im Bereich der frühklassischen Musik ein Begriff (Mozart hat von der sog. Mannheimer Schule gelernt), weniger im Bereich des Theaters.


    Wie dem auch sei: Das dritte Buch gefällt mir bislang ausgesprochen gut, weil hier nur ein einziges Thema behandelt wird. Die Aufzählung der abderitischen Dummheiten in den vorhergegangenen Büchern fing so langsam an mich zu langweilen.

    So, ich habe die "Geburt ..." nach langer Zeit mal wieder gelesen. Das Ergebnis ist zwiespältig.



    Keineswegs neu, entgegen landläufiger Ansicht, war die Unterscheidung dionysischer (amorph-vitaler) und apollinischer (formgebender) Elemente in der Betrachtung der Kunst der Epochen.


    Wer hat sich denn vorher darüber verbreitet? Mir ist nichts dergleichen bekannt.


    Diesen Teil der Nietzsche-Abhandlung finde ich nach wie vor interessant, ebenso die Analyse des sokratisch-theoretischen Menschenbilds.



    Die conclusio schließlich, es sei möglich, mittels der Musik von Richard Wagner den Geist der großen griechischen Tragödie ... neu erstehen zu lassen ..., ist eine kuriose, bis in die Antike verlängerte Form reiner Romantik ...


    Diesen zweiten Teil hatte ich verdrängt ... Zurecht, denn diesen Ansatz kann man nicht für voll nehmen.


    Zur Abrundung des Ganzen werde ich noch einmal "Wagner in Bayreuth" aus dem Jahr 1876 lesen. Den "Fall Wagner" und die von Nietzsche zurückgezogene Schrift "Nietzsche contra Wagner" schenke ich mir allerdings.


    LG


    Tom


    Nachtrag: Insbesondere Nietzsches Theorie und Kritik der Barockoper ("Kunstform zur Befriedigung eines gänzlich unästhetischen Bedürfnisses") trifft in keinster Weise den Kern dessen, was die Komponisten des 17. Jahrhunderts beabsichtigten: eine Renovierung der strengen Polyphonie, eine Neuordnung der Stimmführung. Ohne diese Tat wären Mozart, Beethoven und Co. nicht möglich gewesen.


    Hello Sir,


    deshalb sagte ich ja auch: nicht ganz einverstanden :zwinker:


    Es ist tatsächlich nur ein kleiner Schritt, und der geht so: Nietzsche interessiert in den UB (und schon vorher in der GT) das Verhältnis zwischen Wissen und Leben. Daher rührt in der GT auch die erregte Abwehrhaltung gegenüber der sokratischen, analytischen Wahrheitssuche: es geht in dieser "romantischen" Phase zentral um einen mythischen Vitalitätsgedanken. Das Verhältnis von Kunst und Leben oder gar eine Theorie der Kunst an sich stellen m.E. nur die Bühne hierfür auf.


    Du hast es geschafft, dass ich nach dem zweiten Buch der "Unzeitgemäßen ..." auch "Die Geburt der Tragödie" entstaubt und zu lesen begonnen habe. Weit fortgeschritten bin ich noch nicht, aber dies habe ich mit Freude wieder gelesen: "Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein der Welt gerechtfertigt." (5. Abschnitt der einleitenden Selbstkritik, die N. der zweiten Auflage 1886 voranstellte).


    Auch wenn Nietzsche wenige Jahre später - im "Fall Wagner" [1888] und in der "Götzendämmerung" [1889] - die Kunst als Phänomen der Dekadenz kritisierte, ist und bleibt er selbst einer der widersprüchlichsten Repräsentanten des l'art pour l'art.

    Ich habe das zweite Buch beendet. Mit Hippokrates bricht ein weiterer Intellektueller in die Welt des abderitischen Spießertums ein - mit all den Konsequenzen, die Wieland meisterhaft erzählt. Die Konfrontation zwischen nüchternem, fast schon naturwissenschaftlich geschultem Denken und platter instrumenteller (Un)Vernunft gipfelt im 6. Kapitel in dem Treffen der beiden Mitglieder des "uralten Ordens der Kosmopoliten". Ob Wieland bei dieser Formulierung seine Logenbrüder im Kopf hatte? Ich denke schon.