Februar 2011: A. Stifter: Der Nachsommer


  • «Das ist eben das Wesen der besten Werke der alten Kunst, und ich glaube, das ist das Wesen der höchsten Kunst überhaupt, dass man keine einzelnen Theile oder einzelnen Absichten findet, von denen man sagen kann, das ist das schönste, sondern das Ganze ist schön, von dem Ganzen möchte man sagen, es ist das schönste; die Theile sind blos natürlich.» Darin scheint mir so etwas wie des Pudels Kern zu liegen. In diesem Sinne hat Stifter vielleicht auch den „Nachsommer“ als Werk konzipiert, dessen Einzelteile nur in der Gesamtschau zur Wirkung gelangen.


    Nicht nur in der Kunst, sondern generell, auch der Mensch soll aus diesem Schauplatz nicht herausfallen, sich einordnen und zur großen Harmonie eins werden. Ja, so lese ich auch den "Nachsommer" :smile:

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Ich kann mich mit dieser Erzählung auch nach 13 Kapiteln nicht anfreunden. Es gibt Dialoge, wenn die auf die Bühne bringt, bricht im Publikum eine Lachpanik aus. Diese total vergeistigten Figuren, ohne jede Widersprüche, die sich nur gegenseitig Stichworte für Erörterungen geben und so ziemlich alles ausblenden, was in ihrer Zeit an bedeutenden Veränderungen geschehen sind, die, wenigstens bis jetzt, nichts davon in ihre Debatten davon einfließen lassen, obwohl ihre Themen, Kunst, Naturwissenschaften, Geographie in Aufruhr waren, sie bleiben mir in Allem fremd, Aliens.


  • Diese total vergeistigten Figuren ... sie bleiben mir in Allem fremd, Aliens.


    Natürlich sind uns diese Menschen, deren Gefühle und Empfindungen in edel knisterndes Seidenpapier eingewickelt sind und die sich gegenseitig mimosenhaft schonen zutiefst fremd. Ich glaube aber, dass Stifter für uns noch etwas bereithält und dass unter der Oberfläche des schönen Scheins der eine oder andere Abgrund sich öffnen wird.


    LG


    Tom

  • Natürlich sind uns diese Menschen, deren Gefühle und Empfindungen in edel knisterndes Seidenpapier eingewickelt ...


    Ich bewundere solche Worte :winken:



    Hoffen wir, dass Stifter wenigstens Agatha Christie gelesen hat und spätestens auf der letzen Seite das Kartenhaus zusammen fällt :zwinker:


  • Ich glaube aber, dass Stifter für uns noch etwas bereithält und dass unter der Oberfläche des schönen Scheins der eine oder andere Abgrund sich öffnen wird.


    Mir scheint es im Moment darauf hinaus zu laufen, dass nach Wissenschaft und Kunst, die Liebe ins Spiel kommt, und gar kein Abgrund. Vielleicht dann später ... denn:
    Gestern kam mir der Gedanke, obwohl ich zunächst dachte, dass sich Stifter gegen die Romantiker ausgesprochen hätte, so las ich die Stelle mit den Schwulstdichtern, die die Natur erhöhen und ins falsche Licht rücken. Doch wie viel Romantik steckt in Stifter oder im "Nachsommer". Bisher ist alles nur schön und harmonisch, da fehlt noch was.

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Ich kann mich mit dieser Erzählung auch nach 13 Kapiteln nicht anfreunden.



    Ja, das habe ich mir auch schon gedacht, wie ich so Deine Beiträge gelesen habe. Gut, man kann nicht alle Dichter mögen. Die Atmosphäre, die Stifter aufbaut, ist tatsächlich speziell. Witiko ist dann noch spezieller. :breitgrins: :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Nach etwas mehr als der Hälfte des Romans stellt sich eine gewisse Ratlosigkeit ein. Wenn Stifter mit mindestens einem Auge in Richtung Goethes “Wilhelm Meister” schielte und den “Nachsommer” als sog. Entwicklungsroman angelegt hat (wenn er ihn auch nicht so bezeichnet hat), so fragt sich der geneigte Leser mittlerweile, ob sich der Erzähler wirklich “entwickelt”, oder ob das, was er angeblich an Erkenntnissen und Erweiterungen erfährt (z.B. Kunstverständnis), nicht ohnehin in ihm vorhanden war und lediglich durch zufällige Eindrücke (wie z.B. den der Marmorstatue) geweckt werden musste.


    Alle Erklärungen, die der Gastgeber dem Erzähler gewährt, sind ausführliche Belehrungen im Nachhinein – und das auch noch mit der Begründung, man habe halt warten wollen, bis der junge Mensch sensibel und offen für ein ganz bestimmtes Thema sei. Mit anderen Worten: Der Erzähler lernt nur von Dingen, die er bereits weiß (aus der häuslich-elterlichen Atmosphäre), greift zu Büchern, die er bereits kennt und widmet sich immer wieder den Kunstwerken, die er schon mehrfach bestaunt hat und wird – Kulminationspunkt seiner Bildung - anschließend einer extrem konservativen “Gehirnwäsche” über die Kunst der alten Meister oder des naturgerechten Gärtnerns unterzogen. Hat Stifter das beabsichtigt? Was will er uns eigentlich vor Augen führen?


    Was für ein seltsames Buch! Faszinierend – und irritierend ...


  • Nach etwas mehr als der Hälfte des Romans stellt sich eine gewisse Ratlosigkeit ein. Wenn Stifter mit mindestens einem Auge in Richtung Goethes “Wilhelm Meister” schielte und den “Nachsommer” als sog. Entwicklungsroman angelegt hat (wenn er ihn auch nicht so bezeichnet hat), so fragt sich der geneigte Leser mittlerweile, ob sich der Erzähler wirklich “entwickelt”, oder ob das, was er angeblich an Erkenntnissen und Erweiterungen erfährt (z.B. Kunstverständnis), nicht ohnehin in ihm vorhanden war und lediglich durch zufällige Eindrücke (wie z.B. den der Marmorstatue) geweckt werden musste.


    Yes Sir, dem stimme ich in großen Teil zu. Nicht in dem Bereich, in dem unser junger Held Feldforschung beteibt, merkwürdig unbeschrieben übrigens und im überkommenen Sinn. Zu Theoriebildung neigt er nicht, was wir dem Jungen auch nachsehen wollen.
    Besonders wenn die Sprache auf Gustav kommt, entsteht bei mir der Eindruck, hier wird jemand eher vor Erkenntnis geschützt, als dass er zur Erkenntnis geleitetet wird. Eine Neigung zum Oportunismus sehe ich in allen Figuren.
    Was treibt Stifter dazu, als Gegenwentwurf zur zeitgenössischen Literatur, wohl auch zur zeitgenösischen Kultur eine quasi konfuziansiche Kultur zu beschwören? Warum diese Hymnen auf solche intellektuellen Speichellecker?


    Noch eine Bemerkung zu Sandhofer: Ich will mit meiner Einstellung nicht Stifter insgesamt ablehnen. Vielleicht ist es mehr die lange Form, das Widerkäuen, was mich am Nachsommer irritiert. Im "Hagestolz" (der anderen Erzählung, die ich von Stifter kenne) fand ich die gleiche Grundhaltung. Durch die kurze Form konnten sich für mich aber die die famosen Beschreibungen besser hervorheben. Ich bewundere diese detaillierten Beschreibungen, egal ob sie sich auf Physionomie, auf Architektur oder Natur und anderes beziehen. Mit Worten Bilder zu erzeugen halte ich für eine große Kunst, und Stifter beherrscht dieses Metier, das sei ihm unbenommen.


  • Was treibt Stifter dazu, als Gegenwentwurf zur zeitgenössischen Literatur, wohl auch zur zeitgenösischen Kultur eine quasi konfuziansiche Kultur zu beschwören?


    Hi Lost,


    gute Frage! Denkbar sind folgende Möglichkeiten:


    Dieser (durch und durch utopische) Gegenentwurf soll den Zeitgenossen einen Spiegel vorhalten: Seht her, so könnte die Welt funktionieren, aber wir haben alle Chancen verspielt, Revolutionen vergeigt und eine Verflachung des geistigen Lebens zugunsten einer Überbetonung ökonomischer Interessen zugelassen.


    Das halte ich für etwas zu kurz gesprungen, daher bevorzuge ich folgende Erklärung:


    Stifter war gewiss nicht naiv. Seine Rosenhausidylle war ihm möglicherweise selbst nicht geheuer, d.h. er hat vielleicht an all die schönen Bildungsideale und -theorien keinesfalls geglaubt und gibt diese schwärmerischen Gedanken (die mWn. dem Idealismus entsprungen sind) angesichts der traurigen gesellschaftlichen und politischen Realität indirekt der Lächerlichkeit preis.


    Du nennst es


    ... Hymnen auf ... intellektuelle Speichellecker ...


    Schöne, wenn auch arg überspitzte Formulierung! Anti-Hymne wäre aber wohl der angemessenere Ausdruck ...


    LG


    Tom

  • Ja, vielleicht Tom,


    Du hast wohl mehr Sinn für die Ironie in dieser Erzählung. Das Kapitel "Das Vertrauen" hat mir im Kern ganz gut gefallen. Immerhin eine Erörterung über Kunst. Wenn ich die Auffassungen auch nicht alle teile, wenigstens Stoff zum Nachdenken.


  • ... Stoff zum Nachdenken.


    Ich denke auch - und mache eine kleine Lesepause. Soviel Harmonie macht mich auf Dauer total fertig. Gut, dass ich parallel immer noch in Homers "Ilias" stecke. Da sind noch Männer unterwegs ...


    So long,


    Tom

  • Und ich bin derzeit so in den Stoff eingetaucht, dass ich kaum mehr auftauchen kann. Mir gefällt diese Haltung und Einstellung irgendwie so gut, auch wenn ich sie nicht auf mein Leben übertragen möchte, doch diese Harmonie fühlt sich sehr wohlig an, und hier und da könnte man ein paar Dinge übernehmen. Die Lektüre macht mich süchtig und deshalb schaue mal was der "Witiko" so zu bieten hat :smile:


    Ich habe gestern den zweiten Band beendet, und siehe da ...

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Ich habe gestern den zweiten Band beendet, und siehe da ...


    und siehe da... ???


    Die Harmonie in dieser Erzählung schreckt mich eher ab. Das wirst du dir aber auch denken können. Außerdem führt sie sich ad absurdum, denn die Erörterungen, die so, in völligem Einvernehmen, über Kunst und Wissenschaft, besprochen sind, beschreiben ja einen Prozess der Auseinandersetzung mit Widersprüchlichkeiten.


  • Die Harmonie in dieser Erzählung schreckt mich eher ab. Das wirst du dir aber auch denken können. Außerdem führt sie sich ad absurdum, denn die Erörterungen, die so, in völligem Einvernehmen, über Kunst und Wissenschaft, besprochen sind, beschreiben ja einen Prozess der Auseinandersetzung mit Widersprüchlichkeiten.


    Ja, ja, wie im völlig normalen Leben :zwinker:


    Tom meinte zwar, man solle das Moderne separat besprechen, aber ich wünschte mir oft ein wenig mehr Harmonie zwischen den einzelnen Richtungen, sprich Wissenschaft und Geisteswissenschaft, Kunst. Manchmal denke ich wirklich, der Mensch ist wissenschaftlich viel zu weit fortgeschritten und kann dem moralisch gar nicht mehr folgen.
    Und ja, ich bin voller Widersprüche, beispielsweise wenn es um Präimplantationsdiagnostik geht, es spricht dafür und dagegen, eine richtige Haltung und Einstellung feht der Menschheit noch, dann dürfte Präimplantationsdiagnostik überhaupt kein Problem sein, dann würde sie wirklich für Ausnahmesituationen gewählt werden. Ich denke, natürlich kann ich auch auf einen total falschen Dampfer sein, dass ein wenig mehr Liebe zu den Dingen und zu den Menschen, ein bisschen mehr Harmonie gut tun würde ...


    Zitat

    und siehe da... ???


    Jetzt knutschen sie doch :breitgrins:

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Oh Mathilde, du feuriges Licht, du entbranntest so kurz, verlöschtest so schnell, im eisigen Dunkel der österreichischen Nationalliteratur.


    Nun verstehe ich, warum es Madonnen gibt, die blutige Tränen weinen.


    Zwei Seiten Literatur in 500 Seiten Text :-)


  • Ich bin durch.
    Kein Fazit von mir, aus Respekt vor den Mitlesern. :winken:


    Och, wie schade ...


    Ich melde mich gehorsamst zurück - mit einigen Bemerkungen zum Thema "Natur". Bisher kannte ich von Stifter nur die frühe Erzählung "Der Hochwald". Da spielt die Natur eine Hauptrolle - und zwar nicht als Idylle, sondern als wilder, unzugänglicher Raum, in dem der Mensch verloren ist und der ihm manchmal sogar verschlossen bleibt.


    Wenig bis nichts dergleichen habe ich bislang im "Nachsommer" gespürt. Hier ist die Natur freundlich, sie kommt in sanft gewelllten Hügellandschaften daher, verschönert das Leben der Menschen (z.B. als Rosenwand) und ist ihnen grundsätzlich untergeordnet und dienlich (wie der Park des Rosenhauses). Meistens scheint die Sonne, das Klima ist angenehm und selbst im Winter scheint im "Nachsommer" niemand zu frieren.


    Mitten im zweiten Teil (übrigens mein aktueller Lesestand) schildert unser Erzähler eine Expedition ins Hochgebirge. Erstmals bricht der zum Teil bedrohlich wirkende Aspekt einer wilden, unkultivierten Landschaft mit nassen, endlos dunklen Tannenwäldern, Felsen und Eiskuppen hervor. Stellt sich die Frage, ob das etwas zu bedeuten hat ...


    Es grüßt


    Tom

  • Hier ist die Natur freundlich, sie kommt in sanft gewelllten Hügellandschaften daher, verschönert das Leben der Menschen (z.B. als Rosenwand) und ist ihnen grundsätzlich untergeordnet und dienlich (wie der Park des Rosenhauses).



    Das ist ja eben nicht Natur. Das ist gezähmte Natur. Ich weiss nicht einmal, ob der Ausdruck im ganzen deutschen Sprachraum gilt; hier in der Schweiz heissen die der Landwirtschaft u.ä. dienenden Felder "Kulturland". Nomen est omen.

    Lost: Vor mir brauchst Du keinen Respekt zu haben. :breitgrins:

    Ich selber lese schön langsam weiter. Für mich ist der Nachsommer im Grunde genommen ein riesiges, sprachlich in höchstem Masse durchformtes Gedicht. Lyrik.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus