Beiträge von scheichsbeutel^

    Hallo!


    Nur eines sei hier herausgehoben, möglicherweise aber beispielhaft für die anderen Figuren: Mary K. begeistert - und zwar die Umwelt. Abgesehen von den physischen Attributen (und spätestens bei den Dämonen weiß man um Doderers Vorlieben ;-)) ist sie "klug, intelligent, dezent ..." - und sie (Mary) bzw. er (Doderer) bleiben die tiefere Begründung für diese Adjektive schuldig. Dennoch kann ich als Leser sehr gut diese Beliebtheit nachvollziehen, das ist jene glatt polierte, schöne Oberfläche, die allenthalben Freude erweckt (wenngleich ich als reale Person mit den Mary K.s kaum Umgang pflege). Entscheidend für eine Figur ist ihr Funktionieren im Roman, die Plausibilität ihrer Beliebtheit und mitnichten, ob mir persönlich das Wesen da sympathisch ist. Und plausibel ist die Mary sehr wohl, reizend, hübsch (in des Autors Sinne) und blank poliert.


    Exkurs: Das mag man heute noch - und frau poliert (des Mannes wegen??) neben inneren Qualitäten auch die äußeren brav mit (weil irgendein Modeschnösel etwa beschlossen hat, den Haarwuchs an Beinen oder gar unter der Achsel für unanständig und eklig zu halten). Deshalb rasieren sich sowohl die Kuhmagd in einer alpenländischen Bergbauernregion als auch die südkoreanische Fischverkäuferin tagtäglich (wöchentlich?? - monatlich??) brav das weg, was irgendwelche Eiergänger von Modefuzzis für hässlich erklärt haben. Mary K.s - und solche, die es werden wollen, allüberall.)


    Insofern also scheint Mary aktuell, vor allem aber: Madame vertritt in ihrer fraulichen Tugenhaftigkeit und Tüchtigkeit den allgemein anerkannten Beliebtheitstypus sehr gut - bzw.: Doderer hat ihn in der Person der Mary nach meinem Dafürhalten großartig gestaltet. Ob ich mit der guten Dame auskäme ist aber von beachtlicher Belanglosigkeit, ich pflege mich auch mit gut gezeichneten Nazi-Schergen nicht zu identifizieren. Freue mich aber dennoch über eine gelungene Darstellung.


    Abgesehen aber von aller Figurenplausibilität: Die unglaubliche und für mich jede Schwäche des Romans überdeckende Qualität des Romans liegt in den psychologischen Bildern, den Innen-Außenansichten der Personnage, die mir manche Unzulänglichkeit im Handlungsgeflecht (und die Handlung selbst in ihrer "Verfilmbarkeit" interessiert mich meist nicht die Bohne - im Gegenteil: Alle 1 : 1 verfilmbaren Bücher langweilen mich per se) schlicht irrelevant erscheinen lassen.


    Im übrigen bin ich (bis auf ganz wenige Ausnahmen) gerade bei der Strudlhofstiege vom gesamten Handlungsaufbau (nebst den zahlreichen Zeitsprüngen) tief beeindruckt und auch voller Bewunderung für diese Leistung (denn eine solche Konstruktion durchzuhalten und tatsächlich zu einem sinnvollen Ende kommen zu lassen ist schon eine Leistung für sich - wär' derlei nur auch Musils MoE beschieden gewesen, obwohl ich hier manchmal den Eindruck hatte, dass der schon als Unvollendeter begonnen wurde). Ich hab es auch nicht als so verwirrend empfunden wie oftmals beschrieben, vor allem aber wird man trotz aller labyrinthischen Abwege mit derart eingängigen Beschreibungen belohnt, dass man - möglicherweise - zum sofortigen Wiederlesen gezwungen wird: Und was kann man von einem Buche Besseres sagen als dass ein solches doppeltes Lesen absolut empfehlenswert und nirgends langweilig ist.


    Grüße


    s.

    Hallo!


    <a href="http://gig.antville.org/">Hier</a> eine recht amüsante Nachlese zum alljährlichen Vorlesen. Schecks RTL-Vergleich gefällt mir ausgezeichnet - sowohl die Vortragenden als auch die Jury betreffend. Die Radisch als Bohlen der Literatur.


    Grüße


    s.

    Hallo!


    Wie ähnlich Leseerlebnisse sein können. So empfindet man etwa die "Ansichten eines Clowns" in erwähntem zarten Alter fast als revolutionär, und später ergeht's einem wie weiland Nietzsche mit dem NT: Man hat das Gefühl sich die Hände waschen zu müssen, weil etwas Moralinsaures-Katholisches an den Fingern haftet.


    Die Deutschstunde habe ich nicht wiedergelesen, aber Ähnliches befürchtet wie hier beschrieben. Mit manchen Werken Th. Bernhards gings mir ähnlich (Auslöschung, Verstörung, Amras ... weniger bei den Autobiographien) und auch mit vielen Romanen von Dostojewski.


    Grüße


    s.

    Hallo!



    Ich erinnere mich, dass ich ähnlich auf eines der Vorbilder von Rabelais reagiert habe, den Ulenspiegel.


    Genau hier liegt aber m. E. ein entscheidender Unterschied. Die Eulenspiegeleien sind - auch - Sozialkritik, dienen häufig dazu, seltsame Verhaltensweisen darzustellen, sind ein augenzwinkerndes Wörtlichnehmen von Redensarten und verweisen - wenn auch nicht immer geistreich - auf die Fallstricke von Sprachkonventionen. Hingegen sind den von mir monierten Scherzen Panurges nur mit sehr viel gutem Willen solche Interpretation zu unterlegen; wenn geschildert wird, wie jemandem Juckpulver in den Kragen geschüttet wird, bleiben meine Gesichtszüge ebenso ungerührt wie bei den Aufführungen der unzähligen Comediens in Sat1, RTL und Pro7. Den Zustand der Vertrottelung, Atze Schröder witzig zu finden, habe ich noch nicht erreicht.


    Trotzdem werd ich wohl weiterlesen, irgendwie hoffe ich, dass das hier gelobte dritte Buch mich noch entschädigen wird.


    Grüße


    s.

    Hallo!


    Zur Schopenhauerrezeption: "Schopenhauer im Denken der Gegenwart", Piper Verlag 1987. 23 verschiedene Beiträge aus aller Herren Länder, auch in der Qualität sehr unterschiedlich, aber durchaus nicht nur von Schopenhauerverehrern verfasst. Analysiert wird Schopenhauers Einfluss auf die Kunst (u. a. von Hildesheimer: Die siebenstimmige Fuge des Satzes vom zureichenden Grund) oder Kritisches (Hans Schiefele: Wie einer wird, was er dann ist. Drei kleine Stücke über den blinden Fleck im Auge eines Scharfsichtigen), bekannte Autoren sind des weiteren P. Watzlawick und St. Lem. Ein heterogenes Buch, aber sehr gut zur Frage passend, welchen Einfluss Schopenhauer auf Kunst, Philosophie, Politik etc. hatte.


    Grüße


    s.

    Hallo allerseits!


    Nach längerer Unterbrechung nun beim zweiten Buch bis zum 16. Kapitel weitergelesen. Meine Begeisterung hält sich in engen Grenzen, Panurge langweilt mich, Kapitel 16 mutet wie eine kindische Aufzählung von Pennälerstreichen an (ich hab es mit 11 Jahren auch originell gefunden, dem Religionslehrer mit Kreide ein Herz auf den Rock zu malen). Kapitel 15 ähnlich, die Geschichte vom Fuchs und der alten Frau nebst hochgeschobenen Rock ist bloß zum Gähnen.


    Mittlerweile les ich eigentlich nur noch aus literaturhistorischem Interesse, begleite die Lektüre mit kulturgeschichtlichen Büchern zur in Frage stehenden Zeit und bessere meine historischen Kenntnisse des 16. Jahrhunderts auf. R. dient als Anlass für die Beschäftigung mit anderer, verwandter Literatur, er ist, weil kulturgeschichtlich einflussreich, in dieser Hinsicht von Interesse. Das Werk selbst, hätte es diese Bedeutung nicht, würde ich weggelegt haben, das Geschriebene an sich bereitet mir wenig Vergnügen.


    Grüße


    s.


    Im Moment ist Pantagruel damit beschäftigt, einen seit Jahrzehnten vor Gericht liegen gebliebenen Fall als Richter aufzulösen. Im Grossen und Ganzen scheint mir im Moment die Kritik an staatlichen Institutionen grösser zu sein als die an kirchlichen, i.e. der Sorbonne.


    Nur kurz: Die Sorbonne war Hort einer reaktionären, katholischen Lehre, hat sich als Gegnerin des Humanismus geriert und kann (muss?) als kirchliche Institution betrachtet werden. Gerade zu Zeiten R.s hatte sie einen sehr konservativen Charakter und verstand sich als Verteidigerin einer restriktiven, kirchlichen Moral. Ich vermute, dass, wenn R. Sorbonne schreibt, er ausschließlich sich auf die dortige theol. Fakultät bezieht.


    Grüße


    s.


    Gestern habe ich was recht interessantes gefunden. Johann Fischart (1546-1591) hat den Gargantua "übertragen" und den Text auf deutsche Verhältnisse erweitert: Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung
    Ein Teil des Textes findes sich hier.


    Ich danke dir, jetzt weiß ich, was ich gestern nächtens vergebens aus meinem mühsam kreißenden Gehirn zutage fördern wollte (und doch nur bei Wickram hängenblieb). :winken:


    lg


    s.


    Noch ein Wort zur Obszönitätsdebatte:


    Ich denke es greift doch deutlich zu kurz, wenn man die heutige Debatte zu diesem Thema ins 16. Jahrhundert transferiert. Die kulturellen Hemmschwellen damals sind mit den heutigen nicht wirklich zu vergleichen, weshalb ich vorsichtig wäre, hier allzu große Linien zu ziehen. Es stimmt sicher, dass skatologischer Humor ein zeitloser Renner ist (findet sich ja auch in den antiken Komödien reichlich), trotzdem muss man den kulturhistorischen Kontext immer mitdenken (etwa die medizinischen Praktiken oder die sanitären Verhältnisse). Damals stand man mit der Scheisse einfach noch auf vertrauterem Fuß.
    Aus dem Stand heraus würde ich es deshalb kein Urteil darüber wagen, ob diese Passagen für die zeitgenössischen Leser- / Hörerschaft "nur" lustig war, oder ob sie auch provokatives Potenzial hatten (von anderen Inhalten rund herum mal abgesehen).


    Ich hab auf diese kulturhistorischen Hintergründe ausdrücklich hingewiesen. Mein Unmut solchen Stellen gegenüber (die nun aber hier bei weitem nicht in dem Ausmaß auftreten, dass sie ein Grund zur Verärgerung wären) ist einfach ein fundamentales Desinteresse an Schlüpfrigkeiten. Selbstverständlich sind die Beweggründe für solche Stellen in der Gegenwartsliteratur andere - und gerade des hist. Hintergrundes wegen sind mir solche anzüglichen Passagen bei längst verstorbenen Schriftstellern wesentlich lieber. Ich weiß nicht (und zweifle auch daran), ob R. daran gelegen war, mit diesen Passagen zu provozieren (viel aufrührerischer sind die Stellen, in denen der Klerus schlecht wegkommt).


    Aber unabhängig von der sozialhist. Bedeutung les ich derlei meist ungern. Das gibts bei Boccacio, derber bei Hanns Sachs, Wickrams Rollwagenbüchlein ist hier einzuordnen und viele der Volksbücher des 16. Jahrhunderts. Das Dekamerone etwa war für mich eine ziemliche Enttäuschung: Diese Aufeinanderfolge von bescheiden witzigen Geschichtchen mit Kopulationshöhepunkt lassen mich gähnen. Wie überhaupt erotische Darstellungen m. E. in der Literatur nur selten gelingen: Changierend zwischen dümmlich-provokativer Pornographie und Herz-Schmerz Dramen.


    --------------------------


    Durant erwähnt u. a., dass Lyon eines der Zentren des Buchdruckes gewesen sei (und sogar über Paris zu stellen), ein gewisser Etienne Dolet war dort als Drucker tätig, Freund von R., später Herausgeber hauptsächlich ketzerischer Schriften, was ihn auf dem Scheiterhaufen enden ließ. "Privatbibliotheken gab es zahllose, öffentliche Büchereien wurden laufend errichtet." Dies alles als Hinweis, dass es R. so schwer nicht gefallen sein dürfte, auch in nachklösterlicher Zeit an seiner Belesenheit zu arbeiten.


    Das erste Buch nun ausgelesen und der anfängliche Unmut ist verschwunden. - Der Thelemitenorden ein träumerisches Utopia von vielen, wenn man dem Menschen nur seine Freiheit ließe, dann ordnete sich alles von selbst. Das ist denn doch herzlich naiv, zum Glück bei R. weniger ernst zu nehmen als bei späteren Sozialaposteln. Der Abschluss aber ganz nach meinem Geschmack: Das prophetische Gedicht von Weltuntergang und -erneuerung mit der trocken-prosaischen Auslegung des Mönchs: Allegorische und tiefsinnige Interpretationen werden zugunsten einer Beschreibung des Ballspiels aufgegeben. Schön sowas, sonst gäbs neben der Nostradamus- auch eine Rabelaisexegese, die tiefsinnig den warmen April 2007 vorausgesehen hat.


    Grüße


    s.

    Hallo allerseits!


    Ich les mich langsam rein - will sagen: Die Freude an der Lektüre nimmt zu. Kap. 27 am Beginn nimmt die Voltairschen Zweifel an der besten aller Welten vorweg und lässt die Gerechtigkeit Gottes zweifelhaft erscheinen. Der Aufforderung, doch darüber einmal nachzudenken, darf entsprochen werden. - Ich vermute, dass es v. a. solche Stellen waren, die die Sorbonne zur Verteufelung des Buches bewegt haben und weniger die Stellen über Vermehrung und Ausscheidung. (Kapitel 40 wird wohl auch nicht auf eine wohlwollende Beurteilung des Klerus rechnen dürfen, obschon sehr amüsant - und auch geistreich.)


    Nett die Kriegspläne in Kapitel 33 nebst der Zeichnung Dorés auf S. 180 meiner Ausgabe. So mancher Gröfaz scheint diesen Abschnitt auf sein eigenes Wirken bezogen zu haben.


    Die Art doppelter Selbstironie in Kapitel 41 find ich schön: "Sollen mir doch gleich hundert Teufel in den Leib fahren, wenn's nicht mehr alte Saufbolde gibt als alte Ärzte." Das aus dem Mund eines Mannes, der einerseits Arzt war, andererseits aber keineswegs einen ausschweifenden Lebensstil gepflogen hat. Diese theoretischen Verehrer des "Bodenständigen" gibts immer wieder, wenn auch bewundert, so leisten sie im eigenen Leben auf das Bewunderte gern Verzicht.


    Grüße


    s.

    Und hallo, weiter ging's ...


    Wenn man Kapitel 19, 20 liest versteht man, warum die Sorbonne das Buch verurteilte, grade positiv werden die Gelehrten nicht beschrieben. Überhaupt gehörte einiger Mut dazu, das alles so zu schreiben, insofern will ich ihm auch gerne ein paar Schweinereien nachsehen, da sie nicht bloß provokativ verkaufsfördernd, sondern ev. auch lebensgefährlich waren. Und das ist dann doch etwas anderes als eine wohldosierte Schlüpfrigkeit in unseren Tagen mit dem Schielen auf die Verkaufszahlen.


    Nett find ich auch das Gelübde der Rechtsgelehrten, sich nicht mehr zu waschen, eh das Urteil gesprochen sei. "Zufolge dieser Gelübde sind sie alle bis auf den heutigen Tag Dreckfinken und Rotznasen geblieben ..." "Denn bis auf den heutigen Tag hat das Gericht nicht alle Eingaben gesichtet, durchgesiebt und begackert". Das macht doch Literatur aus - Aktualität über die Jahrhunderte.


    Das relativ lange Kapitel 23 mit den Unterhaltungen bei Tisch erinnert mich an so manch gehörte Stammtischunterhaltung von PM-gebildeten Vollzeittrinkern. Da wird allerhand Gelehrtes vorgebracht, um sich gegen Ende zum Abgesang von Schnaderhüpfeln zu entschließen. Aufzählungen erträglich - hingegen: sandhofer, Aufzählungsfetischist: Hast du das Kapitel 22 brav durchgelesen und memoriert? Zum Abschluss des ersten Buches gibt's eine Prüfung.


    Grüße


    s.


    Wieso denn Konjunktiv? :breitgrins:


    Das Wort aus dem Mund genommen ...


    Ich kann erst am langen WE weiterlesen (Do-So, da aber ausgiebig). Heute und Morgen Abend Staatsoper, Mittwoch Akademietheater.


    Spuren der Verirrten? Schreib doch was drüber (nach Möglichkeit abfällig) - damit ich ein Argument habe, der bildungsbürgerlichen Handke-Verpflichtung zu entgehen :breitgrins:


    Grüße


    s.


    Nein, tatsächlich nicht. Aber genau das, diese Schlussfolgerung, habe ich als Pointe Rabelais' empfunden :zwinker: , also das, vorauf Rabelais den Leser hinführen wollte.


    Den Pädagogen Rabelais habe ich in meiner Aufzählung noch vergessen ... :breitgrins:


    Vielleicht bin ich zu unduldsam, mein unruhiger Geist will weiter und ich möcht R. zurufen, dass ich's schon verstanden hab. Außerdem steht zu befürchten, dass alle päd. Anwandlungen bei mir auf wenig fruchtbaren Boden fallen. Was mir, um bei der Päd. zu bleiben, an ihm gefällt, ist seine Selbstironie, etwa das Lächerlich Machen des ganzen Bildungswustes von einem, der als Vielleser und Vielzitierer genau mit diesem Wissen hausieren ging.


    s.


    Die von Dir monierte Szene z.B. finde ich wissenschaftsgeschichtlich bzw. wissenschaftstheoriegeschichtlich interessant, indem es den scholastischen Umgang mit dem Experiment persifliert, wo einfach planlos drauflos experimentiert wurde, während jetzt mit den neuen Lehrern von Gargantua planvolles Handeln angesagt ist, auf allen Ebenen.


    Gargantua als Verfechter der "Versuch und Irrtum Methode" und Begründer der Experimentalphysik, bis ihm eine noch nicht falsifizierte Theorie des Hinternputzens gelingt. Aber über alle seine Versuche sechs Seiten lang mich so detailliert zu unterrichten, das wär nicht notwendig gewesen :zwinker:


    s.

    Hallo allerseits!


    Nun muss bei mir die Nacht zur Lektüre herangezogen werden: Bei Durant finde ich mehrfach Hinweise auf intimen Umgang mit den Humanisten seiner Zeit (etwa Erasmus) als auch eine Freundschaft zu einem Verleger. Dies erleichterte wohl den Zugang zur Literatur. Ob es dem einigermaßen wohlsituierten Arzt R. an Geld mangelte, sich Bücher zu leisten (Durant erwähnt ein Jahresgehalt von 40 Pfund und ich hab nicht die mindeste Ahnung, ob das viel oder wenig ist), entzieht sich meiner Kenntnis, allerdings hat er vor dem Gargantua mehrere griechische Texte herausgegeben, übersetzte Hippokrates ins Lateinische etc., aber "sowohl seine Zitate als auch Editionen ermangelten der nötigen Sorgfalt" und mit den Texten sei er oft recht frei umgesprungen (was ev. durch die schwere Verfügbarkeit bedingt gewesen sein mag).


    Im übrigen betont Durant mehrfach, dass es sich bei R. keineswegs um einen Säufer und Lebemann gehandelt, sondern er einen sehr mäßigen Lebenswandel gepflogen habe.



    Was ich wiederum nicht verstanden habe, Rabelais schreibt Freude sei das Gegenteil von Trauer, im Anhang steht, hier hätte er einen dialektischer Fehler begangen, kann mir jemand das erklären?


    Bei mir ist kein derartiger Hinweis zu finden. Bei den Gegensatzpaaren schreibt er einmal Freude-Trauer, dann wieder Freude-Leid. Ich glaube aber, dass dein dialektischer Hinweisgeber im Anhang das Ganze zu ernst nimmt. R. weist schon im 9. Kapitel (das mir gut gefallen hat) auf die Lächerlichkeit solcher Zuordnungen hin, ob er dann seine eigenen Ausführungen (zwar vom hochherrschaftlichen Aristoteles abgeleitet) so ernst genommen haben wird - ich weiß nicht. Der letzte Absatz des 10. Kapitels scheint mir eher ein Beleg für das Gegenteil zu sein. (So nebenher, war's nicht der hier vor kurzem gelesene Marco Polo, der die weiße Trauerkleidung im Okzident bekannt machte?)


    Ich bin kein Freund von Aufzählungen (wie Sandhofer), weshalb mich etwa das Arschwisch-Kapitel eher genervt hat. Insgesamt ergeht's mir ein wenig wie Zola (auch mit der Hoffnung), ansonsten wird's wohl nix werden mit den 1350 Seiten.


    Grüße


    s.


    Außerdem stellt er seine Belesenheit zur Schau, wobei mich interessieren wollte, wie/wo Rabelais Zugriff auf so viele Bücher hatte. Ein Bibliotheksturm wie Montaigne dürfte es ja wohl nicht gewesen sein.


    In Durants Kulturgeschichte Bd 10 erfährt man von seiner Erziehung in einem Franziskanerkloster, "ein Los, das er mit Ergebung trug, weil vermutlich die Klosterbibliothek eine starke Anziehungskraft auf ihn besaß". Gerade seine Bücherliebe scheint ihn dann ins Gefängnis gebracht zu haben, da er Almosen, die er für seine Predigten erhielt, für den Erwerb griechischer Klassiker verwandte. Der franz. Humanist Guillaume Budé verwendete sich für seine Freilassung, R. wechselte zu den Benekdiktinern und durfte auf Fürsprache des Bischofs von Maillezais ausschließlich seine Studien obliegen.


    Offenbar ein Bibliomane, dessen umfassende Bildung so gesehen nicht überrascht.


    Grüße


    s. - der leider kaum zum Lesen kommt :sauer:


    Und dann noch eine Frage aus purer Neugier an die Leser der Deutschen Fassung:
    Wie ist die Namensgebung Gargantuas übersetzt? (Kapitel 7)


    [...] als er mit dem Gebrüll "zu trinken! zu trinken! zu trinken!" verlangte. Da sprach er: "Gar grantig tut's da!" (nämlich das Kind vor Durst). [...] er müsse um deswillen wahrlich den Namen Gargantua bekommen, weil dies ...


    Wie lautet die entsprechende Passage im Original (auch auf die Gefahr hin, dass meine Kenntnisse nicht ausreichen)?



    liefert eine Art Poetologie dahingehend, dass man sich nicht mit der Oberfläche des Textes zufriedengeben sollen.


    Netter Trick. Suggeriert in jedem Fall Tiefgang und wird die Leute zu tiefsinnigen Spekulationen anregen, auch wenn solche vielleicht(?) vom Autor nur mit posthumen Grinsen quittiert würden. Sollte ich jedem meiner Beiträge voranstellen :zwinker:.


    Off topic: Zu den Anzüglichkeiten in literarischen Texten - aber das wäre im Grunde ein eigener Thread: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in Sitzungen (neudeutsch Meetings - oder Verwandtes) das Wort "Scheiße" mit indigniertem Gesichtsausdruck ad notam genommen wird - und dies von genau jenen Leuten, welche - kulturell hochstehend - im Anschluss Jelineks sprechender Vagina auf der Bühne applaudieren. Um sich die eigene Aufgeschlossenheit zu konzedieren. Und so werden Verdauungs- oder Fortpflanzungsprobleme zu kulturellen Belangen allererster Ordnung, während man sich über die Fäkalsprache von Stammtischen echauffiert. Und nicht immer ist der Unterschied zwischen Würstelstand und Burgtheater so groß, wie manche sich das wünschen.


    Grüße


    s.


    Das Antisemitische scheint wohl geschichtlich gesehen eine deutsche Spezialität zu sein.


    Was den Antisemitismus betrifft dürfen auch wir Österreicher das Verdienst in Anspruch nehmen, ihn - teilweise - salonfähig gemacht zu haben (etwa der christlich-soziale Bürgermeister Wiens Lueger). Und ganz unbekannt war diese Haltung auch anderen Völkern nicht, die Polen waren diesbezüglich lange die besseren Deutschen.


    Wie sieht es aber mit der Dichtung Arndts aus?


    Von Arndt kenne ich kein Werk, ihn nur aus der Geschichte und seinen Einsatz zur Abschaffung der Leibeigenschaft.


    Grüße


    s.


    Es soll politisch so unkorrekte Zeiten gegeben haben – so habe ich mir wenigstens berichten lassen – als die Menschen einfach nur Spaß an dergleichen Anzüglichkeiten hatte. Darüber sind wir heute natürlich hinaus, aufgeklärt und reingeweicht, wie wir sind. :smile:


    Deshalb mein Hinweis auf das - möglicherweise - kulturhistorisch Interessante. Aufgrund meiner Aufgeklärtheit erlaube ich mir, derlei langweilend zu finden (unabhängig davon, wann sowas geschrieben wurde - bei Grassens Butt etwa waren das auch jene Stellen, die mich am meisten zum Gähnen brachten). Im übrigen haben die Leute damals wie heute großen Spaß an solchen Anzüglichkeiten, aber die schenkelklatschende Stimmung wollte sich bei mir nie so recht einstellen. (Jugenderinnerung: Ich als junger Lehrling, der durch besonders ordinäre Witze in Verlegenheit oder zum Lachen gebracht werden sollte. Aber: Weder das eine noch das andere, viel mehr Langeweile und der Eindruck, dass da jemand mit seiner Sexualität noch größere Probleme hatte als der Heranwachsende.)


    @ Sandhofer: Schlimm - aber natürlich nicht. Wie gesagt - ich nehme zur Kenntnis, dass das für damalige Zeit vielleicht mutig war. In dem bisherigen Ausmaß stört's mich auch kaum, nur hält sich eben auch meine Begeisterung in Grenzen.


    Was mir, den Anmerkungen folgend, von Bedeutung scheint, ist die teilweise Unübersetzbarkeit des Originals (solltest du die deutsche Ausgabe auch besitzen, könntest du das ev. verifizieren). So gesehen vielleicht ein Ulysses der frühen Neuzeit.


    Grüße


    s.


    Meinen wir wirklich alle denselben? In Anbetracht der Lebensdaten von Ernst Moritz Arndt kann ja von "nationalsozialistischer" Eisntellung nicht ernsthaft die Rede sein; Nationalist und Antisemit - mag sein, ich kenne ihn zu schlecht. Ach, diese Gutmenschen im Schulwesen ... :sauer:


    Nationalsozialist wohl kaum, aber ein strammer Nationaler und Antisemit - und von den Nazis als Vorkämpfer ihrer Bewegung Adaptierter. Wofür er natürlich nix kann. Da es aber in der deutschen Geistesgeschichte keinen Mangel an solchen Vorkämpfern gab - von Jahn über Fichte und und und - hat man mit den vorzunehmenden Unbenennungen wohl einiges zu tun. Andererseits darf man sich seit letztem Sommer ungestraft die Nationalfarben ins Gesicht kleckern und mit der Fahne wedeln, sodass die Sache mit den Umbenennungen nun vielleicht als weniger brennend angesehen wird :breitgrins:


    s.