Liebe Mitleserinnen und Mitleser,
weil das Wetter sich gestern doch rapide verschlechtert hat, konnte ich einen ganzen Nachmittag lesend verbringen. Ich habe unser Buch beendet (sorry, wenn ich Euch so weit vorauseile) und will mich hier zunächst einmal nur grundsätzlich äußern, um Euch die Spannung nicht zu verderben.
Greens Roman wirft einen extrem mitleidlosen, eher an das kalte wissenschaftliche Interesse eines Insektenforschers als an einen Romancier erinnernden Blick in die kleinbürgerliche Hölle der französischen Provinz zwischen den beiden Weltkriegen. Die Figuren im „Leviathan“ sind durchweg verbittert und vom Leben enttäuscht. Sie glauben nicht an das Glück und bewegen sich in einem engen Mikrokosmos aus Abhängigkeit und Demütigung. Ihr Handlungsantrieb entspringt weniger dem freien Willen zur Gestaltung ihres Schicksals als vielmehr dem engstirnigen Egoismus der ewig zu kurz Gekommenen. Keine der vier Hauptakteure (Guéret, Angèle, Madame Londe, Madame Grosgeorge) erweckt Sympathien oder Mitleid.
Paul Guéret wird (wie auch die anderen Männer in diesem Buch) von dunklen Trieben gesteuert, die er als Liebe empfindet. Er ist aber aufgrund seiner Minderwertigkeitsgefühle vollkommen unfähig, damit positiv umzugehen. In diesem düsteren Inferno aus provinzieller kleinbürgerlicher Enge, seelischer Verkümmerung und latenter Gewalt entfaltet Green eine furiose Oper, in der Egoismus und ungezügelte Leidenschaften den Weg in die Hölle markieren. Ein Buch wie ein Film von Luis Buñuel oder Claude Chabrol - oder mit den Worten Siegfried Kracauers: „Ein Totengesang der alten bürgerlichen Welt“.
Zu den Frauen: Sie sind die raffinierten, einschüchternden und nie zu durchschauenden Drahtzieher des Geschehens. Sie spielen ihre Spiele mit den Männern, sie manipulieren, betrügen und nutzen aus. Ich halte es für wahrscheinlich, dass sich in den Greenschen Frauengestalten ein traditionell katholisches Frauenbild (die Frau als Sünderin und Verderberin) manifestiert.
Insbesondere Eure Einlassungen zu Madame Grosgeorge habe ich ähnlich empfunden. Sie ist eine eiskalte, seelisch verkümmerte Sadistin, während Angèle eher dem Typus "Kindfrau" entspricht. Oder vielleicht noch eher der "Femme fatale", denn sie bringt den Männern, mit denen sie sich einlässt, nichts als Unglück.
Ich höre nun besser auf und freue mich auf die weitere Diskussion mit Euch.
Liebe Grüße
Sir Thomas