Kapitel 48 "Das erste Wegfieren" habe ich heute zum zweiten Mal gelesen, weil ich nicht sicher war, gestern alles richtig verstanden zu haben ...
Wir bekommen die erste Waljagd, die in einem völligen Fiasko endet. Kein Wal erlegt, Ismaels Fangboot zertrümmert, es ist reines Glück, dass die Mannschaft des Fangboots überhaupt vom Schiff aufgenommen werden kann. In diesem Kapitel geht die Erzählperspektive vom Personalen ins Auktoriale (wie schon mehrmals); was da erzählt wird, kann Ishmael gar nicht alles wissen. Soweit ich mich erinnere, sitzt er in Starbucks Fangboot zusammen mit Queequeg als Harpunier.
Eine bezeichnende Metapher ist der auf den Schultern des "Negers" Daggoo stehende kleine hellhäutige Flask. "Der Träger schaute eher aus als der Reitersmann", stellt Ishmael fest, schildert eingehend Flasks Gezappel auf seinem kernfest stehenden Träger und resümiert: "Solchermaßen habe ich Leidenschaft und Eitelkeit auf die lebendige großmütige Erde aufstampfen sehen, doch die Erde hat drum doch nicht ihre Jahreszeiten und Gezeiten geändert."
Ehrlich gesagt hat mich neute, beim zweiten Lesen, das Grauen gepackt - die geschilderte Situation, wie die Besatzung des Fangboots ins Meer springt, kurz bevor die Pequod das Boot überrennt, ist unfassbar beängstigend. Und das ist erst der Anfang. Die allererste Waljagd.
In Delbancos Biographie habe ich die Anmerkungen zu"Moby Dick" bereits hinter mir und heute morgen das Kapitel zu "Pierre oder die Doppeldeutigkeiten" (ich hoffe, der Titel ist halbwegs korrekt zitiert) gelesen. Delbanco geht eingehend alle sexuellen Anspielungen ein, die er, bzw. die Literaturkritik überhaupt, in diesem Werk ausgemacht hat; insbesondere findet er (wie bereits in Moby Dick) etliche Belege für Melvilles homosexuelle Neigungen. Ich war überrascht zu lesen, dass es zu Melvilles Zeiten nicht mal das Wort "homosexuell" oder ein anderes Wort für die entsprechende Veranlagung gab. (Walt Whitman z.B. bezeichnete eine erotische Beziehung unter Männern als "Adhäsion".)
Ein Exkurs: Was mich aber wirklich auf die Palme gebracht hat, waren Delbancos Ausführungen über Melvilles sexuelle Frustration während des Wochenbettes seiner Frau. "Besser geeignet, schlechte Laune zu heilen ud gute hervorzurufen, als jegliches Mobiliar auf der Welt ist der Anblick eines liebreizenden Weibes" schrieb Melville in "White-Jacket" (Zitat nach Delbanco, ich kenne das Buch nicht), doch wenn "die Kinder zahnen, so sollte die Kinderstube ein paar Treppen weiter oben sein, auf See etwa auf dem Kreuzmars", wo immer das sein mag. Das sind Zitate nach Melville, ich zitiere darüber hinaus Delbanco: "Doch wenn die Frau das Baby schaukelt oder die Kleinen ihr den letzten Nerv rauben, büßt sie ihren Reiz vielleicht ein".
Diese unbekümmert unverschämte Grundeinstellung, die Ehefrau allein von ihrem erotischen Nutzen für den Mann her zu definieren, hat einen wenig schmeichelhaften Widerpart in Helene Böhlaus Roman "Halbtier", den mir ein Freund vor ein paar Jahren geschenkt hat. Exakt das gleiche - aus der Gegenperspektive - kann man da lesen; die verbitterte Frau sagt selbst, dass sie am besten samt dem Neugeborenen während des Wochenbetts ausziehen solle, da die Qualen und die Nachwirkungen der Geburt und die Bedürfnisse eines Kleinkinds dem Vater nicht zuzumuten seien; das überfordere seine Nerven. Der Roman endet übrigens damit, dass die Schwester jener Ehefrau den Mann erschießt.
Im Winter 1852 litt Melvilles Frau an einer Brustentzündung, die sich über Monate hinzog. Delbanco resümiert: "Melville litt sexuelle Not, als er Sex als literarisches Thema in "Pierre" einführte."