Mich hat der kleine, feine Roman von Lukas Bärfuss durchaus überzeugt, wenngleich er auch Fragen offen gelassen hat. Das kann aber wohl bei diesem Thema nicht anders sein.
Der Roman ist das literarische Produkt einer Krise: Der Bruder des Erzählers hat sich das Leben genommen. Die Erzählung setzt allerdings vor dieser Tat an. Bärfuss besucht anläßlich eines Vortrags über Kleist (ebenfalls ein Selbstmörder) seine alte Heimatstadt Thun. Dort trifft er auch seinen Bruder, dessen Leben sich in engen Kreisen bewegte und der Thun nie wirklich verlassen hat. Auch bei diesem Besuch kommen die beiden sich nicht wirklich nahe. Wenig später erreicht ihn die Nachricht vom Tod seines Bruders.
Dieser Tod betrifft ihn. Er stellt ihm Fragen, die er nicht beantworten kann. Er verunsichert ihn auf eine zunächst gar nicht wahrzunehmende Weise. Versuche, mit anderen über diese Erfahrung zu sprechen, scheitern kläglich. Selbst Menschen, die eine ähnliche Situation erlebt haben - also auch Angehörige durch Suizid verloren haben - verharren in einer fast bockigen Sprachlosigkeit.
Überhaupt: Wer war denn der Bruder? Angesichts dieses unerklärlichen Todes beginnt Bärfuss mit einer Rekonstruktion des Bildes seines Bruders. Und weil er ihm realen Leben und in den wenigen Berührungspunkten, die sich zwischen den beiden Männern ergaben, kaum fündig wird, gräbt er weiter. Der Bruder war Pfadfinder, ihm war im Zuge eines Initiationsritus ein Totem, ein Pfadfindername gegeben worden: Koala.
Daran hängt Bärfuss sich. Akribisch verfolgt er die Geschichte nicht nur des putzigen Tieres, sondern auch dessen Entdeckung durch Siedler. Erzählt wird die Geschichte der Kolonisierung Australiens, der ersten Siedler. Bärfuss erzählt das so ausführlich, weil er darin nach Motiven sucht, die ihm etwas über das innere Wesen seines unbekannten Bruders enthüllen, das ihm dessen Tod einsichtig, erklärbar oder vielleicht auch nur nachvollziehbar werden lässt.
Am Ende bleiben - wie könnte es anders sein - angesichts des Selbstmordes die entscheidenden Fragen nach wie vor offen. Aber nicht zuletzt sprachlich vollzieht das Buch einen Weg, der die innere Auseinandersetzung mit diesem Ereignis nachvollzieht. Bärfuss beginnt im hohen Ton Kleists, der Beginn des Buches ist rhythmisch durchkomponiert in langen kleist'schen Satzreihungen. Das Unfassbare soll hier noch mit den Mitteln der Kunst gebannt werden, die Bärfuss zur Verfügung steht. Es soll eingepasst, in den bekannten Lebensrahmen eingefügt werden. Aber dieser Versuch scheitert. Und so ändert sich die Sprache, je tiefer der Erzähler auf die existenzielle Ebene der Auseinandersetzung mit dem Tod des Bruders - und mit seinem eigenen Tod einlässt. Das Buch endet in einer viel direkteren, klareren Prosa mit der Beschreibung der Trauerfeier für den Bruder.
Ein kleines, aber trotzdem wirklich gelungenes, in Teilen auch großes Buch!