Beiträge von Sir Thomas

    Soviel ich weiß war das allerdings nicht die böse Absicht der Brüder Grimm, sondern viel mehr der Umstand, dass sie alte Frauen nach Geschichten gefragt haben und diese Frauen französische Hugenotten waren, die diese Märchen aus ihrer Heimat mitgebracht haben.


    Das ist, wenn ich richtig informiert bin, ein (tschuldigung) Märchen. Die Herren Grimm sassen gemütlich an ihrem Schreibtisch, liessen sich die Geschichten zuliefern (z.B. von Leuten wie Brentano und Arnim) und haben sie dann umgeschrieben. Sie taten dies in dem Glauben, das Material sei echt und ursprünglich. Insofern stimmt es: die Quellen haben sie nicht überprüft.

    Da im Umberto Eco-Ordner derzeit über Verschwörungstheorien im Allgemeinen und die "Protokolle von Zion" im Besonderen debattiert wird, scheint ein Ordner für berühmte literarische "Verschwörungen" angebracht zu sein.


    Spontan fallen mir folgende "Fakes" ein:


    Die kurz nach 1700 von einem Franzosen herausgegebenen "Märchen aus 1001 Nacht" sind keine Originalgeschichten aus dem Orient, sondern Erfindungen eben jenes Franzosen, der auf den Namen Galland hörte.


    Die keltische Nebelwelt des "Ossian", von der u.a. Herder so begeistert war, stammt nicht, wie behauptet, aus grauer Vorzeit Britanniens, sondern war das Produkt eine cleveren Schotten, der jedoch frühzeitig als Schwindler enttarnt wurde.


    Und noch einmal müssen wir die Märchenwelt als Brutstätte für Komplotte aller Art nennen: "Grimms Hausmärchen" aus dem Jahr 1812 beruhten ebenfalls nicht auf authentischen Quellen germanischer Fabulierlust, sondern stammen zumeist aus einer kurz vor 1700 veröffentlichten französischen Märchensammlung - was nicht heisst, dass diese Geschichten unbedingt französischen Ursprungs sein müssen.


    Fallen Euch weitere "Fälschungen" und "Verschwörungen" ein?


    LG


    Tom

    Wenn Heinrich v. Kleist (der sich heute vor 200 Jahren das Leben nahm) ein Zeitgenosse wäre, dann sässe er vermutlich jetzt auch vor dem Computer, würde chatten und posten, stilvoll vereinsamen, manisches Zeug tippen und unter seiner Erfolglosigkeit leiden. Das ist nicht etwa meine persönliche Meinung, sondern die des Schauspielers Ulrich Matthes (gefunden in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung). Kleist als einer von uns? Keine unsympathische Vorstellung ...


    LG


    Tom


    Reizt es dich ein weiteres Werk von Herder zu lesen?


    Durchaus. Ich finde das Herdersche Denken faszinierend, seine Sprache intelligent und vieldeutig. Wenn derartig wichtige Kriterien erfüllt sind, lasse ich einen Autor so schnell nicht aus meinem Leben gehen.


    In elektronischer Form liegen mir vor:
    --> Von deutscher Art und Kunst (darin u.a.: Briefwechsel über Ossian sowie der berühmte Shakespeare-Aufsatz)
    --> Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (ein Theologe demontiert die Bibel - das kann spannend sein!)
    --> einige Briefe zur Beförderung der Humanität


    Aber es eilt nicht.


    :winken:


    Tom


    Vor allem Frankreich, an dem Land lässt er ja gar kein gutes Haar. Aber auch alle anderen Länder entsprechen offenbar nicht seiner Vorstellung wie ein Staat zu sein hat.


    Offensichtlich repräsentierte Frankreich für Herder die schlimmsten Übel seiner Zeit: Absolutistische Herrschaft und Adelswillkür, gepaart mit höfischer Galanterie und Oberflächlichkeit. Ja, es stimmt: In ganz Europa wittert Herder Verfall und Untergang - und es hat mich gewundert, dass er Rußland davon ausgenommen hat. Spricht da der Träumer, der sich von der deutschen Zarin Katharina Reformen versprach?

    Ich bin mittlerweile fertig.


    Herder schreibt über seine Innenwelt und wählt dazu rätselhafte Bilder: Gefühl für Erhabenheit ist also die Wendung meiner Seele. … Meine Leben ist ein Gang durch gothische Wölbungen, oder wenigstens durch eine Allee voll grüner Schatten: die Aussicht ist immer ehrwürdig und erhaben; der Eintritt war eine Art Schauder. „Erhabenheit“ als eine Art Grundstimmung der Seele? Das klingt nach dauerndem Überwältigtsein von all den Dingen, die täglich gesehen und erlebt werden, nach kindlichem Staunen …


    Dann dies: Die menschliche Seele hat ihre Lebensalter, wie der Körper. Herder gesteht, dass er sich bereits in seiner Jugend alt fühlte, stutzig, betäubt, vollgestopft mit Bücherwissen. Das führt ihn zum letzten großen Thema des „Journals“: den Überlegungen zu Jugend und Veraltung der menschlichen Seelen und den Fragen, was die Seele vorzeitig altern lässt bzw. jung erhält. Neugier, Einbildungskraft , Leidenschaft und der Gebrauch aller Sinne sind für Herder typische Eigenschaften der jungen Seele. Wenn diese Anlagen nicht gefördert oder gar unterdrückt werden (bspw. in der Schule), altert die Seele schnell und vorzeitig. Interessant: Ohne Körper ist unsere Seele im Gebrauch nichts: mit gelähmten Sinnen ist sie selbst gelähmt. Da hat jemand offensichtlich das antike „Mens sana in corpore sano“ wiederentdeckt.


    Herder bedauert, dass seine Zeit keine Verwendung für den glücklichen, sportiven Jüngling der Antike hat: Wir sind im Jahrhundert der Erfahrungen, der Verwaltung, der Politik, der Bequemlichkeit, wo wir wie andere denken müssen. Die Jugend steht unter Anpassungszwang und Konformitätsdruck, kann nicht mehr all die wertvollen Phänomene sehen, damit sie in ihnen leben. Wenn der gute Herder heute unsere Schulen und mehr noch die Universitäten besuchte, so wäre er sicher zutiefst erschüttert über die Bachelorisierung unserer Bildung.


    LG


    Tom


    Ich meinte mit dem Übermenschen Herder selbst, der mit all seinen Theorien und Vorhaben nahezu die gesamte Welt umfasst.


    Ach so, jetzt leuchtet mir Deine Formulierung ein.



    Ich bin übrigens gespannt auf Goethes Eindrücke über Herder in "Dichtung und Wahrheit".


    Dazu könnte ich Dir einiges mitteilen, weil ich "D.u.W." parallel zum Herder-Journal lese. Aber ich will Dir den Spaß nicht verderben, der sich ohnehin in Grenzen hält. Goethe bastelt derart penetrant am eigenen Denkmal, dass es ans absolut Lächerliche grenzt. Ein spannendes Dokument, wie man sich selbst zu ernst nimmt und damit selbst (unabsichtlich) demontiert ...


    :winken:


    Tom

    Ich nehme mal den bereits an anderer Stelle erwähnten Radioessay "Vom Primzahlmenschen" (Arno Schmidt) in diese Sammlung auf. Schmidt beschreibt Herder darin als einen polyhistorisch angelegten Geist, der seine Gelehrten- und Schriftstellerkarriere durch kosmopolitische Lockerheit begann, sich später immer mehr in Widersprüche verstrickte und zuletzt als ein Mensch endete, der, wie eine Primzahl, nur durch sich selbst und durch eins teilbar war. Schön formuliert, genau wie die Charakterisierung des Herderschen Schreibstils: "Köstlich verwildert".


    Sowohl den Baudolino als auch "Die Insel des vorigen Tages" betrachte ich als intelligente Unterhaltungsromane. Meine Schwierigkeiten hatte ich mit "Das Faucaultsche Pendel"


    Wer hatte diese Schwierigkeiten nicht? Im "Pendel" hat Eco des Guten eindeutig zu viel getan, obwohl ich schon irgendwie fasziniert war. "Die Insel ..." zähle ich, so wie Du, zu den intelligenteren Unterhaltungsromanen. Vielleicht berichtet hier mal jemand über den "Friedhof in Prag".


    LG


    Tom


    Hat jemand schon sein neues Werk, "Der Friedhof in Prag", gelesen? Mich persönlich reizt es, nachdem ich diverse Rezensionen und Kurzbeschreibungen gelesen habe, nicht sehr.


    Hi Shirley,


    Eco hat seine große Zeit gehabt. Was den "Friedhof ..." betrifft, werde ich abstinent bleiben. Der Baudolino-Schock sitzt zu tief ... :breitgrins:


    LG


    Tom


    Der "Grüne Heinrich" ist einer meiner Lieblingsromane. Ich sehe in dessen Tonfall viel Ähnlichkeit zu Jean Paul - immer erscheint die Sprache etwas heiter, die Sicht auf die Welt ist eine halb-spaßhafte, aber dieser belustigte Ton scheint immer kurz davor, in tiefe Melancholie zu kippen.


    Einen Lieblingsroman würde ich den "Grünen Heinricht" nicht gerade nennen, aber er hat (in der Ursprungsfassung) sicher seine Qualitäten. Wirklich heiter geht es mMn. nicht zu im Leben des Helden. Unfähig, seine Liebe zu gestehen, hin und hergerissen zwischen dem lebendigen Vollweib Judith und der ätherisch-morbiden Anna, trifft er die denkbar schlechteste Entscheidung (nämlich die der leidenden Entsagung). Auch die Künstlerkreise, in den er später verkehrt, sind nur ausnahmesweise lebenslustig, z.B. während des Karnevals, und verlogen bis ins Mark. Heinrich lebt vollkommen parasitär, er verbraucht das wenige Geld seiner armen Mutter, macht Schulden und ist nur kurz vor der Abreise aus München in der Lage, eigenständig ein wenig Geld zu verdienen - bezeichnenderweise nicht mit echter Kunst.


    Für mich ist "Der grüne Heinrich" ein zutiefst melancholisch-pessimistisches Werk. Es geht um das Scheitern als Künstler, das Scheitern im Leben. Und um den (Selbst)Betrug der Kunst. Schon als Schüler der dubiosen Habersaatschen Werkstatt täuscht Heinrich seinen Lehrer mit boshaftem Vergnügen: "Ich erfand, irgendwo im Dunkel des Waldes sitzend, immer tollere und mutwilligere Fratzen von Felsen und Bäumen und freute mich im voraus, dass sie mein Lehrer für wahr erachten würde.“


    In München vervollständigt er diese "illusionäre" Art des Malens. Heinrich "zog es vor, eine ideale Natur fortwährend aus dem Kopf zu erzeugen, anstatt sich die tägliche Nahrung aus der einfachen Wirklichkeit zu holen. … Er versenkte sich nun ganz in jene geistreiche und symbolische Art. … Die Gegenstände waren fast immer solche, deren Natur er nicht aus eigener Anschauung kannte, ossianische oder nordisch mythologische Wüsteneien, zwischen deren Felsenmälern und knorrigen Eichenhainen man die Meereslinie am Horizont sah, düstere Heidebilder mit ungeheuren Wolkenzügen oder förmliche Kulturbilder, welche etwa einen deutschen Landstrich im Mittelalter, mit gotischen Städtchen, … kurz ein ganzes Weichbild aus einem andern Jahrhundert ausbreiteten."


    Zur Kunst hat er zu diesem Zeitpunkt allenfalls noch ein extrem nüchternes, materielles Verhältnis. Deshalb lässt Keller (der vermutlich all dies so oder ähnlich erlitten hat) seinen Helden verarmen, scheitern und schließlich sterben. Was für ein Kontrast zu der heimeligen Rosenhaus-Athmosphäre in Stifters "Nachsommer"!

    Kleine Anekdote am Rande: Ich habe mittlerweile Goethes erste Begegnungen mit Herder im 10. Buch von "Dichtung und Wahrheit" gelesen. Sie trafen sich zufällig 1769/70 in Straßburg. Der eitle und verwöhnte Fatzke Goethe war schwer irritiert von der Art, wie der "gutmütige Polterer" Herder seine Unreife zerpflückt, verspottet und ihm viele Dinge, der er für groß hielt, regelrecht madig machte. Goethe resigniert: "Von Herder konnte man niemals eine Billigung erwarten."


    Goethe war aber auch fasziniert von dem fünf Jahre Älteren, von dessen Belesenheit und kluger Analyse. "Seine Gespräche waren jederzeit bedeutend. ... Nun wurde ich auf einmal mit allem neuen Streben und all den Richtungen bekannt, welche dasselbe zu nehmen schien."


    Wenn ich mich recht erinnere, hatten die beiden später, in der Weimarer Künstlerkolonie, mächtig Stress miteinander. Aber mit wem hat Goethe es sich nicht verdorben?

    Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen ...


    Zu Herders Sprachphilosophie: Welchen Einfluss hat der herrschende „Zeitgeist“ auf den Geist einer Sprache? Herder knöpft sich die damals in Europa führende französische Sprache vor, um zu zeigen, dass der Geist der monarchischen Sitten und des höfischen Lebens der Ausdrucksweise Politur gegeben haben. Das Gefällige, Galante und Amüsante bildet Herder zufolge den Hauptton der französischen Sprachkunst. Man will gefallen und zeigen, dass man Erziehung hat. Diese Galanterie sei aber keineswegs die Sprache des Affekts und der Zärtlichkeit, sondern des Umgangs und letztlich nicht mehr als ein Kennzeichen, dass man die Welt kenne. Eine Sprache als Kunst, zu brillieren, als eine Logik der Lebensart. Mit diesem Geist gehe dem Franzöischen allerdings das innere Gefühl verloren, der sprachliche Wohlstand ist für Herder eine Barriere für den Geist. Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit seien die Folgen, insbesondere in der Literatur. Das wahre Lachen ist aus der feinen neuen französischen Comödie so glücklich ausgestorben, als der wahre Affekt von ihrem Trauerspiel.


    Diese Distanzierung von der französischen Sprache und Kultur findet sich nicht nur bei Herder. Auch Lessing lehnte die Sprache der absolutistischen Herrschaft ab und sah zeitlebens in den antiken Sprachen den Höhepunkt der menschlichen Entwicklung. Das ist natürlich nationalistischer Unfug und nimmt m.E. nur das vorweg, was später in den Befreiungskriegen gegen Napoleon gedichtet wurde:
    Schlagt sie (=die Franzosen) tot, das Weltgericht
    Fragt Euch nach den Gründen nicht.

    Ich meine, dass es Heinrich von Kleist war, der für diese Hetze verantwortlich war (bin mir allerdings nicht ganz sicher).


    LG


    Tom


    Man könnte natürlich untersuchen, wie das Anwachsen der Druckerzeugnisse verlief, die sich mit Wissen befassten (klammern wir aber Philosophie und Theologie für die Neuzeit aber aus) und dann nach einer Schwelle suchen, ab der kein Überblick mehr möglich ist.


    Das ist ein möglicher Indikator für das, was wir zeitlich nicht so genau festlegen können. Ob es eine derartige Statistik gibt? Ich habe Zweifel.



    Ich denke da zwar ganz anders, aber selbst wenn wir 10 Jahre darüber streiten würden kämmen wir zu keiner Übereinstimmung. Deine Argumente sind ja nicht zu widerlegen wie man es mit einer falschen mathematischen Aussage machen könnte.


    Mir geht es nicht um Übereinstimmung, Lost, und auch nicht darum, wer richtig oder falsch liegt. Wir benötigen auch deutlich weniger als zehn Jahre, um festzuhalten, dass wir von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Dich interessiert das Anwachsen des gedruckten Wissens sowie der dadurch entstehende Effekt, den Überblick zu verlieren. Mich interessiert die grundsätzliche Entstehung der Denkweisen, die dazu geführt haben, dass Wissen massenhaft "produziert" wurde. D'accord?


    LG


    Tom