Beiträge von scheichsbeutel^

    Hallo!


    Mich würde ein derartiges Leseprojekt auch interessieren, besitze ebenfalls eine zweibändige Ausgabe (mit Illustrationen von Gustave Doré) - inklusive Anmerkungen rund 1500 Seiten. Übersetzung von Walter Widmer und Karl August Horst, Winkler Verlag. Bezüglich des Textes lese ich im Nachwort, dass es vor allem beim 5. Buch Unterschiede gibt (in den ersten 16. Kapiteln), die restlichen sind posthum von einem Freund Rabelais' nach dessen Entwürfen und Notizen angefertigt.


    Grüße


    s.

    Hallo!


    Angeregt durch diese Leserunde hab ich nun "Transit" ebenfalls gelesen: Die einzelnen Schicksale (des Kapellmeisters oder auch die ihr Geld in Naturalien umsetzende Dame) waren jene Teile, die mir am Buch gefielen; ich hätte mir gewünscht, dass Seghers es bei einer bloßen Beschreibung des Flüchtlingselends belassen und auf diese unselige, sich durchs Buch ziehende Liebesgeschichte verzichtet hätte.


    Kurzbesprechung: "Seghers bedient sich einer spartanisch anmutenden Sprache, einfacher, klarer Sätze, um die nüchterne Tragik der Flüchtlinge in Frankreich während des 2. Weltkrieges zu schildern. Aber schon nach 20, 30 Seiten verliert sich der puritanische Charme dieser Erzählweise - und das Stilmittel schlägt um in sprachliche Hilflosigkeit. So zu erzählen bedarf ungeheurer Sorgfalt und Genauigkeit, ansonsten passen sich Charaktere und Handlung ungewollt der reduzierten Erzählweise an. Wer sich der Möglichkeiten einer elaborierten Sprache begibt, der muss gänzlich auf der Höhe seiner Kunst bleiben.


    Hier aber bleiben Sprache, Figuren und Handlung auf der Strecke. Natürlich ist der Ich-Erzähler in einer Weise konzipiert, der die Identifikation erschweren soll, seine Interesse- und Ziellosigkeit, das Gefühl des "Sinnlos in die Welt Geworfen Seins" soll durch diese ungreifbare Darstellung deutlich gemacht werden. Aber seine tiefe Leidenschaftslosigkeit wirkt konstruiert, vorgestellt; sie ist künstlich wie seine plötzliche Verliebtheit in eine ihm unbekannte Frau, die sich - oh holder Zufall - als die Gefährtin jenes ihm unbekannten Menschen sich entpuppt, dessen Koffer er zufällig samt Manuskript in einer verlassenen Pariser Wohnung findet. Und während die Frau in Marseille noch immer nach ihrem verschollenen Mann sucht, der beim Einmarsch der Deutschen Selbstmord begangen hat, nimmt der Finder des Koffers dessen Identität an, wodurch die Frau immer wieder auf Spuren des Schriftstellers trifft, ohne ihm aber tatsächlich begegnen zu können. Bzw. ohne sich dessen bewusst zu sein, die Zufallsreinkarnation in Form des Ich-Erzählers längst getroffen zu haben. Diese Konstellation erzeugt eine gewisse Spannung - und bis ans Ende des Romans wartet man darauf, ob der vermeintliche Schriftsteller sich seiner Marie eröffnen wird oder sie im Glauben lässt, ihr einstiger Gefährte würde noch leben.


    Im Endeffekt schmeckt das Ganze jedoch nach lauem Milchkaffee, abgestanden, künstlich - und langweilig. Darüber können auch ein paar kleine, anschaulich geschilderte Szenen nicht hinwegtäuschen, das ist eine Autorin, die ihre Figuren und Leidenschaften brav erfindet, bei der aber ständig diese ihre Erfindung und Vorstellung spürbar bleibt. Liebe, Verliebtheit, Teilnahmslosigkeit, wie sie sich der Unbedarfte derlei vorstellt. Vielleicht glaubte Seghers, eine Handlung - welcher Art auch immer - erfinden, diese der Beschreibung der Flüchtlingselends unterlegen zu müssen, um ihr Schreiben zu legitimieren. Ohne diese aufgesetzte Liebesgeschichte, die hilflos konstruierte Figur des Icherzählers, wäre vielleicht ein lesbares Stück Prosa über Sinnlosigkeit und Angst vieler im zweiten Weltkrieg entwurzelter Menschen entstanden. So hingegen ist das Ergebnis ein holpriger, unstimmiger Roman über Verliebtheit und die Absurdität des Daseins, in dem ständig die Überforderung der Schriftstellerin spürbar bleibt."


    Grüße


    s.

    Hallo!



    Ich bin selber a) Fontane-Liebhaber und b) mit Brandenburg völlig unbekannt - die Wanderungen aber gehören zu meinen Lieblingen. Man kann also, finde ich, die Wanderungen lesen, ohne die Örtlichkeiten zu kennen.


    Vielen Dank, das hör ich ausnehmend gern! Bedeutet das doch die Vorfreude auf weitere 5 Bände Lesegenuss. Ich hoffe nur, dass Fontane nicht allzu ausführlich bei der Schilderung von Kunst- und Kulturschätzen verfährt, in dieser Hinsicht kann man mich mengenmäßig sehr leicht erschlagen. Da geht's mir wie bei Museumsbesuchen: Nach dem dritten Exponat ist mein Arbeistsspeicher voll. Ich verwundere mich oft über professionelle Ausstellungsbesucher, die hunderte Kunstwerke in einigen Stunden "abarbeiten". Für mich, abgesehen von ehebaldigst schmerzenden Füßen, ein Ding der Unmöglichkeit. Canetti meinte einmal, dass der Mensch mit einigen wenigen Gemälden in seinem Leben das Auslangen finde. Ich scheine in diese Kategorie zu gehören.


    Grüße


    s.

    Hallo!



    Kristof schreibt kleine, unglaublich düstere Bücher. Einstieg: "Das große Heft".


    Düster - ja. Aber empfehlenswert schienen sie mir nicht. Vor Jahren hab ich zum großen Heft notiert:


    Der Krieg verschlägt die Zwillinge aufs Land zur "Hexe", ihrer Großmutter. In einer grauenvollen Umwelt entwickeln sie Überlebensstrategien, stellen sich taub, blind, gewöhnen sich an Hunger, Kälte, Schmerz. Wird die Qual übermächtig, tritt man aus seiner Person heraus, ein anderer erlebt die Ungeheuerlichkeiten, Perversionen, Schmerzen, man selbst überlebt. Aufgezeichnet wird dies von den beiden im "großen Heft", sachlich wird das Unglaubliche zu refererieren versucht.


    Sprachlich ist die stilisierte Darstellung aus Kindermund auf den ersten Seiten gelungen, kurz, konzis und genau wird erzählt. Trotzdem verliert sich das Buch schon nach wenigen Abschnitten in einer abenteuerlichen Handlungsvielfalt, die von Kapitel zu Kapitel peinlicher, unnatürlicher wirkt und den Leser mit einer Unmenge an "Absonderlichkeiten" erschlägt. Die Anzahl der Toten wirkt lächerlich, Großmutter als Giftmörderin, das debile Nachbarsmädchen als Sodomitin, der sich an ihr vergreifende Pfarrer, der Mordversuch an dessen Dienstmagd, das zu Tode Vergewaltigen des Mädchens, das Verbrennen der alten Frau in ihrem Haus, das Töten der Oma auf deren Wunsch, der Mord am Vater, um über dessen Leiche die Grenze passieren zu können, das Sterben der Mutter nebst Kleinkind im Garten und die Verwendung der Skelette als präpariertes Anschauungsmaterial ... Was anfangs berührt, wirkt endlich wie ein Hollywoodgemetzel, das Buch plakativ, oberflächlich, schließlich fast langweilig. Die Kinder sind Kinder im Kopf von Erwachsenen, der in Ansätzen gut dargestellte Überlebensversuch der Zwillinge in einer Umwelt der Ungeheuerlichkeiten endet in abstrusen Perversitäten. Aus den beiden werden kleine Wunderknaben, Überlebenskünstler, unnatürliche Automaten. Die Absicht, sie so erscheinen zu lassen, ist offenkundig, die Art der Darstellung in dieser idealisierten Form schlicht misslungen, die Hand der erwachsenen Autorin, die den Kindern beim Schreiben die Hand führt, ist unübersehbar.


    Kurzformel: {(Anzahl der Toten + Anzahl der Perversionen) / 10} - Erwachsenenblick + vermehrtes Einfühlungsvermögen in kindliche Sichtweise = ein möglicherweise lesbareres Buch.


    Grüße


    s.

    Hallo!


    Als großem Fontane-Liebhaber, der aber nichts weniger als mit den geographischen und kulturellen Besonderheiten Brandenburgs vertraut ist, stellt sich mir die Frage: Lohnen sich die Wanderungen auch für einen solch Unbedarften oder muss man mit den Gegebenheiten auf vertrautem Fuße stehen? Die schöne, 5bändige Inselausgabe steht als einzige der Fontanewerke unschuldig und unberührt auf dem Regal - und wenn sie auf einen Urlaub in besagter Mark warten muss - dann wartet sie möglicherweise ewig.


    Grüße


    s.

    Hallo!



    Ich kenne ihn nur als einen der Autoren, die Robert Musil in seiner Jugend verschlungen hat. Man kann hier ein paar Einflüsse nachweisen, speziell im Frühwerk.


    Stimmt - und durch diese deine Erwähnung weiß ich nun auch, was mich zur - lang zurückliegenden - Lektüre von Maeterlinck geführt hat: Nämlich die "Verwirrungen des Zöglings Törleß", denen er ein paar Sätze der "Moral eines Mystikers" von Maeterlinck voranstellt. (Wobei Musils frühe Lektüre mir immer ein wenig suspekt war, er hat auch Ralph Waldo Emerson sehr gelobt, den ich für einen ziemlichen Schwätzer halte.) Ich habe von Maeterlinck etwas gelesen, das das Wort "Gast" im Titel hatte (und ziemlich unerträglich war), außerdem eine pseudophilosophische Schrift (irgendwas mit "Seele"?) - beides habe ich als dunkles, metaphysisches Gewäsch in Erinnerung. Möglicherweise sind das literarische Jugendsünden Musils, man liest ja so manches in jungen Jahren. Und ist später von diesen seinen Jugendsünden - fast - peinlich berührt (wie ich weiß ;-) ).



    Ihr meint, was der heutigen Jugend ihr Hesse, was der damaligen Maeterlinck? :zwinker:


    Niemals nicht würde ich gegenüber einem bekennenden Hesseliebhaber solches zu behaupten wagen :zwinker:


    Grüße


    s.

    Hallo!


    Maeterlinck gehört m. E. zu jenen Nobelpreisträgern, die mit Fug und Recht der Vergessenheit anheim gefallen sind. Ein dem Symbolismus und der Esoterik anhängender Schriftsteller mit Hang zur Parapsychologie und Geisterbeschwörung nebst einem guten Schuss sentimentalem Pathos. Für aufgeweckte Selbstfindungsapostel mit mit transzendenten Neigungen. Naja, wer's mag :-). - Rilke war ein Verehrer Maeterlincks, dies aber will nicht wirklich viel besagen, da es beim guten Rainer Maria nicht allzu großer Anstrengungen bedurfte, um auf den literarischen Parnass versetzt zu werden.


    Grüße


    s.

    Hallo Bartlebooth,



    "Das ist doch ein ganz wesentlicher Unterschied. Und wir wollen bitte nicht anfangen, uns im Kreis zu drehen, mir ist gerade eh schon ganz schwindlig :-)."


    *zustimm* - war eine intuitiv-bösartige Unterstellung :-).



    "Es gibt noch ein paar solcher Kandidaten, aber Derrida gehört nicht dazu. Ich habe mich über seine Diskussion der Sprechakttheorie, die er mit einem vollkommen verkniffenen, sich permanent widersprechenden und total humorlosen John Searle geführt hat, königlich amüsiert. Und in Bezug auf das Problem der Autorschaft bringt die Lektüre von "Limited Inc", wie ich finde, sehr viel."


    Bei Searle geb ich dir recht (v. a. hat er das Talent, sich auch in Büchern wunderbar zu widersprechen), Austin ist diesbezüglich sehr viel klarer (und das sind auch die einzigen, mit denen ich mich intensiver beschäftigt habe). Mit Derrida hab ich wirklich Probleme, da weigert sich einiges in mir ihn "gelten zu lassen". Aber das wäre wieder ein andere Diskussion, müsste man an konkreten Schriften festmachen (wobei ich bei dem erwähnten "Die Schrift und Differenz" meine, dass es mir gelingen könnte, ihm Obskurantismus und seitenlange Redundanz nachzuweisen :-) ). Aber belassen wir es vorläufig bei Foucault.



    Deinen Vergleich zwischen dem Wachturm und wem auch immer übergehe ich jetzt einfach mal :breitgrins:.


    Solange du breit grinst, gehe ich von der Annahme aus, dass du nichts von der Vergleicherei in die falsche Kehle bekommen hast :breitgrins:.



    Vielleicht bringt das Vorwort der deutschen Ausgabe der "Ordnung der Dinge" ja tatsächlich was. Ich lese Foucault auf Französisch, auf Deutsch habe ich ihn nie richtig verstanden. ;-)


    Mit meinem Französisch ist es nicht weit her, ich habe sogar den letzten hilfeheischenden Touristen aus Frankreich - unabsichtlich - in die falsche Richtung geschickt. Ich plädiere für Deutsch!


    Ich finde es immer problematisch, wenn jemand alles auf eine einzelne Theorie hinbiegen will. Ich selbst habe immer mit einem Theorienmix gearbeitet und ihre Schwächen oder Unklarheiten (wenigstens: meine Unklarheiten mit ihnen) auch immer benannt. Ich will weder die Welt erklären, noch die Welt erklärt bekommen. Ich möchte einfach spannende Thesen und brauchbare Analyseinstrumente. :-)


    Daran ist mir genauso gelegen. Aber im Laufe der Zeit hat sich in mir eine immer stärkere Aversion gegen Theorie (fast) jeder Art gebildet - und insbesondere gegen postmoderne und poststrukturalistische Strömungen. Und in Fragen der Philosophie als auch der Literatur ist man offensichtlich gezwungen, eine Wahl zu treffen. Und so wie ich beinahe alle Art von Unterhaltungsliteratur meide (nicht weil diese so schlimm wäre oder gar verächtlich, sondern weil sie mich langweilt bzw. ich meine Zeit mit anderer Literatur angenehmer zu verbringen glaube), so hab ich auch in der Philosophie bestimmte Strömungen mehr und mehr gemieden.


    Irgendwie - und nicht unerheblich durch meine Schuld, sind wir nun ausschließlich bei pro/kontra Post-xxx gelandet. Und obwohl ich diese Kritik für sehr interessant halte, bezweifle ich, ob ich eine solche des damit verbundenen großen Zeitaufwandes wegen tatsächlich leisten kann (will). Mal sehen, wann mich die UB mit einer Benachrichtigung über die Verfügbarkeit Foucaultscher Werke beglückt.


    Ich wünsche eine gute Nachtruhe


    s.

    Hallo Bartlebooth,



    Sicherlich hast du recht, dass es eine Tugend ist, sich um Verständlichkeit zu bemühen, bzw. eine Fähigkeit, sich verständlich auszudrücken; aber der Umkehrschluss geht für mich nicht auf: Wenn sich jemand nicht um Verständlichkeit bemüht (oder sich vielleciht doch bemüht, es mit der Verständlichkeit aber nicht so klappt), heißt das nicht automatisch, dass es sich nicht lohnt, sich mit seinen Texten auseinanderzusetzen.


    Natürlich nicht (ich glaube aber nicht, das behauptet zu haben), weder ist Verständlichkeit an sich schon ein Kriterium für Qualität (denn so manches dümmliche Elaborat meine ich nur zu gut zu verstehen), noch ist es mit dem Bemühen allein getan. Vielleicht aber ist es ein Hinweis auf die Unausgegorenheit einer Idee, wenn sie sich der Sprache noch nicht so ganz fügen will; im Sloterdijk-Thread wurde die leicht verärgerte, mich amüsierende Frage gestellt, "ob er (Sloterdijk) denn an Textruhr leide"? Möglicherweise ist diese weit verbreitete Krankheit einer der Ursachen für so manche Schwerverständlichkeit.



    Manchmal erlebt man da Überraschungen (zB bei Derrida, den ich im übrigen auch so schlimm nicht finde). Ich habe es oben schon einmal gesagt, es kommt ein bisschen auf den richtigen Weg in eine Theorie an. Ich habe es mir jedenfalls angewöhnt, etwas erst leidlich zu verstehen und mir danach ein Urteil über seine Brauchbarkeit zu bilden. Bis ich etwas nicht wenigstens einigermaßen verstanden habe, werde ich immer dies sagen: "Ich hab's nicht verstanden" und ich werde offenlassen, wo der Fehler liegt.


    Natürlich kann der Fehler auf beiden Seiten liegen. Aber eben diesen Hinweis, dass der Leser mit dem Dargebotenen intellektuell überfordert ist, finde ich zu einfach. Außerdem sind es beinahe immer die "dunklen" Texte, bei denen solche Schwierigkeiten auftreten, mit komplizierten, aber einer recht klaren Sprache folgenden und logischen Abhandlungen habe ich kaum Probleme. Ich verstehe auch irgendwas (selbst bei Derrida) - aber ich bin auf Vermutungen angewiesen, ich rätsle an den Auslegungen und schwanke meist zwischen zwei Polen: Er will mir etwas _sehr_ Einfaches sagen (das allemal klug sein kann - aber warum sagt er mir's dann nicht einfacher?) oder es ist unverständliches Kauderwelsch.



    Ich werde jemanden, der sich auf eine bestimmte Theorie stützt, natürlich nach seiner Operationalisierung der Theorie fragen und mir dann für den vorliegenden Fall ein Urteil bilden (über Sinn und Unsinn der Anwendung). Ich werde aber keinesfalls die Tugend, die ich mir in Bezug auf fiktionale Texte angeeignet habe, nämlich nicht nach dem "eigentlich Gemeinten" zu fragen, plötzlich in Bezug auf theoretische Texte vergessen und den Autor in metaphorischen Zwei Meter hogen Leuchtbuchstaben auffordern, mir sein "Gemeintes" bitte so lange und so einfach zu erklären, dass auch ich es verstehe. Ich werde vielleicht sagen, dass der Autor ein Problem damit hat verständlich zu schreiben, aber ich werde nicht über einen Inhalt richten, den ich offenkundig noch gar nicht habe verstehen können (weil sonst nämlich diese Kritik ins Leere liefe). Breitgrins


    Hattest du nie das Gefühl, dass all dein Bemühen vergebliche Liebesmüh gewesen sei? Dass hier jemand einfach nur an oberwähnter Textruhr leidet, wichtig sein will, dass er seine Worte bewusst dunkel wählt, um zu verbergen, dass da grad mal gar nix gedacht wird? Kannst du dich noch an das Lacan-Beispiel erinnern, der mathematisch schwachsinnig zu seinem psychologischen Schluss kam, das männliche Sexualorgan sei mit der Wurzel aus minus 1 gleichzusetzen? Nun weiß ich nicht, ob Lacan im stillen Kämmerlein über sich selbst gelacht hat oder ob ihm damit ernst war. Aber in jedem Fall hat er eine große Anhängerschaft, die ihn zur Geisteskoryphäe erhob und an seinen Lippen hing. Für mich hat einer, der ernsthaft solchen Unsinn unter die Menschheit bringt, jeden Kredit verspielt, der kann schon schreiben was er will (außer er würde sich explizit von seiner Wurzel distanzieren). Vor allem aber glaube ich nicht, dass es überall etwas zu verstehen gibt (und Lacan ist ein Beispiel dafür), es gibt hauptberufliche Schwätzer, nicht nur in der Philosophie (dort aber sind sie keine Randgruppe).


    Und: Natürlich sollte man das Kritisierte kennen. Andererseits kann und will ich mich nicht mit allem auseinandersetzen - und ich halte es auch nicht für notwendig. Weil man Rückschlüsse aus Erfahrungen zu ziehen berechtigt ist. Schlagendes Beispiel: Vor etwa einer Woche wurde ich erstmals in meiner Abgeschiedenheit von den unvermeidlichen Wachtürmlern heimgesucht - und nachdem ich freundlich das Anerbieten, mir ihre Zeitschrift (nebst neuester wissenschaftlicher Gottesbeweise) zu Gemüte zu führen, abgelehnt habe, wurde ich mit dem Einwand konfrontiert, dass ich doch nicht über etwas urteilen könne, das ich nicht kenne. (Das Gespräch bekam in der Folge einigen Unterhaltungswert - aber das würde zu weit führen :-) ). - Aber mit Teilen bestimmter philosophischer Richtungen geht es mir ähnlich.


    Ich bin _wirklich_ bereit, über das "Gemeinte" nachzudenken - und ich glaube auch nicht an derartigen intellektuellen Defiziten zu leiden, dass nur das Allereinfachste und Offensichtlichste mir verständlich erscheint.



    Wir sollten das am Text diskutieren. Und ich sage es ein drittes Mal: Der Weg in eine Theorie ist wichtig, also leg bitte "Die Ordnung der Dinge" weg Breitgrins!


    Bin ja schon brav :-). Hab mich halt nur gefreut, weil das Vorwort so verständlich klang - ich war auf viel Schlimmeres gefasst :-).



    "Euer beider Theoriefeindlichkeit teile ich nicht, wenn ich auch mit dir, scheichsbeutel, konform gehe, dass ein interessanter Textzugriff auch ohne eine übermäßige theoretische Beschlagenheit gelingen kann. Im Weg ist mir Theorie aber noch nie gestanden."


    Das erinnert mich ans Psychotherapeutenphänomen: Ich habe keinen (und ich kenne aus beruflichen Gründen eine ganze Menge) getroffen, der _wegen_ seiner Ausbildung viel von menschlichen Beweggründen zu verstehen schien - bestenfalls _trotzdem_. Und Theorien können im Wege stehen - natürlich auch hilfreich sein. Oft sind es gute Ideen, die für einen bestimmten Ausschnitt der Welt unter bestimmten Voraussetzungen glänzende Erklärungen liefern. Noch öfter aber meint der von seiner Idee Beseelte, er müsse daraus ein Welterklärungsmodell herleiten und stülpt sie über alles und jedes, modifiziert, verkompliziert etc. - mit dem Ergebnis, dass eine abstruse, verkrüppelte Philosophie zurückbleibt.


    Wie Theorien ein Bücher verunstalten und schwer lesbar machen können beweist mir gerade meine derzeitige Lektüre: Eine Dissertation über "Unehrliche Berufe". Und die Autorin bezieht sich übrigens ständig auf den mir noch bevorstehenden Foucault - und ohne nun seine Theorien mehr als oberflächlich zu kennen, leidet dieses Buch enorm unter dem Wunsch der Schreiberin, ihre gesammelte Daten theoriegerecht aufzubereiten.


    Ich will ausdrücklich betonen, dass ich keine der in diesem Beitrag beschriebenen Verhaltensweisen dir unterstelle - im Gegenteil: Ich will wirklich wissen, was ein offenkundig intelligenter Mensch an bestimmten Ideen anziehend findet.


    Liebe Grüße


    s.

    Hallo Bartlebooth,



    "nicht böse sein, aber manchmal kommen mir die Kritiker des PS vor wie die Frauen, die die Frauenbewegung kritisieren Breitgrins. Es mag ja sein, dass dir heute viele Dinge als selbstverständlich erscheinen (zB dass der Leser an der Sinnproduktion teilnimmt), aber das macht aus ihnen nun wahrlich noch keine Binsenweisheiten. Frag doch mal wen
    (...)
    übermittelt und muss vom Empfänger wieder dekodiert werden. Hat er den richtigen Code, funktioniert's, ansonsten gibt's eine Fehlkommunikation."


    :-) - mag ja sein, dass nicht alles von trivialer Selbstverständlichkeit ist. Was ich im Grunde auszudrücken wünschte war, dass man einfache Gedanken (die trotz ihrer Einfachheit "große" Erkenntnis zu sein vermögen) auch so verständlich wie irgend möglich ausdrücken sollte. Was schon in der Hermeneutik nicht immer geschieht.



    " (...) Unterschied ist, dass der hermeneutischen Textvorstellung ein Sinn unterliegt, dem man sich immer weiter nähert, der Akzent liegt also auf der Bedeutung. Im PS (und auch bereits im Strukturalismus) liegt er wie gesagt auf dem Bedeutenden, was ganz andere Möglichkeiten erschließt. Ein "Primat der Subjektivität" in der Hermeneutik kann ich nicht erkennen.


    Die Hermeneutik postuliert irgendeinen vom Autor gemeinten Sinn, der sich erschließen ließe. Mit dem Primat der Subjektivität meinte ich, dass dieser sich - möglicherweise - erschließende Sinn vom Interpreten, der Intensität der Auseinandersetzung mit dem Werk, seinem "Einfühlungsvermögens" abhängig ist, während ich dich so verstanden hatte, dass dir (dem PS) Erkenntnis nicht über das Einfühlen, sondern durch das Reflektieren über das Einfühlen zuteil würde, was eine Art "objektiver Metaebene" gleichkäme und weniger subjektivistisch, analytischer wäre.



    Den Diskursbegriff verwende ich in Anlehnung an Foucault. Er hat ihn allerdings selbst nie ganz geklärt. Zwischen "Diskurs" und "diskursiver Formation" zu unterscheiden, die Rolle des "Archivs" oder der "Episteme" zu beschreiben, ist nicht ganz leicht, weil Foucault terminologisch nicht ganz sauber arbeitet. Das sind aber nur Nuancen, die man dann halt für den Gebrauch selbst entscheiden muss. Und mal ehrlich: Kannst du Begriffe von Kant, Hegel oder Heidegger im Konversationslexikon nachschlagen und bekommst dann eine klar umrissene Bedeutung? Wir dürfen nicht vergessen, dass Foucault Philosoph ist und seine Begriffe Bausteine eines ziemlich umfänglichen Theoriegebäudes sind, das eben nicht so einfach in drei Sätzen präzise zu beschreiben ist. Ich fordere da Nachsicht. :-)


    Da bin ich grenzenlos ungnädig :-). Aber schmunzeln musste ich bei der Aufzählung: Bis auf Kant (der zwar unverständlich schreibt, bei dem ich aber nie den Eindruck hatte, dass er sich der Unverständlichkeit bedient, um "unklare" Gedankengänge zu kaschieren, bei dem ich im Gegenteil zu spüren glaubte, dass seine so schwer verständliche Sprache und langen Satzkonstrukte gerade aus dem Bedürfnis entstehen, klar zu sein, mögliche Fragen nicht zuzulassen, Antworten auf mögliche Einwände vorwegzunehmen), sind das genau die Philosophen, um die ich eben wegen dieser so schwammigen Begrifflichkeit einen Riesenbogen gemacht hab. Husserl rechne ich noch dazu, Sartre, viele der Frankfurter Schule. Dagegen mag ich Russel, Popper, fürs 19. Jahrhundert Schopenhauer oder Nietzsche (unabhängig von deren Aussagen waren sie einfach brilliante Schriftsteller), Hume, hab eine besondere Affinität zu den Griechen (wenn ich auch etwa Platons Staatsphilosophie in seiner Bewunderung für Sparta für wohlfeilen Unsinn halte), oder Leute aus dem Wiener Kreis (wie Hans Hahn).


    Dürrenmatt meinte einmal, dass die philosophisch bedeutsamsten Schriften des 20. Jhd. für ihn aus dem naturwissenschaftlichen Bereich kämen - und ohne über "Bedeutsamkeit" urteilen zu wollen - sehe ich das für meine Person sehr ähnlich. Eine Abhandlung über Quantenphysik (auch wenn mich der Autor mathematisch-physikalisch überfordert) lese ich sehr viel lieber als etwa Horkheimer oder Marcuse - oder gar Derrida, den ich hier neben mir liegen habe und der sich in dem mir gerade vorliegenden Textabschnitt einmal auf die "Phänomenologie des Geistes", ein ander Mal auf Husserl bezieht. Und ein Satz nach dem anderen ist von eigenartig-komischer Verworrenheit: "Würde der Andere nicht als transzendentales alter ego anerkannt, ginge er vollständig in der Welt unter und wäre, wie ich selbst, nicht Ursprung der Welt." (S. 190, stw 177) Usf., das ganze Buch lang ... Das orakelt (wenigstens für mich) - und ich habe den Verdacht, dass die Pyhtia ein Alkoholproblem hat.


    Im Ernst: Ich meine, dass der Verfasser eines Fachtextes die _Verpflichtung_ hat, in größtmöglicher Deutlichkeit seine Überlegungen darzustellen. (Derrida - ich hab dort noch weitergelesen, kenne ihn (leider) schon von früher, ist für mich in dieser Hinsicht der Inbegriff eines Scharlatans, der sich an seinem eigenen Wortgeklingel berauscht.) Hingegen habe ich den Eindruck, dass die Schwerverständlichkeit bei vielen zum Prinzip erhoben wird, dass sie ganz bewusst sich einer obskuren Sprache bedienen, womit ihr Lesen und Auslegen zu einer Art Kabbalistik verkommt. Mich überzeugt auch das Argument nicht, dass der Gedankengang (oder die Philosophie) zu tief, profund und kompliziert sei, um ihn klarer auszudrücken. Das birgt immer dass Totschlagargument in sich, dass jemand, der die Dunkelheit der Sprache kritisiert, eben den Tiefgang des Dargestellten nicht begriffen habe. Es mag eine naive Auffassung sein - aber ich will verstehen, was ein Philosoph meint, und ich sehe ihn verpflichtet, mir weitgehend entgegenzukommen; ich will mich nicht "einfühlen" müssen, will nicht die Intuition bemühen müssen. Das mag - für mich - bei einem Gedicht statthaft sein, nicht in der Philosophie. (Da hätte ich noch viel zu lästern - aber ich lege mir Zügel an :-)).


    Zu einer möglichen Foucault-Lektüre: Erklärt er die von dir angeführten (und einige mehr?) Begriffe nirgends bzw. kannst auch du diese nicht in einer Weise umschreiben, dass ich wüsste, was damit gemeint ist? Dann nämlich sehe ich tatsächlich ein Problem auf mich zukommen bzw. ich sehe mich die Weigerung aussprechen, dort weiterzulesen, wenn ich das Gefühl hätte, mich in einem Begriffsirrgarten zu bewegen. - Gerade eben "Die Ordnung der Dinge" rausgesucht, das deutsche Vorwort behauptet eine "Gebrauchsanleitung" für das Lesen seiner (dieses?) Werkes zu sein. Vielleicht werd ich jetzt schlauer ;-).


    Jetzt werde ich mir noch die Links von Xenophanes zu Gemüte führen, seine Kritik an der Postmoderne hat bei mir offene Türen eingerannt. Aber ich sehe die Gefahr, dass wir uns in Philosophie- und Methodenkritik verzetteln. Ich könnte mir gut vorstellen, dass bei der konkreten Analyse eines Werkes unsere Vorgehensweisen und/oder Ergebnisse sich trotz unterschiedlicher methodischer Grundhaltung kaum unterscheiden. These: Ein einigermaßen kluger Kopf kommt immer zu einigermaßen klugen Beurteilungen, wobei allzu viel theoretisches Basiswissen eher hinderlich sein könnte.


    Grüße


    s.

    Sprache, Erzählhaltung erinnern mich an Serenus Zeitblom, obschon dieser keinen Ordinarius zur Kontrolle des von ihm zu Papier Gebrachten hatte. Also vielleicht: Doktor Faustus.


    Grüße


    s.

    Hallo Bartlebooth,



    ich glaube, ich bin zunächst mit deiner einleitenden Trias nicht vollkommen einverstanden: Wissenschaft muss zwar tatsächlich von Mythos, Kunst usw. zu unterscheiden sein (ist sie ja auch), aber mE nicht durch die zwei folgenden Punkte (empirische Bestätigung und Reproduzierbarkeit, wobei es mir, ehrlich gesagt, schwer fällt, beides in deiner Argumentation auseinanderzuhalten). Diesen Begriff von Wissenschaft, der sich auf eine Existenz in der "Wirklichkeit" stützt, die er als "Wahrheit" zu erkennen hilft, indem er objektive und also empirisch nachzuweisende und immer eins zu eins reproduzierbare Thesen produziert, ist für die Betrachtung von Kunst und Literatur offenkundig unbrauchbar - weil sie es eben immer auch mit der Beschreibung von höchst unterschiedlichen Meinungen und ästhetischem Empfinden zu tun hat.


    Vorweg: Ich habe bewusst eine stark an der Naturwissenschaft sich orientierende Definition für Wissenschaft herangezogen. Unter empirischer Bestätigung verstand ich den Beleg der These durch unterschiedliche Texte, während die Reproduzierbarkeit darauf abzielt, unter gleichen Voraussetzungen beim selben Text zum selben Ergebnis zu kommen. Das aber ist nicht so wichtig, ich habe diese Dinge eigentlich nur deshalb hervorgehoben, weil ihre Verwirklichung in der Literaturwissenschaft offenkundig unmöglich ist, um diesen Gegensatz (provokativ) zu betonen.


    Das Ganze könnte zu einer Definitionsfrage verkommen. Wolfgang Neuser im Metzler Phil.lexikon definiert Wissenschaft als eine theoretische Erklärung von Wirklichkeitszusammenhängen und fordert "die prinzipielle Reproduzierbarkeit der Ergebnisse" als Kriterium für strenge Wissenschaftlichkeit. All das kann die Lit.wissenschaft nicht erfüllen, entsprechend dieser Forderung (die Akzeptanz der Definition vorausgesetzt) müsste sie man ihr also einen anderen Namen geben. Aber diese Kindstaufe ist im Grunde ohnehin sekundär.



    Dieser Schwierigkeit wurde in einer eher traditionell hermeneutischen Lit.wiss. Rechnung getragen, indem auf so etwas wie "tieferen Sinn" rekurriert wurde: Das ist in der christlichen Bibelexegese, die du als Beispiel nennst, nicht viel anders als bei Dilthey (bei dem ich mich, zugegeben, nicht wirklich gut auskenne) und seinem emphatischen Erlebnisbegriff.


    Schon bei Dilthey (den ich keinesfalls gut zu kennen glaube) beginnt bei mir das Stirnrunzeln. Das, was er unter Anlehnung an Schleiermacher postuliert, mutet für mich als simple Selbstverständlichkeit an. Im Grunde ist es die Abkehr von einem Offenbarungsverständnis, der Text als solcher ist nicht das einzig entscheidende, der lesende (interpretierende) Mensch hat auf diese Rezeption einen Einfluss. Nun weiß ich nicht, ob Schleiermacher der erste war, welcher auf diesen Zusammenhang hinwies, mir will diese Erkenntnis als Binsenweisheit erscheinen.


    Dieser nun nicht mehr automatenhaft funktionierende Leser soll sich in den Autor einfühlen können (oder es zumindest versuchen), um dessen Intentionen zu durchschauen, des weiteren wird ein hermeneutischer Zirkel (Dilthey) beschrieben, der von einem Vorwissen des Lesers ausgeht, welches im Lesen selbst eine Modifikation erfährt. Beide Dinge scheinen eng miteiander verknüpft und ebenfalls nicht der Weisheit letzter Schluss zu sein: Dass jemand, der ein Buch liest, etwas dazulernt, dass sein Wissen vergrößert, modifiziert wird, dass diese erweiterte Erkenntnis wieder auf das Lesen zurückwirkt, dass eine Kenntnis der Lebensumstände des Autors eine veränderte Betrachtungsweise bewirken - dies alles ist wirklich keine große Einsicht. Auf diesem Prinzip ruht jede Schulausbildung; irgendwie glaubt man, dass den Rackern etwas beizubringen ist und manchmal ist man tatsächlich versucht, diesem Glauben zuzustimmen. Wer liest - lernt etwas; und dieses Gelernte wird beim Lesen erneut auf das Verständnis des Textes rückwirken.


    Was mich so ausführlich über derlei schreiben lässt ist ein m. E. schon bei der Hermeneutik erkennbarer Vorgang, in hochkomplizierter Terminologie (von Zirkeln sprechend, welche sich auf Götterboten berufen) Gemeinplätze breitzutreten und ihnen den Nimbus des Hochgeistigen zu verleihen.


    (Der diltheysche Erlebnisbegriff - soweit ich ihn kenne bzw. verstanden habe, hat etwas ähnlich Plattes: Der Dichter gestaltet ein Erlebnis auf individuelle und beispielhafte Weise; ausgehend von einer weitgehenden Homogenität unserer Kultur kann sich nun der Leser einfühlen. Kritik an diesem Konzept wurde z. B. von jenen geübt, die an ein solches kulturübergreifendes Verstehen nicht glauben. Ich habe aber schlicht den Eindruck, dass auch diese Kritik nur ausspricht, was ohnehin selbstevident ist: Je ähnlicher das kulturelle Umfeld von Autor und Leser einander sind, desto eher werden sie einander verstehen. Lernen auch hier nicht ausgeschlossen ;-)).



    Der Strukturalismus versuchte seinerseits eher positivistisch auf die genannte Schwierigkeit zu reagieren: Da wurden Texte zB auf Worthäufigkeiten, Ideolekte (also: bestimmte Fach- oder Gruppensprachen) oder Handlungsschemata hin abgeklopft, eine Analyse bezog sich vor allem auf das vorhandene Sprachmaterial, das als vermeintlich "objektiv" zugängliche Ebene eines Textes betrachtet wurde. Der Strukturalismus hat damit einen wichtigen Beitrag zur Klärung des Wissenschaftsbegriffs in Bezug auf Literatur geleistet, indem er das Material, das auf dem Papier steht, als den zentral zu analysierenden Baustein auswies (das Schlagwort heißt linguistic turn in der Lit. wiss.). Viele strukturalistische Studien kann man immer noch mit großem Gewinn lesen.


    Diesem linguistic turn kann ich zumindest in der Philosophie nichts abgewinnen (Popper sprach davon, dass ihm die Sprachphilosophen wie Zimmerleute vorkämen, die ihre gesamte Arbeitszeit mit dem Schärfen der Werkzeuge verbringen). Ein Primat der Sprache als wirklichkeitsproduzierend (-konstituierend) erscheint mir abstrus, wäre aber eine völlig andere Diskussion. In der Literaturwissenschaft habe ich hingegen häufig die Abenteuerlichkeit zum Prinzip erhoben gesehen. Oder aber den Eindruck gewonnen, dass die Analyse in jedem Fall eine vorgefertigte Meinung bestätigen soll, was sich mit einiger Kreativität sich bewerkstelligen ließ. (Das müsste man natürlich für jede einzelne Arbeit kritisieren, ich will - und kann - nicht ausschließen, dass sich unter diesen Arbeiten auch Hervorragendes verbergen könnte. Meine Erinnerung ist die an strukturalistische Erbsenzählerei. Im übrigen versuche ich vergeblich, mir eine genaue Vorstellung einer strukturellen Analyse zu bilden, hier wird in Teile zerlegt und nach neuen Gesichtspunkten zusammengefügt, die neuen Strukturen interpretiert, verglichen - und irgendwie hat die Vorgehensweise etwas Beliebiges. Aber - wie erwähnt, kann man diese Kritik wohl nur an konkreten Arbeiten festmachen.)



    Der Poststrukturalismus behält die Fixierung aufs Textmaterial bei, weist aber darauf hin, dass individuelle Rezeption, diskursive Verortung, historischer Zeitpunkt u. dgl. mehr, ganz viel mit dem Material anstellen, so dass dieses keineswegs objektiven Charakter (im Sinne eines Apfels, der vom Baum fällt) hat.


    Ups - da war eine Wortbildung, bei welcher sich meine Nackenhaare sträubend meldeten und die mir erklärungsbedürftig erscheint: Diskursive Verortung. Ein von Foucault eingeführter Begriff? (Diese Art von Wörtern sind es im übrigen, die mich bei der Lektüre verärgern. Ich pflege langsam zu lesen und versuche zumindest, den vor mir liegenden Text zu verstehen. Stoße ich auf einen Satz, der mir unklar ist, so lese ich ihn nochmal, lese vielleicht noch einen Absatz, eine oder mehrere Seiten weiter. Wird mir keine Erleuchtung zuteil, geschieht das im Gegenteil immer und immer wieder - lege ich meist das Buch weg. Wobei es eben meist Begriffe wie der oben erwähnte sind, die die Dunkelheit der Textstellen verursachen, selten hingegen Fremdwörter (welche nachgeschlagen werden können und zumeist eine relativ klar umrissene Bedeutung haben)).



    Diese Grundthese verbindet (so sehe ich das wenigstens) alle poststrukturalistischen Herangehensweisen, wobei die Methoden ansonsten sehr unterschiedlich sind, weshalb es auch schwerlich möglich ist von "dem Poststrukturalismus" zu sprechen, vor allem, wenn man ihn in Bausch und Bogen verdammen will :breitgrins: ;-). Die wichtige Erkenntnis des PS ist: Die vermeintliche Objektivität des Materials ist ein Trugschluss, seine Verbindung mit einem "Sinn" hängt von vielen Faktoren ab, die nicht erschöpfend zu behandeln sind.


    Der letzte Satz ist auch ein Stolperstein - auch wenn ich ihm zustimmen kann: Er scheint zu sagen, dass es keinen rein objektiven Text gibt, sondern dieser noch - irgendeiner - Art von Interpretation, einer Sinngebung bedarf. Das aber ist schwer, weil von so vielen Faktoren abhängig. Gebe ich alles zu. Aber im Grunde ließe sich die Aussagen auf ein "es ist alles sehr kompliziert" reduzieren - und das scheint dann doch wieder wenig zu sein.



    Gleichzeitig verhindert die Skepsis gegenüber universellen geteilten Sinnstrukturen, dass die lit.wissenschaftliche Analyse wieder in klassisch hermeneutischem "tieferem Sinn" versinkt.


    Wenn ich das richtig verstehe, so heißt das, dass es eben nicht _einen_ richtigen Sinn gibt (der irgendwie zu finden wäre wie im hermeneutischen Konzept - wobei ich gar nicht so sicher bin, abgesehen von dieser Erlebnisterminologie, ob dies in der Hermeneutik so sein soll), sondern mannigfaltige Interpretationsmöglichkeiten. Auch dem stimme ich zu, aber es läuft dann doch wieder auf den "sehr kompliziert"-Satz hinaus.



    Die Wissenschaftlichkeit der Lit. wissenschaft bestünde demnach nicht in der Suche nach allgemein gültigen Prinzipien, auf die sich jeder Text zurückführen lassen muss, sondern in einer analytischen Herangehensweise, die aufzeigt, wie die Rezeption zu bestimmten historischen Zeitpunkten vor sich geht; wie es zur Bildung vorherrschender ästhetischer Empfindungen kommt; warum nicht die eindeutige "Bedeutung", sondern das mehrdeutige "Bedeutende" im Zentrum der Aufmerksamkeit einer Textbetrachtung stehen muss.


    Ein entsprechendes Verständnis von "Wissenschaftlichkeit" (und es ist das meinige) hat also nichts mit immer identischer Reproduzierbarkeit im Sinne unerschütterlicher allgemeiner Gültigkeit zu tun. Es hat etwas mit der Bereitschaft zu tun, sich von intuitiver Hermeneutik und ihrer Verwurzelung in subjektiver und unhintergehbarer Selbstverständlichkeit zu lösen. Wissenschaftliche Textanalyse wäre also eine, die vom unmittelbaren "Erleben" zurücktritt und bereit ist, dieses Erleben kritisch zu hinterfragen und es vor allem nicht als Argument ins Feld führen zu wollen.


    Dem kann ich nur zustimmen - und es scheint mir auch nicht (wie oben ausgeführt) weiter wichtig, ob dies nun per definitionem "wissenschaftlich" sei (oder mit einem anderen Wort zu belegen). Diese Bezeichnungsfrage war, wie ebenfalls erwähnt, eher provokativ. Ob allerdings die Hermeneutik mit "unhintergehbarer Selbstverständlichkeit" Dinge behauptet (bzw. zu behaupten beabsichtigt), ob nicht im Rahmen des hermeneutischen Zirkels eine ständige Neuinterpretation, Neubetrachtung erfolgt (und wegen des sich ändernden Erkenntnisstandes erfolgen _muss_), sei bezweifelt. Wenn ich dich richtig verstehe, so besteht der Unterschied zwischen deiner Herangehensweise und dem hermeneutischen Ansatz darin, dass dieser der Subjektivität ein Primat einräumt, während dir an bewusster, analytischer Reflexion des "unmittelbaren Erlebens" gelegen ist.



    Die wissenschaftliche Leistung bestünde somit allgemein gesprochen darin, ein Feld zu bereiten, auf dem man sich unabhängig von Subjektivität über Ästhetik unterhalten kann, ohne dass zugleich eine Diktatur des "richtigen" ästhetischen Empfindens eingeführt wird. Maxime wäre: Was ich in Bezug auf einen Text überzeugend begründen kann, hat solange Gültigkeit, bis man mir die Stützen meiner Argumentation argumentativ wegschlägt. Was ist das anderes als Falsifizierbarkeit? Und ein Wissenschaftsbegriff, der auf letzte Wahrheiten zielt, ist auch in den Naturwissenschaften nicht mehr der letzte Schrei.


    Letzteres ist mir durchaus bewusst :-). Wenngleich man den Wahrheitsanspruch nicht fallen lassen sollte - vielmehr jenen auf Gewissheit. Deine andere Darstellung (inklusive der Falsifizierbarkeit) gefällt mir sehr gut. Obschon man natürlich bei allen Argumentationen in die subjektive Ebene abgleiten kann, dann, wenn etwa zwei konkurrierende Ansichten über Ästhetik als Grund für die Beweisführung einer bestimmten These herangezogen würden. Aber entscheidend wäre ja (weil der naturwissenschaftliche Ansatz ohnehin aufgegeben werden muss), dass man mit einer in sich logischen Beweisführung keine Probleme hätte, zwei konkurrierende - wenn widerspruchsfrei und gut begründet - ohne weiteres stehen lassen kann.



    Dass man so in Beliebigkeit im Sinne einer Bewisbarkeit jeder These verfiele, halte ich für ein Gerücht. Der Zirkelschluss in deinem angefangenen "Dummheit der Darstellung = Intelligenz"-Beispiel springt wenigstens mir sofort ins Auge. :breitgrins:


    Ich weiß nicht ;-). Mir schwebte ein höchst kurioser Dialog aus der unseligen Veronika (Coelho) vor, der derart platt und aufgesetzt wirkte, dass ich nicht zu glauben vermochte, dies könne ernst gemeint sein. Die ganze Szene hatte etwas von einem absurden Theaterstück. Damals hab ich mir derartige Interpretationsmöglichkeiten überlegt, inwieweit man dem Autor in der Hölzernheit und Einfalt der Gesprächsführung nicht doch Raffinesse der Darstellung hätte konzedieren können, Plattheit als Stilmittel, um sowohl situationsspezifische als auch personenspezifische Feinheiten auszudrücken. Allerdings geb ich zu, dass der Widerspruch bei diesem Buch offenkundig wäre, weil eine derartige Darstellung dem gesamten anderen trivialen Inhalt eklatant widersprechen würde.



    P.S. Schön, dass du meinen Lektüreempfehlungen gefolgt bist. Und bevor du sie eventuell wieder frustriert beiseite legst, lass es mich wissen. Es wären doch eigentlich Texte wie die "Archäologie des Wissens", denen man sich mal in einer Leserunde widmen könnte. Sowas entstaubt die Gehirnwindungen.


    Die Idee halte ich für sehr interessant, das könnte eine (die einzige?) Möglichkeit sein, dass mir eine Auseinandersetzung mit diesen Ideen gelingt; wann genau meine Entlehnwünsche bei den diversen Bibliotheken in Erfüllung gehen, kann ich allerdings noch nicht sagen. Ärchologie des Wissens oder Überwachen und Strafe? (Ich hoffe, die Werke sind nicht allzu umfangreich.) Und obs mit dem Entstauben klappt?? - bisher hatte ich eher immer das Gefühl des Verklebens und Verpappens :-).


    Überhaupt glaube ich, dass mögliche Differenzen in der Herangehensweise an Literatur bzw. an die Interpretation derselben am ehesten in einer "Leserunde" zu Tage treten und dort anhand des zu lesenden Werkes offenkundig würden. An solch einem konkreten Beispiel könnte mir etwa klar werden, inwieweit sich deine poststrukturalistische Methode von der meinen (einer namenlosen "Kompliziert-Theorie"? :-) ) unterscheidet.


    Liebe Grüße


    s.

    Hallo allerseits!


    Zur Kritik bzw. Berechtigung des Begriffes Literaturwissenschaft:


    1. Unterscheidung der Wissenschaft von Mythos, Kunst, Religion, Meinen, Glauben. Diese Unterscheidung allein schließt offenbar nicht aus, über die genannten Bereiche - insbesondere den der Kunst - wissenschaftlich sprechen zu können.


    2. Empirische Bestätigung einer Theorie: Bereits vorhandene oder zukünftige literarische Produkte müssten die einmal aufgestellte Theorie vorläufig bestätigen oder falsifizieren.


    3. Reproduzierbarkeit: Das Problem der Geistes/Sozialwissenschaften schlechthin.


    Die Hermeneutik wird als ein Versuch zur "wissenschaftlichen" Interpretation von Texten angesehen. Doch schon deren historische Betrachtung beleuchtet den schwankenden Boden: Sie fand ihre erste Anwendung in der Auslegung der Bibel (Kirchenväterzeit), wobei die "innere Haltung" des Interpreten eine entscheidende Rolle spielte. (Exkurs I: Dies ist trotz der offenkundigen Ähnlichkeit mit dem Rosenthal-Effekt bezüglich der Voreingenommenheit des Forschers in Hinsicht auf die zu erzielenden Ergebnisse m. E. nicht vergleichbar: Ist es beim Rosenthal-Effekt so, dass dieser sozusagen "ungewollt" Einfluss nimmt, wird bei der hermeneutischen Methode die Subjektivität zu einem konstituierenden Faktor.)


    Reproduzierbarkeit der Ergebnisse müsste also umgedeutet werden in den schon erwähnten logisch-argumentativen Diskurs. Nachvollziehbar statt reproduzierbar. Allerdings kann eine Theorie in sich stimmig und widerspruchsfrei sein - und trotzdem falsch. (Alles führt zu allem: Hier müsste ein seitenlanger Exkurs über die Wahrheit und deren Verhältnis zur Wirklichkeit stehen. Ich gehe hier von einer zumindest minimalen, objektiven Wirklichkeit aus und betrachte Sätze als wahr, die eine Entsprechung in dieser Wirklichkeit haben.)


    In einem weiteren Bereich kann die Bibelauslegung als beispielhaft für das entstehende Problem gelten: In der Unsicherheit, ob Textstellen metaphorisch oder wortwörtlich zu nehmen sind und welche Interpretation eines Gleichnisses für das richtige gilt. Daran ändern auch Versuche (etwa Schleiermachers) nichts, Texte in einen objektiven (Sprache) und subjektiven (vom Autor als Individuum) erstellten Teil zu unterscheiden. Dieser Spagat wird bei ihm dann in der weiteren Unterscheidung zwischen einer sprachlich-historischen und einer divinatorischen (auf intuitives Erfassen gerichtete) Analyse deutlich.


    (Exkurs II: Hier ist nun Zeit für einen literaturwissenschaftlichen Bauchfleck. Denn auf Hermeneutik folgt häufig Postmoderne, Poststrukturalismus. Zitat Bartlebooth: "Die Postmoderne ist - im Gegenteil - eine einzige Aufforderung zu Begründung, Plausibilisierung, kurz gesagt: zum Dialog. Das was beim gemeinen Fußvolk davon angekommen ist, ist leider mal wieder das Gegenteil, nämlich ein permanentes Abwürgen von Diskussion mit dem Hinweis auf die Nicht-Existenz von Objektivität." - Leider muss ich mich hier teilweise zum ordinären Fußvolk zählen, wenngleich noch ein paar mehr Dinge bei mir angekommen sind: Eine sehr unpräzise Sprache und schwammige Terminologie (sodass man nie recht weiß, was der Betreffende unter einem bestimmten Begriff gerade versteht), ein Wissensrelativismus, der in letzter Konsequenz immer sich selbst ad absurdum führt, eine Art phänomenologische Beliebigkeit und übermäßige Betonung der "Intuition". Das Hauptärgernis bestand für mich immer in der Art der Sprache: Ich hatte ständig das Gefühl, dass ich die Bedeutung vieler Worte einfach nicht verstand, dass ich ein eigenes postmodernes Wörterbuch gebraucht hätte - und selbst dieses wäre oft nutzlos: Weil die Begriffe kontextbezogen waren und von Seite zu Seite in einem anderen Licht, einer anderen Bedeutung erschienen. Es ist nicht so, dass ich gar nichts von alledem gelesen hätte (oder es nicht wenigstens versuchte), ich weiß auch, dass sich nicht jeder Text dem Leser sofort erschließt, aber nach einigem Quälen stellt sich mir dann die Sinnfrage (ob denn da überhaupt etwas zu verstehen sei) - und ob der Autor eigentlich nicht verpflichtet wäre, sich mehr um Verständlichkeit zu bemühen. Mein Lesen und Verstehenwollen erinnerte mehr Kabbalistik und Bibelexegese als an Philosophieren. - Nebenher: "Überwachen und Strafen" sowie "Archäologie des Wissens" sind vorbestellt, vielleicht komm ich ja auf diese Weise der Sache näher:-).)


    Diltheys Teilung in Natur- und Geisteswissenschaften, in idiographische und nomothetische Methoden gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang. Oder - was Dilthey als den Unterschied zwischen Erkennen (Nawi) und Verstehen (Gewi) bezeichnete. So ist die "Geschichtswissenschaft" - nomothetisch betrieben - offenkundiger Unsinn und führt zu eschatologischen Szenarien (wie im Marxismus) oder prophetisch-nostradamischen Nonsens (wie bei Spengler). Die nomothetische Minimalvariante (etwa: Der Einmarsch einer fremden Armee auf ein Staatsgebiet führt zu Verteidigungsmaßnahmen) ist hingegen trivial; sobald sie jedoch zu überschreiten versucht wird, befindet man sich wieder auf der Ebene der Prophetie.


    Wissenschaft als kein bloßes Sammeln von Fakten, sondern der Versuch, die Ursachen derselben erklären. Wobei es nicht um Einzelursachen, sondern um das Erkennen allgemein zugrunde liegender Strukturen gehen soll. Aufgrund dieses Erkennens soll eine allgemeine Theorie formuliert werden können, welche die Einzelerscheinungen zusammenfasst und erklärt. Und diese Theorie soll dann wieder in begründbaren, wahren Sätzen formuliert werden. (Ich kenne eine Uniprofessorin, welche sich die Mühe machte (Mühe, weil in Vorcomputerzeit), die Häufigkeit eines bestimmten Wortes im Gesamtwerk Canettis zu ermitteln. Und aus dieser Häufigkeit immerhin soviel (kurz-) geschlossen hat, dass es für einen Aufsatz über den armen Elias reichte.) Nun kann man natürlich mit dummen Beispielen die beste Theorie diskreditieren, in literaturwissenschaftlich Kreisen scheint ein solches Verfahren aber eher die Regel denn die Ausnahme zu sein.)


    Denkbar wäre aber auch eine "Sozio-kulturelle, diachrone Analyse gigantomanischer Romanfiguren von Rabelais' Gargantua und Pantagruel über Swift zu Rowlings Hagrid unter besonderer Berücksichtigung dislozierter Wohnbedingungen und deren Funktion für die soziale Kohärenz und/oder Gruppenbildung". Mit feinsinnigsten Beweisen für die Gründe einer solchen Dislokation bei Rowling und ihres Bezuges zum hogwartschen Sozialgefüge. Ad infinitum.


    Ergebnis wäre, dass von Literatur_wissenschaft_ nicht gesprochen werden kann, da Kriterien wie Reproduzierbarkeit, empirische Bestätigung nicht erfüllbar sind. Ein Sprechen über Literatur daher nur in unzähligen Einzeltheorien möglich ist, deren Bedingung ihre innere logische Kohärenz ist. Die Subjektivität darf dabei nicht selbst begründend sein (es ist schön, weil es schön ist; es ist schön, weil es mir gefällt; es gefällt mir, weil es schön ist etc.), sondern muss sich auf intersubjektiv nachvollziebare Argumente stützen. Jeder logisch unanfechtbare Begründungskosmos ist gleichberechtigt, kritisiert wird aufgrund deduktiver Regeln.


    Dennoch ist offenkundig, dass die deduktive Logik hier an ihre Grenzen stößt. Immer ließe sich spitzfindig aus dem dümmsten Buch die klügste Interpretation ableiten (ich glaube aus Hagrids Hütte vor dem Schloss so manch schlaues Sätzchen mir abringen zu können), ein dämlicher Dialog sich als vielschichtig darstellen (die Intelligenz liegt in der Dummheit der Darstellung, diese Einfachheit ist Stilmittel und weist auf die Raffinesse der intelligent dargestellten Dummheit hin etc.). Weshalb man dann doch wieder bei Schleiermachers divinatorischen Auslegungen endet.


    Postulieren einer Kritik der reinen, literarischen Hausverstandslogik?? - Hausverstand, der die Existenz von Antipoden über Jahrhunderte schlagend widerlegte.


    Liebe Grüße


    s.

    Hallo!



    das Wörtchen "hier" in meinem vorigen Posting war verlinkt. Du kannst in dem entsprechenden Thread nachlesen, was ich und andere dazu gesagt haben. Eine Reaktivierung würde sich meiner Ansicht nach schon lohnen. Und schlüpfriges Terrain gibt es ja sogar da, wo man es niemals vermuten würde.


    Meiner unmaßgeblichen Meinung nach kann man sich Qualität nur diskursiv nähern und sie ist natprlich deshalb auch historisch veränderlich. Ich halte sie nicht für objektiv feststellbar und nicht für willkürlich. Es gibt Kriterien, anhand derer man sich einer Kategorie wie "Qualität" recht problemlos nähern kann, wenn man das mal akzeptiert hat. Und genau dann wird ein Gespräch über Literatur nach meinem Dafürhalten interessant.


    Dieser Thread hat einigen Unterhaltungswert! Und hat mich an den anderweitig aufgetauchten Luhman nebst seinen Autopoiesis-Konzepten erinnert.


    Der in meinem ersten - gelöschten - Posting vorgeschlagene Diskurs mit nachvollziehbaren Argumenten dürfte in etwa dem entsprochen haben, was du mit deinen Beiträgen (mehrfach :-) ) auszudrücken versuchtest, womit du aber nicht immer zum Ohr des Empfängers durchgedrungen zu sein scheinst.


    Meine Probleme sind anders gelagert, ich muss sie noch mal überdenken und ausformulieren. Sie stoßen sich mehr am Begriff "Wissenschaft", an Theorien (z. B. Ästhetiktheorien), die nicht falsifizierbar sind, an einer "Wissenschaft", die u. a. oder v. a. der Bewertung von Kunst dient (was mir suspekt erscheint), an der Differenz von Literaturkritik und Literaturwissenschaft.


    Grüße


    s.

    Hallo Bartlebooth!



    das Wörtchen "hier" in meinem vorigen Posting war verlinkt. Du kannst in dem entsprechenden Thread nachlesen, was ich und andere dazu gesagt haben. Eine Reaktivierung würde sich meiner Ansicht nach schon lohnen. Und schlüpfriges Terrain gibt es ja sogar da, wo man es niemals vermuten würde.


    Meiner unmaßgeblichen Meinung nach kann man sich Qualität nur diskursiv nähern und sie ist natprlich deshalb auch historisch veränderlich. Ich halte sie nicht für objektiv feststellbar und nicht für willkürlich. Es gibt Kriterien, anhand derer man sich einer Kategorie wie "Qualität" recht problemlos nähern kann, wenn man das mal akzeptiert hat. Und genau dann wird ein Gespräch über Literatur nach meinem Dafürhalten interessant.


    Tja, der Link funktioniert, wenn man "forum/" aus der Url löscht :-), weil sich die Standardseite geändert hat. Werde mich mal schlau machen, für mich bei diesem Thema dringend notwendig.


    Grüße


    s.

    Hallo Bartlebooth!



    eine Diskussion zu diesem Thema mussten wir hier leider wegen unüberwindlicher Kommunikationsprobleme abbrechen.
    :breitgrins:
    Möchtest Du reaktivieren?


    Keinesfalls, und das meine ich ernst, möchte ich einen irgendwie gearteten Streit entfachen - und wie schnell Missverständnissen Tür und Tor geöffnet werden kann, sah ich im Nachbarforum.


    Mir ist also an einer Reaktivierung bislang unbekannter Kommunikationsprobleme nicht gelegen, mit babylonischer Sprachverwirrung bin ich im Alltag schon geschlagen. (Ich überlege, die gesammelten Telefongespräche mit Hotline-Mitarbeitern und (semi-)offiziellen Stellen herauszugeben, um für den nicht unerheblichen Ärger eine finanzielle Entschädigung zu lukrieren.)


    Tatsächlich hab ich mir bei der Frage aber etwas gedacht. Denn in einem Literaturforum angekommen sehe ich erstaunt, dass Bücher in die unterschiedlichsten Teilbereiche und Rubriken unterteilt werden. Was zum einen hilfreich sein kann, zum anderen aber Erstaunliches (für mich) zeitigt: Etwa die Weigerung aus der Rubrik xy ein Buch zu lesen. Und _das_ erstaunt mich, weil _ich_ hauptsächlich zwischen guten (interessanten) und schlechten (langweiligen) Büchern unterscheide. Mir ist es im Grunde egal, ob ein Buch einer bestimmten Kategorie angehört, ob es von einem Mann oder einer Frau geschrieben wurde, von einem bisexuellen Eskimo oder einem hämorrhoidengeplagten Beduinen. "Gut" sollte es sein - oder interessant, wie auch immer die - positiv konnotierte - Bezeichnung ausfällt. Weil ich festzustellen glaubte, dass zwischen guten Büchern (Autoren) eine sehr viel stärkere Verbindung besteht, als zwischen Autoren, die zufällig das gleiche Genre beackern, wovon der eine des Schreibens und Denkens fähig ist, während der andere in den Niederungen der Einfalt und Trivialität seine Existenz fristet.


    Tja, und deshalb würden mich diese Wertungskriterien interessieren. Ich _weiß_ mit Bestimmtheit, dass die Buddenbrooks "besser" sind als irgendein Coelho-Elaborat, ich kann für diese These - hoffentlich nachvollziehbare - Argumente anführen, aber es bleibt immer ein Gran Zweifel zurück; oft meine ich, dass der schlecht beurteilte Autor durch eine Verteidigung meinerseits gut aufgehoben wäre, ich finde dann nur schwerlich Gegenargumente für meine eigene (vorgestellte) Verteidigungssuada.


    Und hier stellt sich eben die Frage, ob die Literaturwissenschaft mir Argumente an die Hand geben könnte, um einen solchen Beweis zu führen. Selbst wenn eine solche wissenschaftliche Analyse weitgehend _wertfreie_ Fakten liefert (liefern soll?), habe ich das Gefühl (das selbstverständlich trügen kann bzw. nur für mich allein diese Bedeutung hat), dass neben bloßer Beschreibung eben Argumentationsgrundlagen geliefert werden soll(t)en. Und wenn nicht - bin ich dann nicht in einer Situation, die mit einer "physikalischen" Bildbeschreibung vergleichbar wäre (genaue Größe, Materialverwendung, Häufigkeit der verwendeten Farben Blau, Rot ..., Anzahl der Personen auf dem Bild, der Sträucher, Hunde etc.) und ginge eine solche Beschreibung nicht am "Eigentlichen" eines Bildes vorbei?


    Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, diverse Theorien auf Romane angewendet zu sehen (etwa eine Raum-Zeit-Theorie auf Romane des 18. Jahrhunderts, ein psychoanalytischer Ansatz wurde - selbstredend - dem armen Kafka aufgepfropft), aber stets den Eindruck, dass dadurch über die Bücher selbst nichts oder Bedeutungsloses ausgesagt wurde. Die Ergebnisse waren nicht einmal dürftig, sie waren schlicht beliebig. Als ob man die besitzanzeigenden Fürwörter von Romanen zählen wollte und aus ihrer Anzahl auf einen (nicht-)kapitalistischen Hintergrund des Schriftstellers schließen wolle.


    Vielleicht kann man aber diese Grundsatzdiskussion gar nicht führen, ich fühle mich selbst nicht recht wohl dabei. Eventuell das Pferd von hinten aufzäumen: Was veranlasst den Einzelnen, ein Buch als lesenswert/nicht lesenswert zu beurteilen und spielen dabei literaturwissenschaftliche Überlegungen eine Rolle? Können, sollen sie das? Schlüpfriges Terrain, allüberall. Vielleicht ist das mit Reaktivierung doch keine so gute Idee :-).


    Irgendwie so. Grüße


    s.

    Hallo!



    Wenn du wirklich Germanistik studierst, solltest du eigentlich schon zu Beginn gelernt haben, dass es bei einer literaturwissenschaftlichen Lektüre völlig belanglos ist, ob man subjektiv mitfühlen kann. Es geht um die ästhetischen und strukturellen Qualitäten des Romans oder um den literatur- und geistesgeschichtlichen Kontext. Ein Literaturstudium sollte es einem nicht nur ermöglichen zwischen objektiven Gegebenheiten und subjektiven Vorlieben zu unterscheiden, sondern dann auch zugunsten der Objektivität Urteile zu fällen.


    Nimm mal ein anderes Fach und stell dir vor ein Botanikstudent schreibt: Ich studiere Botanik aber diese Blume gefällt mir nicht, weil sie blau ist. Das mag ein akzeptables subjektives Urteil sein, hat aber nichts mit Botanik zu tun.


    Wenn es "um die ästhetischen Qualitäten des Romans geht" - in welcher Form könnten diese bei einem Roman beurteilt werden? gibt es eine Art allgemein akzeptierten "Goldenen Schnitt" für die Komposition von Romanen? für die Schönheit von Prosa (oder auch Gedichten) und zu welchem Ergebnis könnte man nach Anwendung eines solchen Ästhetikkatalogs (Theorie ...) kommen? Müsste man nicht jedem Kunstwerk, bei dem eine solche ästhetische Prüfung erfolgt, das Prädikat schön oder hässlich oder irgendeinen dazwischen liegenden Wert zuerkennen?


    Kann eine solche Zuerkennung ohne Subjektivität erfolgen? bzw. wäre sie nicht von der Anerkennung einer bestimmten, auf das Kunstwerk angewendeten Theorie abhängig? Wer bestimmt die Gültigkeit einer solchen Theorie und wie groß ist die Abhängigkeit solcher Theoriegebilde von der Zeit, von Moden? Wie könnte trotzdem ein "Urteil zugunsten der Objektivität" ausfallen?


    Besteht die Crux im Vergleich mit der blauen Blume nicht darin, dass kein Botaniker - für welche wissenschaftliche Klassifikation auch immer - auf eine ästhetische Beurteilung oder ästhetische Theorie zurückgreifen würde?


    Oder es besteht eine Begriffsverwirrung bezüglich der "ästhetischen Qualitäten", welche einfach anhand eines bestimmten Kataloges auf ihr Vorhandensein überprüft werden, wonach man zu einem Urteil "erfüllt", "nicht erfüllt" gelangt, das dann kein Werturteil der Art "schön" oder "hässlich" einschließt, sondern rein deskriptiven Charakter hat wie etwa die Analyse der geistesgeschichtlichen Zusammenhänge. Oder was wäre sonst unter "ästhetischen Qualitäten" zu verstehen?


    Grüße


    s.

    Hallo!



    Sehr gut: Dann investiere ich die Antwortzeit stattdessen in Lektüre :breitgrins:


    Unbedingt, unbedingt. Das hätte doch nur ein psychopathologische Studie scheichsbeutelscher Schlafstörungen werden können. Aber beizeiten werde ich darauf zurückkommen, Literaturkritik und -wissenschaft fein säuberlich zentrifugieren (lassen!), ästhetische Grundsätze ohne subjektiven Einschlag über die Texte breiten (lassen!) und dann endlich eine Begründung für das jetzt mit Gewissheit Geahnte kennen. So irgendwie :-).


    Wünsche erhellende und erfreuliche Lektüre.


    s.