Hallo Bartlebooth,
ich glaube, ich bin zunächst mit deiner einleitenden Trias nicht vollkommen einverstanden: Wissenschaft muss zwar tatsächlich von Mythos, Kunst usw. zu unterscheiden sein (ist sie ja auch), aber mE nicht durch die zwei folgenden Punkte (empirische Bestätigung und Reproduzierbarkeit, wobei es mir, ehrlich gesagt, schwer fällt, beides in deiner Argumentation auseinanderzuhalten). Diesen Begriff von Wissenschaft, der sich auf eine Existenz in der "Wirklichkeit" stützt, die er als "Wahrheit" zu erkennen hilft, indem er objektive und also empirisch nachzuweisende und immer eins zu eins reproduzierbare Thesen produziert, ist für die Betrachtung von Kunst und Literatur offenkundig unbrauchbar - weil sie es eben immer auch mit der Beschreibung von höchst unterschiedlichen Meinungen und ästhetischem Empfinden zu tun hat.
Vorweg: Ich habe bewusst eine stark an der Naturwissenschaft sich orientierende Definition für Wissenschaft herangezogen. Unter empirischer Bestätigung verstand ich den Beleg der These durch unterschiedliche Texte, während die Reproduzierbarkeit darauf abzielt, unter gleichen Voraussetzungen beim selben Text zum selben Ergebnis zu kommen. Das aber ist nicht so wichtig, ich habe diese Dinge eigentlich nur deshalb hervorgehoben, weil ihre Verwirklichung in der Literaturwissenschaft offenkundig unmöglich ist, um diesen Gegensatz (provokativ) zu betonen.
Das Ganze könnte zu einer Definitionsfrage verkommen. Wolfgang Neuser im Metzler Phil.lexikon definiert Wissenschaft als eine theoretische Erklärung von Wirklichkeitszusammenhängen und fordert "die prinzipielle Reproduzierbarkeit der Ergebnisse" als Kriterium für strenge Wissenschaftlichkeit. All das kann die Lit.wissenschaft nicht erfüllen, entsprechend dieser Forderung (die Akzeptanz der Definition vorausgesetzt) müsste sie man ihr also einen anderen Namen geben. Aber diese Kindstaufe ist im Grunde ohnehin sekundär.
Dieser Schwierigkeit wurde in einer eher traditionell hermeneutischen Lit.wiss. Rechnung getragen, indem auf so etwas wie "tieferen Sinn" rekurriert wurde: Das ist in der christlichen Bibelexegese, die du als Beispiel nennst, nicht viel anders als bei Dilthey (bei dem ich mich, zugegeben, nicht wirklich gut auskenne) und seinem emphatischen Erlebnisbegriff.
Schon bei Dilthey (den ich keinesfalls gut zu kennen glaube) beginnt bei mir das Stirnrunzeln. Das, was er unter Anlehnung an Schleiermacher postuliert, mutet für mich als simple Selbstverständlichkeit an. Im Grunde ist es die Abkehr von einem Offenbarungsverständnis, der Text als solcher ist nicht das einzig entscheidende, der lesende (interpretierende) Mensch hat auf diese Rezeption einen Einfluss. Nun weiß ich nicht, ob Schleiermacher der erste war, welcher auf diesen Zusammenhang hinwies, mir will diese Erkenntnis als Binsenweisheit erscheinen.
Dieser nun nicht mehr automatenhaft funktionierende Leser soll sich in den Autor einfühlen können (oder es zumindest versuchen), um dessen Intentionen zu durchschauen, des weiteren wird ein hermeneutischer Zirkel (Dilthey) beschrieben, der von einem Vorwissen des Lesers ausgeht, welches im Lesen selbst eine Modifikation erfährt. Beide Dinge scheinen eng miteiander verknüpft und ebenfalls nicht der Weisheit letzter Schluss zu sein: Dass jemand, der ein Buch liest, etwas dazulernt, dass sein Wissen vergrößert, modifiziert wird, dass diese erweiterte Erkenntnis wieder auf das Lesen zurückwirkt, dass eine Kenntnis der Lebensumstände des Autors eine veränderte Betrachtungsweise bewirken - dies alles ist wirklich keine große Einsicht. Auf diesem Prinzip ruht jede Schulausbildung; irgendwie glaubt man, dass den Rackern etwas beizubringen ist und manchmal ist man tatsächlich versucht, diesem Glauben zuzustimmen. Wer liest - lernt etwas; und dieses Gelernte wird beim Lesen erneut auf das Verständnis des Textes rückwirken.
Was mich so ausführlich über derlei schreiben lässt ist ein m. E. schon bei der Hermeneutik erkennbarer Vorgang, in hochkomplizierter Terminologie (von Zirkeln sprechend, welche sich auf Götterboten berufen) Gemeinplätze breitzutreten und ihnen den Nimbus des Hochgeistigen zu verleihen.
(Der diltheysche Erlebnisbegriff - soweit ich ihn kenne bzw. verstanden habe, hat etwas ähnlich Plattes: Der Dichter gestaltet ein Erlebnis auf individuelle und beispielhafte Weise; ausgehend von einer weitgehenden Homogenität unserer Kultur kann sich nun der Leser einfühlen. Kritik an diesem Konzept wurde z. B. von jenen geübt, die an ein solches kulturübergreifendes Verstehen nicht glauben. Ich habe aber schlicht den Eindruck, dass auch diese Kritik nur ausspricht, was ohnehin selbstevident ist: Je ähnlicher das kulturelle Umfeld von Autor und Leser einander sind, desto eher werden sie einander verstehen. Lernen auch hier nicht ausgeschlossen ;-)).
Der Strukturalismus versuchte seinerseits eher positivistisch auf die genannte Schwierigkeit zu reagieren: Da wurden Texte zB auf Worthäufigkeiten, Ideolekte (also: bestimmte Fach- oder Gruppensprachen) oder Handlungsschemata hin abgeklopft, eine Analyse bezog sich vor allem auf das vorhandene Sprachmaterial, das als vermeintlich "objektiv" zugängliche Ebene eines Textes betrachtet wurde. Der Strukturalismus hat damit einen wichtigen Beitrag zur Klärung des Wissenschaftsbegriffs in Bezug auf Literatur geleistet, indem er das Material, das auf dem Papier steht, als den zentral zu analysierenden Baustein auswies (das Schlagwort heißt linguistic turn in der Lit. wiss.). Viele strukturalistische Studien kann man immer noch mit großem Gewinn lesen.
Diesem linguistic turn kann ich zumindest in der Philosophie nichts abgewinnen (Popper sprach davon, dass ihm die Sprachphilosophen wie Zimmerleute vorkämen, die ihre gesamte Arbeitszeit mit dem Schärfen der Werkzeuge verbringen). Ein Primat der Sprache als wirklichkeitsproduzierend (-konstituierend) erscheint mir abstrus, wäre aber eine völlig andere Diskussion. In der Literaturwissenschaft habe ich hingegen häufig die Abenteuerlichkeit zum Prinzip erhoben gesehen. Oder aber den Eindruck gewonnen, dass die Analyse in jedem Fall eine vorgefertigte Meinung bestätigen soll, was sich mit einiger Kreativität sich bewerkstelligen ließ. (Das müsste man natürlich für jede einzelne Arbeit kritisieren, ich will - und kann - nicht ausschließen, dass sich unter diesen Arbeiten auch Hervorragendes verbergen könnte. Meine Erinnerung ist die an strukturalistische Erbsenzählerei. Im übrigen versuche ich vergeblich, mir eine genaue Vorstellung einer strukturellen Analyse zu bilden, hier wird in Teile zerlegt und nach neuen Gesichtspunkten zusammengefügt, die neuen Strukturen interpretiert, verglichen - und irgendwie hat die Vorgehensweise etwas Beliebiges. Aber - wie erwähnt, kann man diese Kritik wohl nur an konkreten Arbeiten festmachen.)
Der Poststrukturalismus behält die Fixierung aufs Textmaterial bei, weist aber darauf hin, dass individuelle Rezeption, diskursive Verortung, historischer Zeitpunkt u. dgl. mehr, ganz viel mit dem Material anstellen, so dass dieses keineswegs objektiven Charakter (im Sinne eines Apfels, der vom Baum fällt) hat.
Ups - da war eine Wortbildung, bei welcher sich meine Nackenhaare sträubend meldeten und die mir erklärungsbedürftig erscheint: Diskursive Verortung. Ein von Foucault eingeführter Begriff? (Diese Art von Wörtern sind es im übrigen, die mich bei der Lektüre verärgern. Ich pflege langsam zu lesen und versuche zumindest, den vor mir liegenden Text zu verstehen. Stoße ich auf einen Satz, der mir unklar ist, so lese ich ihn nochmal, lese vielleicht noch einen Absatz, eine oder mehrere Seiten weiter. Wird mir keine Erleuchtung zuteil, geschieht das im Gegenteil immer und immer wieder - lege ich meist das Buch weg. Wobei es eben meist Begriffe wie der oben erwähnte sind, die die Dunkelheit der Textstellen verursachen, selten hingegen Fremdwörter (welche nachgeschlagen werden können und zumeist eine relativ klar umrissene Bedeutung haben)).
Diese Grundthese verbindet (so sehe ich das wenigstens) alle poststrukturalistischen Herangehensweisen, wobei die Methoden ansonsten sehr unterschiedlich sind, weshalb es auch schwerlich möglich ist von "dem Poststrukturalismus" zu sprechen, vor allem, wenn man ihn in Bausch und Bogen verdammen will :breitgrins: ;-). Die wichtige Erkenntnis des PS ist: Die vermeintliche Objektivität des Materials ist ein Trugschluss, seine Verbindung mit einem "Sinn" hängt von vielen Faktoren ab, die nicht erschöpfend zu behandeln sind.
Der letzte Satz ist auch ein Stolperstein - auch wenn ich ihm zustimmen kann: Er scheint zu sagen, dass es keinen rein objektiven Text gibt, sondern dieser noch - irgendeiner - Art von Interpretation, einer Sinngebung bedarf. Das aber ist schwer, weil von so vielen Faktoren abhängig. Gebe ich alles zu. Aber im Grunde ließe sich die Aussagen auf ein "es ist alles sehr kompliziert" reduzieren - und das scheint dann doch wieder wenig zu sein.
Gleichzeitig verhindert die Skepsis gegenüber universellen geteilten Sinnstrukturen, dass die lit.wissenschaftliche Analyse wieder in klassisch hermeneutischem "tieferem Sinn" versinkt.
Wenn ich das richtig verstehe, so heißt das, dass es eben nicht _einen_ richtigen Sinn gibt (der irgendwie zu finden wäre wie im hermeneutischen Konzept - wobei ich gar nicht so sicher bin, abgesehen von dieser Erlebnisterminologie, ob dies in der Hermeneutik so sein soll), sondern mannigfaltige Interpretationsmöglichkeiten. Auch dem stimme ich zu, aber es läuft dann doch wieder auf den "sehr kompliziert"-Satz hinaus.
Die Wissenschaftlichkeit der Lit. wissenschaft bestünde demnach nicht in der Suche nach allgemein gültigen Prinzipien, auf die sich jeder Text zurückführen lassen muss, sondern in einer analytischen Herangehensweise, die aufzeigt, wie die Rezeption zu bestimmten historischen Zeitpunkten vor sich geht; wie es zur Bildung vorherrschender ästhetischer Empfindungen kommt; warum nicht die eindeutige "Bedeutung", sondern das mehrdeutige "Bedeutende" im Zentrum der Aufmerksamkeit einer Textbetrachtung stehen muss.
Ein entsprechendes Verständnis von "Wissenschaftlichkeit" (und es ist das meinige) hat also nichts mit immer identischer Reproduzierbarkeit im Sinne unerschütterlicher allgemeiner Gültigkeit zu tun. Es hat etwas mit der Bereitschaft zu tun, sich von intuitiver Hermeneutik und ihrer Verwurzelung in subjektiver und unhintergehbarer Selbstverständlichkeit zu lösen. Wissenschaftliche Textanalyse wäre also eine, die vom unmittelbaren "Erleben" zurücktritt und bereit ist, dieses Erleben kritisch zu hinterfragen und es vor allem nicht als Argument ins Feld führen zu wollen.
Dem kann ich nur zustimmen - und es scheint mir auch nicht (wie oben ausgeführt) weiter wichtig, ob dies nun per definitionem "wissenschaftlich" sei (oder mit einem anderen Wort zu belegen). Diese Bezeichnungsfrage war, wie ebenfalls erwähnt, eher provokativ. Ob allerdings die Hermeneutik mit "unhintergehbarer Selbstverständlichkeit" Dinge behauptet (bzw. zu behaupten beabsichtigt), ob nicht im Rahmen des hermeneutischen Zirkels eine ständige Neuinterpretation, Neubetrachtung erfolgt (und wegen des sich ändernden Erkenntnisstandes erfolgen _muss_), sei bezweifelt. Wenn ich dich richtig verstehe, so besteht der Unterschied zwischen deiner Herangehensweise und dem hermeneutischen Ansatz darin, dass dieser der Subjektivität ein Primat einräumt, während dir an bewusster, analytischer Reflexion des "unmittelbaren Erlebens" gelegen ist.
Die wissenschaftliche Leistung bestünde somit allgemein gesprochen darin, ein Feld zu bereiten, auf dem man sich unabhängig von Subjektivität über Ästhetik unterhalten kann, ohne dass zugleich eine Diktatur des "richtigen" ästhetischen Empfindens eingeführt wird. Maxime wäre: Was ich in Bezug auf einen Text überzeugend begründen kann, hat solange Gültigkeit, bis man mir die Stützen meiner Argumentation argumentativ wegschlägt. Was ist das anderes als Falsifizierbarkeit? Und ein Wissenschaftsbegriff, der auf letzte Wahrheiten zielt, ist auch in den Naturwissenschaften nicht mehr der letzte Schrei.
Letzteres ist mir durchaus bewusst :-). Wenngleich man den Wahrheitsanspruch nicht fallen lassen sollte - vielmehr jenen auf Gewissheit. Deine andere Darstellung (inklusive der Falsifizierbarkeit) gefällt mir sehr gut. Obschon man natürlich bei allen Argumentationen in die subjektive Ebene abgleiten kann, dann, wenn etwa zwei konkurrierende Ansichten über Ästhetik als Grund für die Beweisführung einer bestimmten These herangezogen würden. Aber entscheidend wäre ja (weil der naturwissenschaftliche Ansatz ohnehin aufgegeben werden muss), dass man mit einer in sich logischen Beweisführung keine Probleme hätte, zwei konkurrierende - wenn widerspruchsfrei und gut begründet - ohne weiteres stehen lassen kann.
Dass man so in Beliebigkeit im Sinne einer Bewisbarkeit jeder These verfiele, halte ich für ein Gerücht. Der Zirkelschluss in deinem angefangenen "Dummheit der Darstellung = Intelligenz"-Beispiel springt wenigstens mir sofort ins Auge. :breitgrins:
Ich weiß nicht ;-). Mir schwebte ein höchst kurioser Dialog aus der unseligen Veronika (Coelho) vor, der derart platt und aufgesetzt wirkte, dass ich nicht zu glauben vermochte, dies könne ernst gemeint sein. Die ganze Szene hatte etwas von einem absurden Theaterstück. Damals hab ich mir derartige Interpretationsmöglichkeiten überlegt, inwieweit man dem Autor in der Hölzernheit und Einfalt der Gesprächsführung nicht doch Raffinesse der Darstellung hätte konzedieren können, Plattheit als Stilmittel, um sowohl situationsspezifische als auch personenspezifische Feinheiten auszudrücken. Allerdings geb ich zu, dass der Widerspruch bei diesem Buch offenkundig wäre, weil eine derartige Darstellung dem gesamten anderen trivialen Inhalt eklatant widersprechen würde.
P.S. Schön, dass du meinen Lektüreempfehlungen gefolgt bist. Und bevor du sie eventuell wieder frustriert beiseite legst, lass es mich wissen. Es wären doch eigentlich Texte wie die "Archäologie des Wissens", denen man sich mal in einer Leserunde widmen könnte. Sowas entstaubt die Gehirnwindungen.
Die Idee halte ich für sehr interessant, das könnte eine (die einzige?) Möglichkeit sein, dass mir eine Auseinandersetzung mit diesen Ideen gelingt; wann genau meine Entlehnwünsche bei den diversen Bibliotheken in Erfüllung gehen, kann ich allerdings noch nicht sagen. Ärchologie des Wissens oder Überwachen und Strafe? (Ich hoffe, die Werke sind nicht allzu umfangreich.) Und obs mit dem Entstauben klappt?? - bisher hatte ich eher immer das Gefühl des Verklebens und Verpappens :-).
Überhaupt glaube ich, dass mögliche Differenzen in der Herangehensweise an Literatur bzw. an die Interpretation derselben am ehesten in einer "Leserunde" zu Tage treten und dort anhand des zu lesenden Werkes offenkundig würden. An solch einem konkreten Beispiel könnte mir etwa klar werden, inwieweit sich deine poststrukturalistische Methode von der meinen (einer namenlosen "Kompliziert-Theorie"?
) unterscheidet.
Liebe Grüße
s.