Beiträge von Sir Thomas


    Blöde Frage: Beginnt die Menge des Wissens nicht schon viel eher zu explodieren?


    Das ist eine ziemlich gute Frage, die man wohl mit einem "Ja" beantworten muss.



    Früher gab es ja Weltchroniken und wenn ich das richtig in Erinnerung habe, wurden die letzten dieser Chroniken Ende des 15 Jahrhunderts/Anfang des 16. Jahrhunderts geschrieben. Denn dann erkannten die Chronisten dass es einfach zu viel Wissen gab um es in Buch zusammen zu fassen.


    Man hat Goethe (der Kerl verfolgt mich derzeit!) einmal nachgesagt, er sei so etwas wie der letzte Universalgelehrte gewesen. Nach seinem Tod war niemand mehr in der Lage, all das neu entstehende Wissen zu akkumulieren. Ich glaube, dass das falsch ist, weil der Zeitpunkt früher angesetzt werden muss - wenn überhaupt die Rede davon sein kann, dass je ein Mensch das Wissen seiner Zeit vollständig überblickt hat.



    Mit den aufstebenden empirischen Naturwissenschaften, den immer intensiver werdenen Entdeckungen und der zunehmenden Systematik halte ich persönlich schon die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts für den Knaller.


    Ich denke, dass schon das 17. Jahrhundert als Ausgangspunkt für die entstehende Wissensgesellschaft gesehen werden kann. Die Stichworte lauten: Galilei, Newton, Linné und die Entfaltung der Naturwissenschaften, Francis Bacon und der Empirismus, Descartes und der Rationalismus ...


    Herder wird all diese Dinge zumindest in Umrissen gekannt haben. Insofern unterstelle ich ihm nach wie vor keinen blinden Fleck in Bezug auf den Wissensbestand seiner Zeit.


    ... er schießt sich im Journal auf die Enzyklopädisten ein - er kapiert noch nicht, dass zu seiner Zeit die Menge des Wissens beginnt zu explodieren.


    Das ist richtig. Herder wendet sich nicht gegen Wissen an sich, wohl aber gegen ein Wissen, das um seiner selbst willen angehäuft wird. Die Kritik an der Kälte der Vernunft ist so alt wie die Aufklärung selbst. Nicht erst die Romantiker haben den zerstörerischen Aspekt des "Fortschritts" kritisch hinterfragt.


    Deshalb kann man mMn. nicht sagen, Herder habe bestimmte Entwicklungen nicht gesehen. Er hat noch zu Lebzeiten mitbekommen, wie die französische Dekadenz trotz wachsender Vernunft (die übrigens auch Robespierre gründlich missbraucht hat!) in sich zusammenbrach. Den ruhmlosen Abgang Preußens nach Napoleons Schlägen hat er nicht mehr erlebt, aber auch das war eine Bestätigung für seine Einschätzung, dass dieser Untertanenstaat mit halbaufklärerischem Überbau letztlich auf Sand gebaut war.


    Summa summarum: Für mich hat Herder eine ganze Menge begriffen. "Vorwerfen" kann man ihm allenfalls seinen Idealismus, der für mich jedoch nicht zu den Erbsünden zählt.


    LG


    Tom


    Mittlerweile frage ich mich, wie Herder sein ganzes Wissen über die aktuellen Verhältnisse sammeln konnte. ... Zeitungswissen, persönliche Kontakte, Briefe?


    Vermutlich ja. Ein umfangreiches Bücherwissen dürfen wir Herder sicher auch unterstellen.


    Mit bemerkenswerter Weitsicht schätzt Herder in den "politischen Seeträumen" die Lage Europas ein. Überall wittert er Verfall, Barbarei, Despotie und Korruption:
    Russland - eine moralische und literarische Wüste.
    Preußen - das Reich des Königs Pyrrhus (schöne Formulierung!).
    Schweden - weit hinter den Geist der Hanse zurückgefallen.
    Holland - einseitig durchdrungen von einem Handelsgeist, der nichts als solcher ist und daher den Sinkflug eingeleitet hat, ein totes Magazin von Waren, das sich ausleert und nicht mehr vollfüllen mag.
    England - hoch verschuldet und daher vom Verfall bedroht.
    Schließlich Frankreich - ein Land, dessen Kultur auf Ruinen wohnt, ein Land der frostigen Galanterie.


    Herder problematisiert eine Art der Aufklärung, die sich, statt ein Mittel zur Verbesserung der Menschheit zu sein, als Selbstzweck versteht, und das vor allem in Frankreich, wo man Encyklopädien mache (erste Zeichen des Verfalls!) und sich durch die Feinheit des Geistes langsam verirre. Als Beispiel, wohin das führen kann, zitiert Herder ausgerechnet den Franzosen Montesquieu, der anhand der griechischen Spätantike gezeigt habe, wie man ein (geistiges) Gebäude von innen aushöhlt und schließlich umwirft. Was will alle Gelehrsamkeit sagen? Eine Landplage, eine barbarische Überschwemmung, ein herrnhutischer Geist auf den Kanzeln, der Gelehrsamkeit zur Sünde und Mangel der Religion zum Ursprung des Verderbens macht, kann den Geist einführen, Bibliotheken zu verbrennen. So arbeiten wir uns mit unserer zu feinen Cultivierung der Vernunft selbst ins Verderben hinein.


    Für mich klingt das nach einer frühen Kritik der „instrumentellen Vernunft“ – ein Begriff, den Adorno und Horkheimer im 20. Jahrhundert benutzen, um den geistigen Weg von der Aufklärung zum industriellen Völkermord in Auschwitz zu beschreiben.



    Ich versuche heute das Buch fertig zu lesen ...


    Das werde ich nicht schaffen.


    LG


    Tom

    Ich bin jetzt auch mit dem "schulischen Teil" fertig. Der Schulreformer Herder stimmt erstaunlicherweise nicht gedankenlos ein in den stimmgewaltigen Chor der damaligen Begeisterung für die antiken Kulturen. Er nimmt die antiken Sprachen nicht grundsätzlich wichtiger als die „lebenden“, räumt ihnen dennoch angemessenen Raum in seinem Curriculum ein. Zunächst Latein – eine tote Sprache, aber literarisch lebt sie; in der Schule kann sie leben. Der Autorenkanon enthält wenig Überraschungen, aber die Tatsache, dass er wenig übersetzen will, frappiert: Alles lebendig gefühlt, erklärt, Rom gesehen, das Antike einer Sprache gekostet … welche schöne Morgenröte in einer antiken Welt! Dann Griechisch, die wahre Blume des Altertums in Dichtkunst, Geschichte, Kunst, Weisheit! Sie sei zwar älter als das Lateinische, stelle aber trotzdem so etwas wie den End- und Höhepunkt der antiken Sprachkunst dar – alles ist auf sie bereitet, wie blühende Kinder auf ihre blühendere Mutter!


    Hebräisch schließlich müsste mit der kleinsten Auswahl und bloss als orientalische, botanische, poetische Sprache eines Buchs oder einer vortrefflichen Sammlung wegen getrieben werden. … Als orientalische Natur und Nationaldenkart betrachtet – welch eine Welt! Auch hier wieder Begeisterung für eine Sprache, die Herder eng verbunden mit der jeweiligen Kultur betrachtet. Das hat mWn. vor ihm noch keiner so gesehen.


    ... mitleidig belächelt von diesem Lackaffen Goethe ...


    Goethe hat es sich, so weit ich weiss, mit so ziemlich jedem Weggefährten verscherzt, auch mit Herder. Dem "Lackaffen" kann ich insofern zustimmen, als ich derzeit parallel zu Herder "Dichtung und Wahrheit" in der Hand halte - sehr viel Unverdauliches und Großkotziges findet sich darin, aber auch sehr viel Reflektiertes und Interessantes.



    ... vielleicht hat er auch seine Seele dem Teufel verkauft wie auch der Faust, wo wir wieder bei der unbewiesenen Vermutung wären, dass Goethe es bemerkt hat. :zwinker:


    Ja, das gefällt mir - ob es nun stimmt oder nicht!


    LG


    Tom


    ... dass es kein Wunder ist, wenn aus Herder nichts geworden ist ...


    Naja, Herder steht zwar ganz klar im langen Schatten Schillers und und vor allem Goethes, aber er wird immer noch in einem Atemzug mit ihnen genannt. Diese drei bilden zusammen mit Wieland das Viergestirn der Weimarer Klassik. Manch ein kluger Geist des 18. Jahrhunderts wäre gern so viel geworden, wie Herder war.


    Außerdem habe ich großen Respekt vor Leuten, die dazu beitragen, dass andere etwas werden. Warum rechnen wir es Herder deshalb nicht einfach positiv an, dass er auf den jungen Goethe großen Einfluss hatte? Obwohl der spätere Geheimrat wohl auch ohne die Begegnung in Straßburg etwas geworden wäre ... Nur was?


    LG


    Tom


    Mit Herders Schulkonzept bin ich durch. So einen Idealismus lass ich mir gefallen-da ist noch nichts vom späteren Geniekult zu spüren, da geht es um die Breite.


    Vielleicht schmücken sich deshalb so viele deutsche Schulen mit dem Namen Herder ...


    Aufgefallen ist mir, dass Herder immer wieder den praktischen und lebendigen Nutzen betont, den die Schule für das spätere Leben haben soll: Das wird ihn [den jungen Menschen] zu keinem Fremdling in der Welt machen. Die besondere Betonung des Sprachunterrichts ist wenig überraschend, und wenn er das Englische nicht erwähnt, dann wohl deshalb, weil es damals noch nicht so sehr in Mode gekommen war und England sich gerade erst auf den Weg machte, die halbe Welt in das Empire einzuladen. Der gebildete Deutsche sprach französisch, seine eigene Sprache galt ihm als unkultiviert. Herder bricht eine Lanze für das Deutsche, allerdings zulasten der lateinischen Sprache, was man evtl. als Angriff auf die (katholische) Kirche deuten kann.


    Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, dass Herder die sprachliche Vermittlung vom Katheder herab als untauglich ablehnt. Er nennt es mit Sprache und Gewohnheit lernen. Einige Zeilen später: Man müsse lehren, das zu finden, was die Sprache als Vorurteil einprägte. Diese Sprachskepsis hat mich überrascht.



    Ob seine stürmenden Kollegen über sowas Gedanken gemacht haben, oder haben sie ihn belächelt, so wie heute Reformer belächelt werden, denen Inhalte mehr bedeuten als Kosten?


    Mir fällt im Augenblick nur Schiller ein, der sich auch über Fragen der geistig-moralischen Erziehung ergossen hat, wenn auch auf einem sehr intellektuellen und elitären Niveau.



    Die meisten Einzelheiten in den politischen Bemerkungen, die er anspricht, sagen mit wenig bis nichts.


    Da bin ich noch nicht.


    LG


    Tom

    Mal eine Frage am Rande: Warum werden seit kurzem Leserunden-Ordner eröffnet, die erst in einigen Monaten aktuell werden (Laxness und Dostojewski)? Habe ich etwas verpennt? Gibt es neue "Regeln"?


    LG


    Tom

    Es ist schon ein Elend! Wenn man einmal anfängt, bestimmte Stellen in einem Werk nachzulesen, liest man sich mehr oder weniger automatisch fest – und zwar grundsätzlich in Kapiteln, die mit der ursprünglichen Leseabsicht nichts mehr zu tun haben. So erging es mir gestern mit Goethes „Dichtung und Wahrheit“. Eigentlich wollte ich die im 10. Buch festgehaltene erste Begegnung mit Herder noch einmal Revue passieren lassen in der Hoffnung, etwas Klarheit in die Beziehung der beiden jungen Denker zu bringen. Stattdessen blieb ich im 7. Buch hängen, wo Goethe mit der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts Schlitten fährt. Recht interessant das Ganze: viele Namen, die mir nichts sagen und die heute vermutlich zurecht vergessen sind; aber auch solche, die einen zweiten Blick evtl. lohnen. Wer, wie ich, das 18. Jahrhundert mehr oder weniger über die französischen Aufklärer Montesquieu, Voltaire, Rosseau, Diderot kennenlernte, staunt jedenfalls nicht schlecht über die Vielfalt der deutschen Literatur in der Vorgoethezeit, die aus mehr bestand als Klopstock und Lessing.


    Zurück zu unserem Freund J.G. Herder. Ich bin das bisher Gelesene (bis S. 31) noch einmal mit dem Bleistift durchgegangen. Dabei stieß ich auf die unterschiedlichen Vorstellungen, die sich der junge Stürmer und Dränger bezüglich seiner selbst macht. Mal wünscht er als Reformator wirken zu können, als zweiter Zwingli, Calvin oder Luther die Barbarei zu zerstören; dann möchte er Lehrer und Prediger einer verbesserten evangelischen Religion sein („... ein Prediger der Tugend deines Zeitalters!“); kurz zuvor sah er sich als Sammler europäischer Mythen, um daraus eine philosophische Theorie zu ziehen; eng damit verknüpft ist seine Vorstellung, als Geschichtsschreiber „ein Werk über das menschliche Geschlecht! den menschlichen Geist! die Cultur der Erde!“ zu verfassen. Ein buntes Projektgemisch, von dem wir heute wissen, welchen Weg es nahm.


    Wie weit seid Ihr, liebe MitstreiterInnen?


    Zum einen war das Verhältnis zwischen Goethe und Herder immer wieder von vielen Verstimmungen getrübt ...


    Ja, aber wohl erst in der gemeinsamen Weimarer Zeit. Die erste Begegnung in Straßburg (1770? Ich müsste es nachlesen) beschreibt Goethe ausführlich in "Dichtung und Wahrheit". Soweit ich mich erinnere, war der spätere Geheimrat fasziniert von der Gelehrtheit des fünf Jahre älteren Herder. Auch Arno Schmidt äussert sich ähnlich in seinem Herder-Essay.



    ... ich habe die Stelle des Nachwortes auch gelesen: Wenn ich den Autor richtig verstanden habe, so geht es ihm beim Vergleich mit Faust einzig um den Aspekt, dass Herder im Journal klagt, er habe zu viel studiert und zu wenig gelebt.



    Nach den ersten Seiten des Journals kommt mir das auch plausibel vor.


    Belassen wir es dabei.


    Ich bin noch nicht weiter vorangekommen, weil ich erst noch Kellers "Grünen Heinrich" beendet habe.


    Da fehlt ein "s" ... :breitgrins:


    Das eine schließt das andere nicht generell aus ... :zwinker:



    Darf ich fragen, von wem das stammt? Ich schüttle gerade bei jedem Teil, den Du daraus zitierst, den Kopf ... :rollen:


    Der Autor wird namentlich nicht genannt. Ich lese die handelsübliche historisch-kritische Reclam-Ausgabe. Herausgeberin ist Katharina Mommsen, Mitarbeiter sind Georg Wackerl und Momme Mommsen. Eine der genannten Personen wird wohl für das Nachwort verantwortlich zeichnen.


    Worüber im Detail schüttelst Du Dein weises Haupt?


    Einfach wird es für mich nicht mit den Stürmern und Dränglern, so mein Eindruck nachdem ich die ersten Seiten überflogen habe.


    Naja, es ist keine wirklich schwere, aber dennoch alles andere als einfache Lektüre, dieses Journal. Ein wilder, aber nicht ungeordneter Gedankensturm lässt den Leser oft ratlos, manchmal auch fassungslos zurück. Die Sprache des Journals ist nicht die eines ordentlichen Tagebuchs, sondern eines in Hetze entstandenen Notizbuchs. Möglicherweise ist das Notieren von Gedanken exakt die Intention, die Herder mit dem Journal verfolgt. Wir werden sehen.


    Da es nicht für die Veröffentlichung zu Lebzeiten konzipiert wurde, geht der 25jährige Herder im Journal ehrlich und hart mit sich zu Gericht, lamentiert über nicht genutzte Möglichkeiten, stellt sowohl sein Bücherwissen als auch sein Dasein an Katheder und Kanzel in Frage und weiß nicht so recht, wohin die Reise ihn eigentlich führen wird.


    Im Nachwort meiner Ausgabe wurde kurz darauf hingewiesen, dass der Autor des Journals Goethe durchaus als Vorbild für seinen Doktor Faust gedient haben könnte – wenn, ja wenn Goethe dieses Schriftstück je gelesen hätte. Hat er aber nachweislich nicht (denn es wurde erst nach seinem Tod publiziert) und deshalb ist es umso erstaunlicher, wie Faust die Züge des jungen Herder annahm. Goethe war gut bekannt mit dem fünf Jahre älteren Geistesgenossen; vielleicht hat er ihm im „Faust“ ein unsterbliches Denkmal gebaut. Denkbar ist es allemal.


    Auf schwankenden Schiffsplanken philosophiert Herder über die „philologische Ausbeutung“ der von einfachen Seeleuten gesponnenen Reise- und Horrormärchen sowie über die großen antiken Griechenepen, die seiner Meinung nach einen maritimen Hintergrund haben, was ein durchaus interessanter Gedanke ist. Von der sonnigen Welt der Griechen kommt er auf die nebelverhangenen nordischen Mythen, und nun fällt erstmals der Name Ossian, der für die ab 1760 in England veröffentlichten und als authetisch angenommenen „keltischen Sagen aus der Frühzeit Britanniens“ steht – alles reine Erfindung, wie schon Herders Zeitgenossen zunächst ahnten und später tatsächlich herausfanden. Goethe hat diese Kelten-Schwärmerei abgelehnt und sogleich in seinen „Werther“ gepackt als Symptom für die kranke Seele des Helden. Herder war indessen schier begeistert von der schottisch-gälischen Nebelwelt, was der Verfasser des Nachworts auf eine grundsätzliche Veranlagung zu Melancholie und Schwermut zurückführt. Herder als Depressiver?


    Ich bin gespannt, wie es weitergeht und wie Ihr die Lektüre empfindet.