Beiträge von Krylow

    Zefira

    Bei dem von Dir zitierten Beispiel gehe ich mal davon aus, dass es sich um Fiktion handelt. Ich gehe außerdem davon aus, dass die bekannte Übersetzerin Eva Rechel-Mertens sich an das Original gehalten hat. Weiter unterscheide ich zwischen Erzähler und Autor. Ich weiß weder, in welchem Ton der Roman geschrieben ist, noch, in welchem Kontext dieser Satz geschrieben steht. Das sog. N-Wort läuft jeden Tag 1000fach im Radio, zusammen mit f-Wort und b-Wort. Die Nachrichten sind voll von Meldungen über schlimmste Verbrechen und jeder Mensch weiß, dass es z.B. Rassismus im kleinen und großen Rahmen gibt. (Ich will das nicht relativieren)


    Soll Literatur nicht mehr dazu führen, dass man „mächtig schlucken“ muss, nicht mehr unbequem sein? In meinen letzten Lektüren, Thomas Mann und Prus, ist das N-Wort auch zu finden, bei Letzterem noch aufkeimender Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert (hierzu gibt es literaturwissenschaftliche Untersuchungen).


    Ich komme wieder auf die Frage zurück, wo fängt man an, wo hört man auf?


    In der heutigen Zeit, in der Kinder Pornos auf ihren Handys gucken, die Krisen Horrormeldungen am Fließband produzieren und das Internet ungefilterte Blicke in dunkelste Ecken zulässt, fällt es mir schwer zu glauben, dass man zum Schutz der Kinder & Jugend irgendwelche Bücher zensieren müsste. Noch viel weniger Kinderbücher.


    Dass man sich über Bücher, über einseitige Darstellungen usw. ärgert, ist doch normal und gehört meines Erachtens auch zum Aufwachsen und Lernen dazu. In einem gewissen Alter sind Mädchen für Jungs nicht so interessant und werden auch mal ausgeschlossen. Das dreht sich aber doch recht schnell wieder ins Gegenteil. Kinder sind fies, blöd… [setze 1000 weitere Adjektive ein].


    Man kann auch Bücher weglegen, ohne Verbote zu fordern. Warum werden Bücher aus vergangenen Jahrhunderten noch gelesen? Doch auch, weil sie ein Fenster in vergangene Zeiten sind (neben anderen Kriterien). Will man diesen Blick ungetrübt (und ungeschönt) oder durch Filter?


    Für mich sind das alles rhetorische Fragen.


    Wie sollen wir denn sonst mit Geschichte umgehen, wenn wir vor dem scheinbar geschützt werden, was an Unmenschlichkeiten auch den Autor*innen unterläuft? Wir müssen uns damit ehrlich auseinandersetzen können und gerade dadurch ins Nachdenken kommen und nicht in eine perfektionierte Scheinwelt eintauchen.

    Richtig! Wir müssen doch in der Lage sein, uns mit der Vergangenheit auseinander zu setzen. Die mangelnde Vergangenheitsbewältigung und ihre Folgen sieht man gerade am Beispiel Russland, die immer wieder den 2. Weltkrieg als Parallele heranziehen.


    Wir müssen in der Lage sein, bestimmte Dinge auszuhalten. Sie können ein Ansporn sein, etwas besser zu machen. Es wird auch nie eine 100%ige Gerechtigkeit geben.


    Zeitgenössische Schriftsteller*innen kann man mit ihren chauvinistischen, rassistischen oder in anderer Weise bedenklichen Worten konfrontieren, und dann sollen sie sich damit auseinandersetzen, aber seit Jahrzehnten veröffentlichte Werke sollten einen Schutz auch vor gut gemeinten Veränderungen haben. Wir sollten auch und gerade als Demokraten nicht vor kritischen Einschätzungen und Erkenntnissen bewahrt werden.

    Da stimme ich Dir uneingeschränkt zu. Es gäbe zu vielen Werken genügend Material z.B. aus der Literatur- und Geschichtswissenschaft, um sich eingehend und kritisch damit, vor allem aber auch mit Erkenntnisgewinn, zu befassen. Das wäre für mich der Ansatz, auch daheim.


    Um zum Stein des Anstoßes zurückzukehren:

    Es ging bei den Änderungen bei Dahl ja viel um Geschlechterneutralität, vermeintliche Vorurteile, Gerechtigkeit, Diversität und ähnliche Geschichten. Es gibt unzählige Kinderbücher, wenn wegen einzelner, in meinen Augen harmloser Worte nun alternative Ausgaben den Markt "bereichern" sollen, dann könnte man doch gleich zu zeitgenössischen Kinderbüchern greifen, die allen diesen Bereichen achtsam und bunt gerecht werden, oder nicht?

    Ich finde gerade einen Hinweis auf eine Übersetzung

    https://www.buchhandel.de/buch/Die-Puppe-9783311100485

    https://d-nb.info/1271712253


    Auf der Verlagswebsite https://kampaverlag.ch/ (noch) nichts

    Ich bin neulich auch darüber gestolpert, in der Verlagsvorschau von Kampa ist es zu finden.


    Die Neuübersetzung werde ich mir auf jeden Fall zulegen, da mir das Buch auch in der alten Übersetzung sehr gut gefiel (und ich ein paar Zeilen dazu immer noch nicht hier reingestellt habe. Kommt spätestens nach "Pharao"). "Die Emanzipierten" von Prus habe ich auch noch aus dem Aufbau-Verlag hier (siehe Anhang) Stefan Żeromski mit "Die Heimatlosen" und "In Schutt und Asche" sind daneben zu sehen. Auf den bin ich auch kürzlich aufmerksam geworden.


    Die anderswo angesprochene Lektüre zur Literatur Polens besteht u.a. aus dem sieben Bände umfassenden "Panorama der Polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts", das im Ammann Verlag erschien. Da sind sehr viele Entdeckungen zu machen.

    https://www.deutsches-polen-in…atur-des-20-jahrhunderts/

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    Leibgeber

    Ja, ich hatte es eher als leichten Schauer aufgefasst, aber wir treffen uns dann ja beim Unbehagen.



    Zefira

    Es ist ein schönes und zum Nachdenken anregendes Zitat. Gehe ich recht in der Annahme, dass Du in solchen Fällen also eine "Bereinigung" oder eine alternative Version befürworten würdest?


    Im Grunde sind Klassiker in Fassungen für Kinder und Jugendliche nichts Neues. Robinson Crusoe habe ich erst als Erwachsener in der kompletten Fassung gelesen. Die Rolle der Bibel hätte mich als Kind vielleicht gelangweilt, die Kannibalen gegruselt. Ob es meiner Entwicklung geschadet hätte, vermag ich nicht zu sagen, melde aber Zweifel an. Es ist halt auch kein Kinderbuch.


    Ich will mein Unbehagen nicht an diesem einen Beispiel, also Dahl, festmachen. Bei mir hat über die letzten Jahre ein Prozess stattgefunden. Ich kann nicht mehr sagen, wann mich das, was heute unter Political Correctness subsumiert wird, zu nerven begonnen hat. Ich schätze, seit diese neue Empfindlichkeitskultur um sich gegriffen hat und daraus Phrasen wie „kulturelle Aneignung“, „cancel culture“, Worte wie „woke“ und jede Woche neue Hexenjagden auf social media Kanälen ausgerufen wurden.


    Bei Dahl sind die Änderungen, meiner Meinung nach, diesem neuen Zeitgeist unterworfen. Schaut man sich diese und die Streichungen im Detail an, fragt man sich an den meisten Stellen, was denn wirklich damit bezweckt werden soll. Steht da ernstlich der Schutz einer Gruppe im Vordergrund oder ist das nicht eher eine politische Botschaft?


    Heikle Stellen, also beispielsweise Rassistisches, könnte man wunderbar diskutieren und dadurch ein Bewusstsein schaffen. Wenn alles Sperrige, Fiese, Beleidigende usw. eingeebnet wird, dann entspricht das doch auch nicht unserer Welt. Ich finde, dass man Kinder und Jugendliche unterschätzt, die Neugier und das Nachfragen führen auch dazu, dass sie ein Gespür für das Erkennen von problematischen Inhalten entwickeln. Muss man dazu Worte wie „fett“, „Pferdegesicht“, „winzig“ löschen, aus Vater Elternteil werden lassen, aus Indien Kalifornien und aus Kipling Austen machen? Genderneutral soll es sein! Die Änderungen sind in meinen Augen absurd und ich würde sie wohl in ihrer Gesamtheit vor wenigen Jahren für einen Scherz gehalten haben.


    Es stellt sich die Frage, wo fängt man an, wo hört man auf? Der Geist ist aus der Flasche. Lautstark melden sich auch bei uns selbsternannte Experten zu Wort, die sich in erster Linie über Hautfarbe, Herkunft, sexuelle Orientierung usw. sowie ihre Lebenswirklichkeit, geprägt von Rassismus und Unverständnis, qualifizieren.


    Das Einordnen von Texten sollte in erster Linie anhand literarischer Kriterien geschehen, weniger an der Biografie des Autors, noch weniger aus einem Bauchgefühl. Man sollte den zeitgeschichtlichen Rahmen berücksichtigen. Man sollte das Leuten mit ein wenig Ahnung überlassen. Warum nicht dazu forschen, Sekundärliteratur verfassen oder wenigstens darüber debattieren, Perspektiven erläutern?


    Das würde Zeit und Fachkenntnis erfordern, da schießt man lieber aus der Hüfte. In den sozialen Medien verfängt das sowieso besser, als lange Texte. Ich glaube nicht, dass die Welt auf diese Art gerechter wird, sondern befürchte, dass sich die Gesellschaft weiter auseinander dividieren wird.

    Mein leichter Gänsehauteffekt: Kindle-Besitzern können ihre e-Books von Roald Dahl etc. inzwischen auf ihren Geräten geändert werden, ohne dass sie es merken.


    Leute, kauft Papier. Die alten Ausgaben. Habt ihr es in den Regalen, ist es nicht zu ändern

    "Gänsehauteffekt" wäre für mich in dem Fall eine euphemistische Beschreibung, Brechreiz vielleicht zu hart, kommt der Sache aber näher. Ich habe in den letzten Monaten ein paar Diskussionen um die sog. Sensitivity Reader und ähnliche Geschichten ein bisschen mitbekommen. Wie da auf allen Kanälen Druck aufgebaut und der Eindruck erweckt wird, eine Mehrheit würde diese "Korrekturen" wünschen, ruft bei mir Unbehagen hervor.


    Ich hätte nicht gedacht, dass die Themen, die Caroline Fourest in ihrem Buch "Generation Beleidigt" vor ein paar Jahren ausführte und u.a. als "Wettbewerb der Opfer" bezeichnete, uns in der Art, also praktisch deckungsgleich, und in der Geschwindigkeit, erreichen würden. Kulturelle Unterschiede würden das abfedern oder verlangsamen, evtl. nicht zulassen - Pustekuchen. Wenn mal wieder eine Professorin entlassen wird, weil sie ein Bild aus dem 14. Jahrhundert gezeigt hat, dann gibt es dafür m. E. keine Relativierung.


    Dennoch entspinnen sich aus diesen Fällen Diskussionen, nun ja, sagen wir mal, Diskussionsansätzchen oder wie man die 200 Zeichen umfassenden Scharmützel auch nennen mag. Furchtbar.


    Wäre es nicht schön, wenn man sich wieder mehr auf die Gemeinsamkeiten konzentrieren (die sind doch wohl in der Mehrzahl) würde, als sich in immer skurriler werdende Unterschiede hineinzusteigern? Ein jeder meint halt, er wäre der Nabel der Welt.

    Zu der Diskussion um Precht:


    Ich habe das Buch nicht gelesen, sondern das Bohei darum und die Position der Autoren beispielsweise zum Krieg in der Ukraine, insbesondere den Waffenlieferungen, eher am Rande mitbekommen.


    Ich halte es, milde gesagt, für äußerst problematisch, dass bei eindeutigen Angelegenheiten wie der Zuschreibung der Kriegsverantwortung immer wieder die Narrative der russischen Propaganda aufgegriffen und der Realität des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegenübergestellt werden. Diese Erzählungen wechseln am laufenden Band, angefangen von der Befreiung der Nazi-Ukraine bis zuletzt zu folgender, wörtlich zitierten, Aussage Lawrows beim G20 Gipfel in Indien: „The war which we are trying to stop which was launched against us using the Ukraine...[der Satz wird von Gelächter unterbrochen]“


    Im Rückblick steht außer Frage, dass Russland (hier wahrscheinlich ein kleiner Kreis um Putin) die schwache Reaktion des Westens auf die Annexion der Krim eher in seiner Haltung bestärkt hat. Es geht auch um Aussagen, die unsere östlichen Nachbarn und das Baltikum schon lange mit großer Sorge betrachteten, der Westen jedoch praktisch ignorierte.


    Die von Dir, finsbury, beschriebenen Tendenzen und Beobachtungen gibt es sicherlich, dazu reicht ein Blick auf die Skandale in den Öffentlich Rechtlichen. Dass persönliche Ansichten einzelner Journalisten sich zuweilen in den Vordergrund drängen und die Arbeit manchmal den Anstrich einer bestimmten politischen Farbe auszustrahlen scheint, ist so und wird auch in Zukunft so diskutiert werden, wie die Unparteilichkeit von Schiedsrichtern im Fußball.


    Ich sehe Menschen wie Precht und Welzer eher kritisch, denn besonders Erstgenannter ist ein Rädchen des Getriebes, das er kritisiert. Kaum ein Thema, zu dem er sich nicht medial äußert. Was wäre Precht ohne die bekannten Fernsehformate? Ich bezweifle, dass er die hohen Maßstäbe, an denen er andere mißt, immer bei sich selbst anlegt. Die angesprochene Studie scheint dem recht zu geben.


    https://www.otto-brenner-stift…s-a/show/news-c/NewsItem/

    https://uebermedien.de/79973/l…och-regierungsfreundlich/


    Überhaupt habe ich den Eindruck, dass in den bekannten Talkrunden häufig dieselben Leute sitzen und sich in ihrer Argumentation einem Karussell gleich im Kreis drehen.


    ***

    Jetzt schlage ich mal einen Bogen von diesem Feld zu der zurückliegenden Lektüre, weil ich da Verknüpfungen sehe:


    Nach meiner Lektüre von Prus’ „Die Puppe“ bin ich thematisch sozusagen in den Kaninchenbau gestürzt und habe mich da ein wenig verlaufen (und stecke immer noch fest). Dabei ist mein Feuer für die osteuropäische Geschichte und Literatur, das zuletzt etwas eingeschlafen war, wieder neu entfacht. Aus der Flut von interessanten Zeitgenossen und historischen Ereignissen, denen ich da eher zufällig begegnet bin, habe ich mir einen Stapel an Romanen und anderen Publikationen zusammengestellt, der mich wohl die nächste Zeit beschäftigen wird.


    „Die Puppe“ beginnt im Jahre 1878, einer Zeit, in der Polen von der Landkarte verschwunden war, aufgeteilt unter Preußen, Österreich und Russland. Auf verschlungenen Wegen bin ich auf eine erst kürzlich veröffentlichte Publikation zur deutsch-polnischen Kommunikation mit dem Titel „Kriegerische Nachbarschaft? Wie der Krieg den deutsch-polnischen Dialog prägt“ gestoßen, herausgegeben vom Deutschen Polen Institut (DPI). Unter anderem wird der „Gebrauch einer kriegerischen Sprache“ in den deutsch-polnischen Beziehungen „auf verschiedenen Ebenen analysiert“. Zum Inhalt heißt es:


    Die folgenden Ausführungen sind von einer Hauptthese geleitet: Polen befindet sich – auf der Ebene der Emotionen und der Kommunikation – im Krieg, Deutschland nicht. Und, daraus folgend: Polen will den Krieg gewinnen, Deutschland den Frieden nicht verlieren. Aus dieser Konstellation heraus, so unser Argument, lassen sich viele der derzeitigen Verwerfungen in den deutsch-polnischen Beziehungen besser einordnen und werden verständlicher.“


    https://www.deutsches-polen-in…erische-Nachbarschaft.pdf


    Mit Bezug auf den 2. Weltkrieg seien Polen und Deutschland „weit von einer gemeinsamen Erinnerungskultur entfernt“. „Nie wieder Krieg“ hatte in Deutschland und Polen „völlig unterschiedliche politische Implikationen.“


    Nie wieder Krieg“ bedeutet in Deutschland so viel wie: „Nie wieder darf von deutschem Boden Krieg ausgehen.“ In Polen hingegen bedeutet „Nie wieder Krieg“ ungefähr: „Nie wieder darf Polen so schwach sein, um zum Opfer zu werden.“


    Im Kontext des Ukraine-Kriegs werden die Unterschiede „im Gebrauch von Kriegsrhetorik in unseren politischen Kulturen“ als riesig bezeichnet:


    Die Polen behandeln den Krieg – mit Rücksicht auf ihre Erfahrungen – als existenzielle Bedrohung des eigenen Landes, ihrer Nation und ihrer Kultur. Sie befürchten, dass diese durch einen Krieg schlicht und ergreifend in ihrer Existenz gefährdet sind. Und so nehmen sie auch die Lage der Ukrainer wahr, die nach der Auffassung der Polen um ihre Existenz und ihre Freiheit kämpfen, wobei sie gleichzeitig andere schützen, die weiter im Westen leben. Auch die Polen sehen Russland seit langem als Bedrohung, und der russische Überfall auf die Ukraine hat diese Erfahrung nur noch verstärkt und realistischer gemacht.


    Die Deutschen betrachten den Krieg zum Teil anders, da ihre Erfahrung eine andere ist (ihre Existenz war nie gefährdet). Nach 1945 wurden sie – zumindest im Westen – in einem Geist erzogen, dass es notwendig ist, alle Konflikte durch Dialog zu lösen. Die Bundesrepublik Deutschland wollte sich bewusst in keinerlei militärische Konflikte begeben. Dieses Denken zu verändern, ist sehr schwer.“


    Im weiteren werden diese unterschiedlichen Einstellungen und die Unterstützung der Ukraine (in Polen: Selbstverständlichkeit; in Deutschland: etwas Neues [das Wort Zeitenwende fehlt zum Glück] ausgeführt.

    Die Schlussfolgerungen ordnen die genannten unterschiedlichen Perspektiven beider Länder ein und erklären den Gebrauch der polnischen Kriegs-Metaphorik. Außerdem werden Vorschläge für einen konstruktiven deutsch-polnischen Dialog angeboten.


    ***

    Ich finde es spannend, wie unterschiedlich dieselben Begriffe in zwei Ländern aufgrund ihrer Geschichte wahrgenommen werden. Gerade in dieser Hinsicht würde ich mir öfter einen Blick über den Tellerrand wünschen und andere Haltungen erklärt sehen, als nur den Blick durch die deutsche Brille. Ich glaube, dass dieser Blick – man ist immer noch weit genug weg, in der Existenz nicht direkt bedroht – die Wahrnehmung trübt. Wie sollen denn Friedensbemühungen aussehen, wenn Russland die Bedingungen diktiert und sich weigert, die Ukraine als Staat anzuerkennen? Mir scheinen da Wagenknecht, Schwarzer usw. (auch Precht) an einem Wolkenkuckucksheim zu basteln, das die Realität ausklammert oder umschreibt und ein Luftschloss bleiben wird.

    Zefira

    Jetzt ist es mir ein wenig peinlich, aber da Leibgeber explizit nach Druckausgaben gefragt hatte, bin ich davon ausgegangen, dass er vielleicht die Bände gebrauchen könnte. Dir würde ich sie natürlich auch anbieten, wenn er sie nicht wollte. ;-) Sorry, falls das missverständlich rüberkam.


    Ja, „Der Pharao“ ist ein historischer Roman, der sich um Macht, Intrigen und die Gesellschaft im alten Ägypten zu Zeiten von Ramses XIII. dreht.

    Hier habe ich die Verfilmung schon mal gesehen, allerdings liegt die Sichtung schon mehr als 10 Jahre zurück, die DVD habe ich noch. Das Polnische Kino - die 60er sind eine starke Dekade - hat eine Vielzahl von großartigen Filmen und Literaturverfilmungen hervorgebracht. Wenn man die Schwierigkeiten akzeptiert, die eine Literaturverfilmung mit sich bringt, dann wird man eine große Freude an vielen Filmen aus dieser Zeit haben. Es gibt schon eine bemerkenswert hohe Zahl an künstlerisch sehr anspruchsvollen und opulent ausgestatteten Filmen. Ich habe den Eindruck, dass das Kino dort einen sehr hohen Stellenwert besaß. „Die Handschrift von Saragossa“ beispielsweise könnte man aufgrund der Verschachtelungen und des schieren Umfangs als unverfilmbar erachten, wurde meiner Meinung nach aber trotzdem sehr ansprechend umgesetzt. Das gilt bei den meisten Filmen auch für die musikalische/soundtechnische Komponente. Da sind die große Künstler beteiligt, die einen auch ins Experimentelle entführen.


    „Die Puppe“ in der Verfilmung von Wojciech Has (der auch „Die Handschrift von Saragossa“ verfilmte) habe ich schon hier und werde sie die Tage mal sichten und dann über Buch und Film ein paar Eindrücke niederschreiben.

    Über das Nachwort in Prus' "Lalka" bin ich auf die polnische Schriftstellerin Eliza Orzeszkowa (1841-1910) aufmerksam geworden und habe ein bisschen gestöbert. Als Höhepunkt ihres Schaffens wird da der Roman "Nad Niemnem" (dt. "An der Memel") 1888 genannt, der anscheinend nicht ins Deutsche übersetzt wurde.


    Einen sehr schönen Reader zur polnischen Literatur habe ich hier entdeckt, dort findet sich auch Näheres zu Orzeszkowa & Prus:

    https://www.philol.uni-leipzig…e_Literaturgeschichte.pdf


    Da gäbe es sicher noch viele Schätze zu heben.

    ( Abseits der HKKA - nicht bezahlbar -

    und der "Deutsche Klassiker-Verlag" - "Die Leute von Seldwyla", "Züricher Novellen" und "Der Grüne Heinrich" (leider nur die 1. Fassung) gibt es als Taschenbuch, die anderen einfach zu teuer für mich. "Heinrich" 2. Fassung ist antiquarisch gar nicht zu ermitteln. )

    Den Großteil von Keller habe ich noch vor mir. Mit den DKV-Bänden geht es mir ähnlich, die sind mir meistens viel zu teuer. Trotzdem sammle ich sporadisch und bei Keller konnte ich die komplette Sammlung mal sehr günstig erwerben, so dass ich die davor gekauften 2 Bände übrig habe (Heinrich 1. Fassung und Züricher Novellen). Bei Interesse könnte ich sie Dir günstig abgeben (beide ohne Schuber, die Novellen leider ohne Umleger & Titelblatt).


    Zefira

    Hier wird man immer wieder angefixt. ;-)

    Ich habe mir jetzt ein paar Bände der Polnischen Bibliothek aus dem Suhrkamp Verlag antiquarisch gekauft, weil mir "Die Puppe" Lust auf weiteren Lesestoff aus dieser Ecke gemacht hat. Den Pharao von Prus hab ich jetzt auch noch gekauft, für 99 Cent.

    Die dt. Fassungen von ihm sind wohl besser als die Originale, also: schlechte Übersetzungen. Aber unglaublich gute, sehr eigene deutsche Texte. Er hat Bulwer in ein flüssiges, ja: süffiges Deutsch übersetzt, mit gelegentlich absichtlich platzierten Stolperern und meinethalben auch Manierismen. Er produziert da gewissermaßen einen Sprachstrom, in dem der Erzählfluss breit und gemächlich dahinfließt, um unversehens über Steine und Klippen zu springen. Ziemlich toll (auch wenn seine Übersetzungen eher mehr über das Welt- und Literaturverständnis des Übersetzers als über das Original sagen – ich denke, AS sehnte nach der Literaturwelt des 18./19. Jahrhunderts, aber die war Paradise Lost, das er über den Umweg der Übersetzung wiederzubewohnen versucht hat. Oder so ähnlich ;-))

    Das macht wirklich Lust und erinnert mich, hier wahrscheinlich eher unpassend, an Synchronisationen bei Serien wie "Die Zwei", die wohl mit dem Original noch weniger zu tun hatten, aber genau deshalb zum Erfolg wurden.


    Überhaupt ist das ja ein schwieriges Thema, das mir auch gerade wieder durch den Kopf ging. Gestern habe ich "Die Puppe" von Bolesław Prus zu Ende gelesen und dachte so über das Gelesene nach, versuchte alles ein bisschen zu ordnen. Ich würde es einfach mal als "großartig" bezeichnen. Als ich dann noch ein wenig im Internet stöberte, stieß ich auf zwei Rezensionen in großen Zeitungen (der gleichen Autorin), die das Buch lobt, die deutsche Übersetzung jedoch mit der Bemerkung "wird dem Original kaum gerecht" abkanzelt. Mag so ja auch stimmen, ich kann es leider nicht beurteilen, aber mir hat die Übersetzung (oder vielleicht besser: die Sprache) von Kurt Harrer dennoch sehr gut gefallen. Umso mehr bin ich dann auf die Neuübersetzung gespannt. Zumindest in der Slawistik scheint der Name noch bekannt zu sein, denn ich fand einen Artikel im Portal der Uni Wien mit dem Titel "Ist Kurt Harrer (1902-1959) ein vergessener Übersetzer? : Ein Beitrag zur Geschichte der polnischen Literatur in der DDR" (Übersetzung aus dem Polnischen).


    Unvergessen ist mir (nur ein Beispiel unter Hunderten) der Halbsatz, nachdem der Erzähler eine Tasse kaputt geschlagen hatte - seine Gesprächspartnerin stand "trübe trauernd über den Trümmern der Teetasse". Herrlich!

    Das ist wirklich ein grandioses Beispiel! Danke!

    Die „Buddenbrooks“ habe ich mittlerweile ausgelesen und werde demnächst noch ein paar Sätze in den „Thomas Mann“- Faden dazu schreiben. Es war jedenfalls ein Lesevergnügen.


    Neulich habe ich „Die Puppe“ von Boleslaw Prus endlich antiquarisch zu einem vernünftigen Preis ergattern können, da lese ich gerade zufällig im Programm von Kampa, dass der Roman am 25. Mai dieses Jahres in einer Neuübersetzung erscheinen wird.


    https://kampaverlag.ch/wp-cont…a_Vorschau_23-1_klein.pdf


    Nach etwas über 200 Seiten kann ich sagen, dass mir der Roman bisher sehr gut gefällt, also somit auch die alte Übersetzung. So gut, dass ich mir dann wohl irgendwann auch die neue Übersetzung noch einmal zulegen werde.

    In der Ausgabe aus dem Aufbau-Verlag aus dem Jahr 1954 ist die Schriftgröße sehr klein. Ich habe mich zwar dran gewöhnt, empfinde es als Kurzsichtiger trotzdem grenzwertig. Kleiner sollte es nicht mehr werden.

    Nochmal kurz zum vergangenen Lesejahr, wo ich nicht jede Lektüre beendet habe, weil andere Dinge dazwischen kamen. So hatte ich Seumes kurze Autobiographie "Mein Leben" mit großem Interesse gelesen und auch den "Spaziergang nach Syrakus" im Anschluss begonnen, aber nicht abgeschlossen, weil mir die Ruhe fehlte. Vielleicht gelingt es mir heuer. Die Art, in der Seume über sich schrieb, hat mir sehr imponiert und der Einblick in die damalige Zeit war faszinierend und lehrreich. Ich denke da beispielsweise an die Verschleppung (eigentlich Versklavung) in Hessen und das Geschacher mit anschließender Überfahrt in Richtung Amerika um dort im Unabhängigkeitskrieg zu kämpfen. Es kam etwas anders, aber dennoch eine ungeheuerliche, wahre Begebenheit.


    Am besten gefiel mir Thomas Manns "Der Zauberberg", zu dem ich mir mittlerweile dann doch noch den Kommentarband gekauft habe (und weitere Romane lesen werde). Jean Pauls "Unsichtbare Loge" hat viel Licht (sprachlich) aber auch Schatten, was zugegebenermaßen mit an fehlendem, historischen Hintergrund liegt, der einfach Voraussetzung ist. Die Biographie von Beatrix Langner, die ich in Teilen gelesen habe, brachte da Licht ins Dunkel. Von Jean Paul möchte ich in jedem Fall noch mehr lesen.


    Die schriftstellerischen Anfänge Nabokovs habe ich letztes Jahr gelesen und auch da wird bei Lust & Gelegenheit angeschlossen.


    Perutz & Simenon zwischendurch, Lyrisches entdeckt von Wordsworth, Celan, Gwerder und Bierbaum (kuriose Aufzählung, ich weiß); an ein paar antiquarischen Funden konnte ich schon rein aus bibliophiler Sicht nicht vorbei gehen, z.B. die ledergebundenen Dickens-Bände aus dem Insel Verlag.

    Mehr fällt mir spontan nicht ein.

    Momentan lese ich Thomas Manns "Buddenbrooks".

    Zuvor habe ich von Patrick Hamilton "Sklaven der Einsamkeit" gelesen, das ich mal nach der Lektüre von "Hangover Square" gekauft hatte. Es spielt zur Zeit des 2. Weltkriegs in einer Pension nahe London, in die sich die Menschen vor den Bombenangriffen auf London zurückgezogen haben. Das Leben dieser Gäste um die Hauptfigur Enid und das Miteinander, geprägt durch Bosheiten und Intrigen, stehen im Mittelpunkt dieses kleinen Romans. Gefiel mir ganz gut, "Hangover Square" hatte ich als besser in Erinnerung, aber das muss nichts heißen, denn die Lektüre liegt schon sehr lange zurück.

    giesbert

    Ging mir ähnlich, zum Lesejahr schreibe ich demnächst noch ein paar Zeilen.

    Von Ror Wolf habe ich erst hier durch Dich erfahren, wollte da auch schon mal was lesen, aber wenn man ab und an bei medimops und Konsorten einkauft, dann hat man bestimmt schon Erfahrungen mit der teils eigenwilligen Auslegung der Bestellliste, eine Überraschungskiste, wenn man das mal von der positiven Seite betrachten mag. Statt Ror Wolf hatte ich einen etwa 2kg schweren Katalog von George Grosz in der Lieferung, den ich behalten habe. Ror Wolf muss also noch etwas warten...


    sandhofer

    "[Lesejahr,] Du hast uns, glaube ich, alle ein bisschen überfordert."

    Ich kann ja nur für mich sprechen, aber so trifft das in etwa zu. Einige tolle Bücher habe ich schon gelesen, aber nicht so viel wie erhofft. Dafür auch keine Enttäuschungen.

    Danke Krylow für die tolle Beschreibung. "Der Zauberberg" ist ja immer noch ein Buch vor dem ich Respekt habe. Bei Dir klingt das nicht so, wenn man sich entsprechend darauf einlässt. Das macht mir Mut.... Aber es wird wohl doch noch dauern bis ich mich daran traue.


    Liebe Grüße

    schokotimmi

    Mir hat die Lektüre großen Spaß gemacht!

    Respekt ja, aber in erster Linie nachträglich vor den schriftstellerischen Kunstfertigkeiten eines Thomas Mann, auf allen Ebenen. Vielleicht hatte ich vorher ein wenig Respekt vor dem Umfang des Romans, was für mich aber nur dann zum Problem wird, wenn mir Sprache und Erzähltechnik nicht sonderlich zusagen. Das ist hier das genaue Gegenteil!


    Gefällt mir ein Buch, dann notiere ich mir Zitate oder Stellen, die mich auf irgendeine Art und Weise ansprechen, in ein kleines Büchlein. Vielleicht noch ein paar Stichworte oder etwas, was ich nachschlagen möchte. Kleine Krümel also, mit Blick auf das große Ganze, weswegen ich hier auch dickste Brocken unter den Tisch habe fallen lassen.


    Das ist das Schöne an so vielschichtigen Werken, man muss nicht jeden Aspekt verfolgen oder völlig durchdringen. Es gibt viele Dinge zu entdecken, ob und wo man sich eventuell festbeißt, bleibt einem selbst überlassen. Jede einzelne der Figuren, mit denen die Hauptfigur Castorp näher zu tun hat, bietet eine Fülle an Eigenschaften, Verschrobenheiten uvm., dass ich mich fast automatisch näher mit ihnen beschäftigen wollte.


    Mich hat das Buch sofort gefesselt, vielleicht ginge es Dir ja ähnlich, schokotimmi? Falls Du das Buch noch nicht da hast, kannst Du es ja einfach mal anlesen:

    https://www.gutenberg.org/ebooks/65661


    Ich hatte jetzt eher Schwierigkeiten bei der Wahl einer neuen Lektüre. Die ganze Woche schon habe ich immer wieder im Zauberberg geblättert und gemerkt, dass ich noch ein bisschen Zeit damit verbringen möchte, bevor ich mich etwas Neuem widme.


    finsbury

    Danke für den Link, ich war zwar auch mal eine Weile im Rheinland, aber den Song und seinen Hintergrund kannte ich nicht (BAP natürlich schon).


    Settembrini und Naphtas Scharmützel nehmen ja laufend an Schärfe zu. Ist es anfangs noch ein Ringen um Castorps Entwicklung/Weltanschauung in die eine oder andere Richtung zu beeinflußen, spitzt sich das ja mächtig zu (um nicht zu viel zu verraten). Ihre Auseinandersetzungen und meist krass gegensätzlichen Ansichten, z.B. zur Literatur, waren schon spannend zu lesen und boten in ihrer Konsequenz, wie ich finde, Ansatzpunkte um Parallelen in unsere heutigen Krisenzeiten zu ziehen. Wie überhaupt die letzten Kapitel vor dem „Donnerschlag“.


    Ich glaube, dass ich den Roman auch irgendwann mal wieder lesen werde, wenn ich mit den anderen Werken durch bin.

    @b.a.t.

    Interessant. Ich gestehe, ich habe noch nichts von Houellebecq gelesen. Um die meisten Autoren, die sehr im Rampenlicht stehen und über die, also nicht über ihre Literatur, so viel geschrieben wird, mache ich meist einen Bogen. Auf dem bewege ich mich immer noch. Mal sehen, ob ich irgendwann bei einem seiner Bücher ankomme.


    Nebenbei, liest Du immer so viele Bücher parallel? Mache ich schon auch manchmal, aber dann meist ein Sachbuch nebenher.

    [Edit: Ich sehe gerade, dass ich den Satz mit den 2 Büchern noch dem Houellebecq zugeordnet habe, dabei sind es ja wohl eher insgesamt 2 Bücher...da hätte ich auch vorher drauf kommen können. Oh well, es war noch früh ;)]

    Hier nun ein paar Gedanken zu Thomas Manns „Der Zauberberg“:


    Der grobe Inhalt des Romans ist, kurz gefasst, ein Ausflug des jungen Ingenieurs Hans Castorp in die Schweizer Alpen. Dort will er seinen kranken Vetter Joachim im Sanatorium Berghof besuchen. Schnell bemerkt Castorp, dass dort oben die Uhren anders ticken. Der Ort und seine Bewohner scheinen der Welt mit ihren Gesetzen entrückt und beginnen eine Faszination auf ihn auszuüben, deren Bann er sich nicht entziehen kann.


    Der Roman ist unglaublich vielschichtig, reich an komplexen und schrägen Figuren, universellen Themen, Symbolik und zuvorderst erzähltechnisch meisterhaft komponiert und stilistisch ein Genuss. Eines der universellen Themen des Romans ist das der Zeit, das den Leser von Anfang an begleitet. Gleich auf der zweiten Seite, Hans Castorp ist noch unterwegs, findet sich eine Beschreibung dessen, was wohl jeder Reisende schon erlebt hat:


    „Zwei Reisetage entfernen den Menschen – und gar den jungen, im Leben noch wenig verwurzelten Menschen – seiner Alltagswelt, all dem, was er seine Pflichten, Interessen, Sorgen, Aussichten nannte, viel mehr, als er sich auf der Droschkenfahrt zum Bahnhof wohl träumen ließ. Der Raum, der sich drehend und fliehend zwischen ihn und seine Pflanzstätte wälzt, bewährt Kräfte, die man gewöhnlich der Zeit vorbehalten glaubt; von Stunde zu Stunde stellt er innere Veränderungen her, die den von ihr bewirkten sehr ähnlich sind, aber sie in gewisser Weise übertreffen. Gleich ihr erzeugt er Vergessen; er tut es aber, indem er die Person des Menschen aus ihren Beziehungen löst und ihn in einen freien und ursprünglichen Zustand versetzt, - ja selbst aus dem Pedanten und Pfahlbürger macht er im Handumdrehen etwas wie einen Vagabunden. Zeit, sagt man, ist Lethe; aber auch Fernluft ist so ein Trank, und sollte sie weniger gründlich wirken, so tut sie es dafür desto rascher.“


    Mit Beschreibungen wie dieser, kündigt der Erzähler praktisch an, was dem Helden des Romans bevorsteht. Zugleich betont er im nächsten Abschnitt, die Unwichtigkeit, die Castorp selbst der Reise zuschreibt, er werde „ganz als derselbe zurückkehren, als der er abgefahren war und sein Leben genau dort wieder aufnehmen, wo er es für einen Augenblick hatte liegen lassen müssen.“


    Es ist spannend zu erfahren, wie Castorp sich an seine Maxime des schlichten Besuchers und Beobachters klammert und sich gleichzeitig, auch gezwungenermaßen, von den Gepflogenheiten, dem Ort und dessen Aura vereinnahmen lässt. Stück für Stück beginnen sich sein innerer Widerstand und sein Zeitgefühl aufzulösen und gleichzeitig entwickelt er eine Empfänglichkeit für Dinge, denen er unten im flachen Land niemals Beachtung geschenkt hätte.


    Die ersten Wochen des Hans Castorp im Hotel Berghof nehmen ein sehr großes Stück des Romans ein. Die Tagesroutinen, wie die Liegekur und das Einwickeln in Decken, das Fiebermessen, Spaziergänge, Vorträge und die ausgiebigen Mahlzeiten werden in allen Einzelheiten beschrieben, genauso wie die Sitzordnung im Speisesaal und alle Tischgenossen mit ihren Marotten. Es ist ein Spiel mit der Zeit und ihrer Wahrnehmung, dessen der Erzähler nicht müde wird, es auf mannigfache Art wieder und wieder auszuführen.

    Man ändere hier seine Begriffe, sagt Vetter Joachim bei dessen Ankunft zu Hans, als der geschockt auf die Aussage reagiert, er müsse wohl noch mindestens ein halbes Jahr lang dort oben bleiben. Dieses Ändern der Begriffe, ein Prozess oder vielleicht auch ein Kampf, findet schleichend statt und wird laufend verhandelt, wie beispielsweise im Kapitel „Totentanz“:


    „Der heilige Abend also näherte sich, stand eines Tages vor der Tür und hatte am nächsten Tage Gegenwart gewonnen… Es waren noch reichlich sechs Wochen bis zu ihm gewesen, damals als Hans Castorp sich gewundert hatte, dass man hier schon von Weihnachten sprach: so viel Zeit also noch (...)

    Sechs Wochen, nicht einmal so viele also, wie die Woche Tage hatte: was war auch das in Anbetracht der weiteren Frage, was denn so eine Woche, so ein kleiner Rundlauf vom Montag zum Sonntag und wieder Montag war. Man brauchte nur immer nach Wert und Bedeutung der nächst kleineren Einheit zu fragen, um zu verstehen, dass bei der Summierung nicht viel herauskommen konnte, deren Wirkung überdies und zugleich ja auch eine sehr starke Verkürzung, Verwischung, Schrumpfung und Zernichtung war. Was war ein Tag, gerechnet etwa von dem Augenblick an, wo man sich zum Mittagessen setzte, bis zu dem Wiedereintritt dieses Augenblicks in vierundzwanzig Stunden? Nichts, - obgleich es doch vierundzwanzig Stunden waren. Was war denn aber auch eine Stunde, verbracht etwa in der Liegekur, auf einem Spaziergang oder beim Essen , - womit die Möglichkeiten, diese Einheit zu verbringen, so gut wie erschöpft waren? Wiederum nichts. Aber die Summierung des Nichts war wenig ernst ihrer Natur nach. Am ernstesten wurde die Sache, wenn man ins Kleinste stieg: jene sieben mal sechzig Sekunden, während man das Thermometer zwischen den Lippen hielt, um die Kurve fortführen zu können, waren überaus zählebig und gewichtig; sie weiteten sich zu einer kleinen Ewigkeit, bildeten Einlagerungen von höchster Solidität in dem schattenhaften Huschen der großen Zeit…“


    Den „Strandspaziergang anfangs des 7. Kapitels, der Roman ist schon weit fortgeschritten, widmet der Erzähler den Begriffen der Zeit und des Zeitromans. Die Frage, ob man die Zeit erzählen kann, verneint er und bezeichnet sie als „närrisches Unterfangen“. Er findet Gemeinsamkeiten mit der Musik.


    „Das Zeitelement der Musik ist nur eines: ein Ausschnitt menschlicher Erdenzeit, in den sie sich ergießt, um ihn unsagbar zu adeln und zu erhöhen. Die Erzählung dagegen hat zweierlei Zeit: ihre eigene erstens, die musikalisch-reale, die ihren Ablauf, ihre Erscheinung bedingt; zweitens aber die ihres Inhalts, die perspektivisch ist, und zwar in so verschiedenem Maße, dass die imaginäre Zeit der Erzählung fast, ja völlig mit ihrer musikalischen zusammenfallen, sich aber auch sternenweit von ihr entfernen kann."


    Er findet plastische Beispiele, berichtet vom Opiumraucher, der in seinem kurzen Rausch Jahrzehnte durchlebte oder von eingeschlossenen Bergarbeitern, die die vergangene Zeit unter Tage bis zur Rettung „kraft des Fehlens jedes Zeitorgans in unserem Innern“ überraschenderweise völlig unterschätzten. Einen Höhepunkt stellt in dieser Hinsicht das Kapitel „Schnee“ dar, das auch durch seine atemlose Spannung etwas aus dem Rahmen fällt.


    Das Unstete des Erlebens der Zeit , was dem Leser nichts Unbekanntes ist, vermag der Erzähler so gut zu vermitteln, dass ich beim Lesen selbst in diesen besonderen Rhythmus kam und am Ende das Gefühl hatte, von einer Reise aus einer mystischen Welt zurückgekehrt zu sein. „Der Zauberberg“ ist so ein Buch, das ich nach dem Beenden nicht einfach weglegen konnte, sondern gleich nochmal hätte beginnen können. Und so habe ich das Vorwort noch einmal gelesen und musste schmunzeln, was uns der Erzähler hier schon alles verrät.


    Nun ist die Zeit zwar ein wichtiger, aber eben nur ein Aspekt des Buches. Die teils sehr skurrilen Figuren laden zur (Nach-)Betrachtung ein – ob die türenschlagende Clawdia Chauchat, der Vetter Joachim, Settembrini, zu dem sich später noch Naphta gesellt, die dumme Stöhr, Hofrat Behrens und nicht zu vergessen, der großartige Peeperkorn und viele weitere – sind die meisten doch alles andere als eindimensional und nicht so leicht zu vergessen. Kleine Dinge (z.B. der Bleistift, das Röntgenbild usw.) und Gesten erlangen große Bedeutung oder wirken ungemein kraftvoll, die Walpurgisnacht nimmt da eine besondere Rolle ein. Aber auch die Gespräche Settembrinis mit Castorp oder die zwischen Castorp und Peeperkorn sind von beeindruckender Wirkung.


    Hinzu kommen die vielen Beschreibungen, die nicht selten von besonderer Schönheit sind und dazu beitragen, dass man völlig in der Welt dort oben versinken kann:


    „Jedoch liebte Hans Castorp das Leben im Schnee. Er fand es demjenigen am Meeresstrande in mehrfacher Hinsicht verwandt: die Urmonotonie des Naturbildes war beiden Sphären gemeinsam; der Schnee, dieser tiefe, lockere, makellose Pulverschnee, spielte hier ganz die Rolle wie drunten der gelbweiße Sand; gleich reinlich war die Berührung mit beiden, man schüttelte das frosttrockene Weiß von Schuhen und Kleidern wie drunten das staubfreie Stein- und Muschelpulver des Meeresgrundes, ohne dass eine Spur hinterblieb, und auf ganz ähnliche Weise mühselig war das Marschieren im Schnee wie eine Dünenwanderung, es sei denn, dass die Flächen vom Sonnenbrand oberflächlich angeschmolzen, nachts aber hart angefroren waren: dann ging es leichter und angenehmer darauf, als auf Parkett, - genau so leicht und angenehm, wie auf dem glatten, festen, gespülten und federnden Sandboden am Saume des Meeres.“


    Im Nachgang fiel mir dann auf, dass die nicht so lange zurückliegende Lektüre von „Troubles“ von James Gordon Farrell von Thomas Manns Zauberberg inspiriert worden sein könnte. Das verfallende Hotel in Irland mit seinen schrulligen Gästen, Symbol des zerfallenden „British Empire“, erinnert mich jetzt ein wenig an das Hotel Berghof in Davos, mit seinen Gästen. Nur dass hier der „große Knall“ sich als stetiger Begleiter, sei es durch die Zeitungsschnipsel, die von Anschlägen berichten oder durch ähnliche Vorkommnisse rund ums Hotel, erweist. Nun ja, es werden sicher einige Schriftsteller von Thomas Mann beeinflußt worden sein.


    "Der Zauberberg" hat mich die letzten Wochen begeistert und ich bin mir sicher, dass ich den Roman nicht das letzte Mal gelesen haben werde. Vielleicht kaufe ich mir bei passender Gelegenheit ja doch noch irgendwann den Kommentarband. Ein Buch für die Insel ist es auf jeden Fall.