Beiträge von Sir Thomas

    Nach dem Ende des "Dr. Faustus" habe ich mit den frühen Erzählungen TMs begonnen (Zweitlektüre). Ich bin nicht sehr angetan von eher bemüht daherkommenden Stücken wie "Gefallen" oder "Der Bajazzo" (zuviel aufgebauschte Décadence). Ganz vorzüglich finde ich immer noch den "Kleinen Herrn Friedemann", dessen geordnete kleine Welt von einer bösen Femme Fatale zerstört wird. Hier zeigt sich TM schon fast im Vollbesitz seiner Fähigkeiten. Er hat übrigens nach meinem Dafürhalten sowohl Figuren aus dem "Bajazzo" als auch aus dem "Friedemann" in die "Buddenbrooks" übernommen - und zwar als Christian und Gerda.


    LG


    Tom


    Ich würde vermuten, dass unsere Empfindungsfähigkeit gegenüber Musik sich aus dem Sprachsystem weiterentwickelt hat. Wir können ja in unserer sprachlichen Kommunikation jenseits des sachlichen (d.h. durch die Worte an sich ausgedrückten) Inhalts durch Modulation der Stimme eine Vielzahl von emotionalen Nuancen ausdrücken und auch beim Hören verstehen.


    Hallo Harald,


    ich zitiere einige Stellen aus "Klang und Eros" von Paul Bekker (1922):


    Klang (bzw. Musik) ist hörbar gewordene Sinnlichkeit. ... Wenn man über die Natur des Klanges nachdenkt, dann rückt die menschliche Stimme in den Mittelpunkt. Sie beherrschte große Epochen der Musikgeschichte, hinter ihr verbarg sich der Eros als Urkraft musikalischer Kunst. Instrumente waren früher Diener der Stimme, geschaffen, diese zu schmücken, nicht aber mit ihr in Wettbewerb zu treten.


    Im Instrumentenklang lebt die Stimme weiter ... Instrumentenklang bedeutet einen Wechsel vom natürlichen zum nachgeahmten Gesangston, in dem man ein Zeichen reizsteigernder Dekadenz und verfeinerter Geistigkeit des Klangempfindens sehen kann. Dann wäre allerdings das Aufblühen der Musik ein Verfallssymptom. Was vorliegt, ist Wandlung des erotischen Empfindens durch Zugänglichmachung neuer Sinnesgebiete.


    Eine Zeit, in der die Menschenstimme das vorherrschende Mittel des Klangausdrucks ist, dokumentiert damit die unbefangene, unverhüllte Sinnlichkeit der Musik. Eine Zeit aber, die sich vom vokalen dem instrumentalen Ton als Grundklang musikalischen Empfindens zuwendet, zeigt eine Metamorphose des Eros zum Denaturalistischen, Symbolischen, Gleichnishaften.


    Paul Bekker war Musikkritiker und Dirigent. Ich finde seine Überlegungen z.T. heute noch lesenswert, auch wenn sie vielleicht keine wissenschaftlich befriedigenden Antworten auf die Natur unseres Musikempfindens liefern.


    Den vollständigen Aufsatz findest Du hier: http://commons.wikimedia.org/w…iften_Band_2.pdf&page=334


    Einen schönen Tag wünscht


    Tom


    Was ist der Unterschied zwischen Musik und tönender Mathematik? Oder gibt es keinen?


    Hallo Harald,


    das ist eine gute Frage, auf die jede Musikepoche ihre eigene Antwort gab. Die strenge vorbarocke Vokalpolyphonie hat sich keineswegs als tönende Mathematik verstanden, obwohl sie nach genauen, fast schon rigiden Regeln (den Gesetzen des Kontrapunkts) komponiert wurde. Höhepunkt dieses Musikverständnisses war der sog. Palestrina-Stil. Später, im Rahmen der Emanzipation der Instrumentalmusik von der Vokalmusik, wurde auf der Basis der Dur-/Moll-Harmonik die Darstellung von Affekten als das Wesen der Musik definiert. Es folgten (besonders in der Romantik) Ansätze der Gefühls- und Ausdrucksästhetik, denen zufolge Musik das Gefühlsleben des Komponisten nach aussen zu kehren habe (Schumann ist ein gutes Beispiel). Die zweite Wiener Schule um Arnold Schönberg hat damit gründlich aufgeräumt und ein quasi mathematisch grundiertes Kompositionsprinzip (die berühmt-berüchtigte Zwölftonmusik) ins Leben gerufen.


    Meine persönliche Meinung: Das Tonsystem ist auch ohne hineingelegtes oder hineininterpretiertes Gefühl ausdrucksstark genug, um für sich selbst "reden" zu können.


    Wenn es Dich interessiert: Carl Dahlhaus hat zu diesem Thema das Büchlein "Musikästhetik" geschrieben. Es bietet einen kompakten Überblick über die verschiedenen philosophischen Konzepte. Sehr empfehlenswert!


    LG und eine schönes Wochenende!


    Tom


    PS: Eigentlich gehören unsere letzten Beiträge nicht in den Ordner "Was lest Ihr gerade?" Vielleicht kann sandhofer die Beiträge bei Gelegenheit herauslösen ...


    Ich ... schmökere ... in einer bizarr-schönen Dissertation zum Zusammenhang zwischen Algebra und Sprache.


    Zwei Zitate daraus:


    Buchstaben sind Nomaden. Von Natur aus halten sie sich nicht an die Ordnungssysteme von Grammatik und Semantik, Sein und Sinn, Bedeutung und Botschaft. Manchmal wollen sie nur nach dem Lied der Zahlen tanzen.


    Ja, das ist bizarr-schön!


    Später dies:


    Von der Frage nach der Institution des Autors kommen wir zu jenen poetologischen Konzepten, die sich auf verfahrensgestützte Operationen berufen. Dabei steht der Aspekt des „poiein“, des Herstellens, von poetischen Texten im Mittelpunkt der Betrachtung. Infolgedessen müssen Fragen nach der Motiv- oder Ideengeschichte eines Werks vor einer Diskussion seiner Genese, dem making of, zurücktreten. (Hervorhebungen von mir)


    Ich finde diesen Aspekt recht interessant. Mal sehen, ob ich es schaffe, diese Dissertation am Wochenende komplett zu lesen.


    LG


    Tom

    Das ist ja süß, von wem ist das?


    Die Frage, wieviel Mathematik in der Poesie (und umgekehrt) steckt, finde ich interessant. Daher vielen Dank, liebe Fee, für den Hinweis auf die etwas abstruse Dissertation. Mich erinnert das an die Fragestellung, ob Musik mehr ist als tönende Mathematik und ob das Komponieren bspw. eines Klavierstücks letztlich nichts anderes ist als das mehr oder weniger kreative Spiel mit den physikalischen Gesetzen, auf denen unser Klang- und Harmonieempfinden beruht. Das ist natürlich ein Schlag ins Gesicht für alle Gefühls- und Genieästhetiker.


    Vielleicht wird unser ästhetisches Empfinden sehr viel stärker durch nüchterne mathematisch-physikalische Gegebenheiten beeinflusst als uns lieb ist.


    LG


    Tom


    ich suche nach einem Buch, dessen Autor und Titel mir entfallen ist und meine Notiz dazu kann ich nicht mehr finden und es lässt mir einfach keine Ruhe.


    Die Handlung ist von der Art "Krieg und Frieden" jedoch von einem polnischen Schriftsteller (Klassiker, erschien bei Manesse, meine ich mich zu erinnern, nicht mehr im Handel erhältlich). Meine Google Suche blieb bisher erfolglos.


    sagt euch das etwas?


    Hallo Maria,


    das klingt nach "Die Sintflut" von Henryk Sienkiewicz (dem Autor von "Quo vadis?").


    LG


    Tom


    Hallo,


    eine Fontane-Runde käme mir sehr entgegen. Die drei oben Genannten kenne ich nicht, habe auch keines davon im Regal. Ungelesen steht "Jenny Treibel" auf den Brettern. Könnt Ihr Euch damit anfreunden (ab Mitte Mai)?


    LG


    Tom


    Als sanften Übergang vom Kitsch zur Kunst lese ich die Urfassung von "Krieg und Frieden".


    Hallo Poppea,


    ich wusste bislang nicht, dass es so etwas wie eine "Urfassung" gibt. Weisst Du etwas über die Unterschiede zur "handelsüblichen" Fassung?


    Viele Grüße


    Tom

    Hallo Maria,


    danke für die beiden Hinweise! Leider ist eines der Bücher nicht mehr lieferbar, und 40 Euro für das andere sind mir ein wenig zu viel.


    LG


    Tom


    ... das berühmte Beispiel vom "Fugengewicht".


    Ja, Hubert, dieser blanke Unsinn ist ein bekannter, trotzdem immer wieder herrlicher Schmunzler!



    Es gibt ein Hörspiel über den Roman, was auch noch auf mich wartet.


    NEID!!!
    Das Hörspiel des Hessischen Rundfunks soll allererste Sahne sein! Noch lieber hätte ich allerdings eine kommentierte Ausgabe.


    LG


    Tom

    Hi Lost,


    Thomas Mann hat viel gelesen für den "Dr. Faustus": Biografien und Werkanalysen über Mozart, Beethoven, Wagner ...


    Dann hat er sich wohl auch mit zeitgenössischen Komponisten (u.a. Arnold Schönberg) unterhalten. Ich gehe deshalb davon aus, dass er sich eine Menge musikalischen Wissens angeeignet hat.


    Interessanter ist die Frage nach seinem Musikgeschmack. Nach allem, was ich darüber weiss, war er in der spätromantischen Welt Wagners und Mahlers beheimatet.


    Noch interessanter: Welcher Komponist spiegelt sich in Adrian Leverkühn? Zu finden sind mMn.: ein wenig Beethovensche Kälte und Ungeduld, ein wenig der späte, gemütskranke Schumann, eine kleine Portion Wagnersche Schwärmerei, etwas Mahlersche Todessehnsucht sowie die spätromantische Überspanntheit eines Hans Pfitzner. Interessante Mischung!


    LG


    Tom

    Ich habe jetzt mit der Zweitlektüre des "Doktor Faustus" begonnen. Er ist für mich nach wie vor der beste und fundierteste Roman über musikalische Grundfragen und Themen, aber natürlich auch über das krankhafte Wesen des Genies. Die Exaktheit der Ausführungen über Musik basieren natürlich auf der Tatsache, dass der "Zauberer" ungeniert aus den Schriften Arnold Schönbergs abschrieb, was der geneigte Leser erst ganz am Schluss in Form einer Fußnote erfährt. Damals war ich ein wenig entsetzt über diese Dreistigkeit. Heute genieße ich die Schönbergschen Theorien in der "Bearbeitung" Thomas Manns wie eine gut gemachte Variation über ein kassisches Thema.


    LG


    Tom


    ... außerdem warten noch die "Wahlverwandtschaften" und "Wilhelm Meisters Wanderjahre" auf Lesezeit.


    Die "Wahlverwandtschaften" stehen neben dem "Faust" auch bei mir in absehbarer Zeit an.



    Die Leiden des jungen Werther (eine lohnenswerte Lektüre auch zum wiederholtem Male) ...


    Ich lese das Buch in regelmäßigen Abständen (so alle fünf Jahre) wieder. Was hat es an sich, das andere nicht haben? Ich bin immer noch nicht dahinter gekommen.


    LG


    Tom

    Klaus Mann: Alexander – Roman der Utopie


    Klaus Mann war offensichtlich ein Experte für letztlich Gescheiterte. Wie schon in “Mephisto” geht es in “Alexander” um den kometenhaften Aufstieg eines Mannes, der auf dem Höhepunkt seines Ruhms von tiefer Einsamkeit befallen und der schließlich von seinen Selbstzweifeln zerstört wird. Klaus Mann schildert das Leben des mazedonischen Eroberers von der Kindheit bis zum Tod und arbeitet dabei mit einer interessanten These: Alexanders Eroberungswut ist das Resultat einer Kränkung durch den Jugendfreund Kleitos, dessen demonstrative Gleichgültigkeit und Gelassenheit er durchbrechen will. Alexander sucht Anerkennung (was vermutlich für jeden Potentaten gilt). Er spürt, dass der kluge Kleitos ihm überlegen ist und ihn durchschaut, deshalb muss er ihn durch Erfolge immer weiter blenden. Wie gesagt: Interessante These, wie auch die der Homosexualität des Mazedonenkönigs.


    Auch wenn “Alexander” nicht die Qualität des "Mephisto" erreicht, so ist es keineswegs ein schlechtes Buch. Auffällig ist die Atemlosigkeit, mit der Klaus Mann erzählt. Manches ist deshalb etwas schlampig dahingeschmiert, etwas mehr Genauigkeit und ein etwas längerer Atem hätten der einen oder anderen Stelle gutgetan.


    Trotz einiger Schächen ist der Roman lesenswert und keine Zeitverschwendung.

    Hallo FA,


    hier meine Lieblings-Schweizer:
    -> Robert Walser (v.a. "Der Gehülfe" und "Geschwister Tanner")
    -> Hermann Burger ("Schilten")
    -> Friedrich Glauser (viele sehr gute Erzählungen und Kurzgeschichten).


    Lesenswert:
    -> Gottfried Keller (z.B. "Der grüne Heinrich")
    -> C.F. Meyer (dessen Lyrik ich sehr mag)


    Wen ich meide:
    -> Mit Dürrenmatt kann ich mittlerweile kaum noch etwas anfangen.
    -> Max Frisch mochte ich noch nie (mit einer Ausnahme: "Der Mensch erscheint im Holozän").


    Zu aktuellen Autoren kann ich nichts sagen.


    Viele Grüße


    Tom


    Ich las "Alexander" von Klaus Mann; eine Romanbiographie über Alexander der Große. Ich kenne nicht soviel von Klaus Mann, doch dieser Roman ähnelt im Aufgreifen und Erzählen von Mythen den Joseph-Büchern seines Vaters Thomas Mann. Inwieweit "Alexander" historisch korrekt ist, kann ich nicht sagen, jedoch ein feines Erzählwerk.


    Ich habe das Buch gestern begonnen und bin ziemlich begeistert. "Alexander" ist nach "Mephisto" erst meine zweite Klaus Mann-Lektüre. Der Autor steigt in meiner Achtung. Und richtig; Maria: Die ersten Seiten in "Alexander" erinnern sehr an die Joseph-Geschichte des Vaters.


    Über historische Korrektheit kann ich mir kein Urteil erlauben. Ich lese das Buch allerdings nicht als Biografie, sondern als Auseinandersetzung mit dem übermachtigen Vater und dessen Werk.


    Viele Grüße


    Tom


    "Melancholie" halte ich für ein gutes Stichwort. ... Die Nachsommer'schen Figuren sind ja alles Nachempfinder, Nachgestalter und Sammler. Sie sammeln im Bewusstsein dessen, dass, was sie sammeln, im Grunde genommen dem Untergang geweiht ist.


    Das habe ich ebenso empfunden. Hast Du deshalb Robert Burtons "Anatomy of melancholy" in die Materialsammlung aufgenommen?



    »Ich glaube,« entgegnete mein Begleiter, »daß in der gegenwärtigen Zeit der Standpunkt der Wissenschaft, von welcher wir sprechen, der des Sammelns ist. Entfernte Zeiten werden aus dem Stoffe etwas bauen, das wir noch nicht kennen. Das Sammeln geht der Wissenschaft immer voraus.«


    Sammeln als Investition in die Zukunft und in den wissenschaftlichen Fortschritt. Erstmal die empirische Grundlage schaffen, ehe es an die Theorienbildung geht. Also wenn das kein Erkenntnisoptimismus in bester aufklärerischer Tradition ist.


    Über diese Stelle bin ich auch gestolpert. Aber ist in dem Verweis auf "entfernte" Zeiten nicht auch so etwas wie Resignation in Bezug auf die Gegenwart enthalten? Echter Optimismus klingt jedenfalls anders.


    LG


    Tom


    Könnte es sein, dass Stifter den Nachsommer eigentlich als eine Art Lehrbuch konzipiert hat und das pädagogische Anliegen des Werkes völlig verkannt worden ist? Mir kommt das Ganze wie eine Sammlung von Lehreinheiten vor ...


    Hallo Fee,


    "Pädagogisches Anliegen" trifft es mMn. nicht so ganz. Ich würde eher von einer positiven Utopie sprechen: "Seht her, so könnte es laufen, wenn, ja wenn der Mensch nur über ein wenig Bildung verfügte ..."


    Mittlerweile habe ich als Ergänzung zum "Nachsommer" die kleine Erzählung "Nachkommenschaften" begonnen. Sie gehört zu Stifters Spätwerk und ist beinahe so etwas wie ein "Nachsommer" en miniature. Mit einem Unterschied: Die dort auftretenden Menschen sind weniger eindimensional. Außerdem enthalten die Ausführungen des Ich-Erzählers eine Prise feinen Humors - etwas, was dem "Nachsommer" vollständig fehlte.


    Viele Grüße


    Tom