Hier nun ein paar Gedanken zu Thomas Manns „Der Zauberberg“:
Der grobe Inhalt des
Romans ist, kurz gefasst, ein Ausflug des jungen Ingenieurs Hans
Castorp in die Schweizer Alpen. Dort will er seinen kranken Vetter
Joachim im Sanatorium Berghof besuchen. Schnell bemerkt Castorp, dass
dort oben die Uhren anders ticken. Der Ort und seine Bewohner
scheinen der Welt mit ihren Gesetzen entrückt und beginnen eine
Faszination auf ihn auszuüben, deren Bann er sich nicht entziehen
kann.
Der Roman ist
unglaublich vielschichtig, reich an komplexen und schrägen Figuren,
universellen Themen, Symbolik und zuvorderst erzähltechnisch
meisterhaft komponiert und stilistisch ein Genuss. Eines der
universellen Themen des Romans ist das der Zeit, das den Leser von
Anfang an begleitet. Gleich auf der zweiten Seite, Hans Castorp ist
noch unterwegs, findet sich eine Beschreibung dessen, was wohl jeder
Reisende schon erlebt hat:
„Zwei Reisetage
entfernen den Menschen – und gar den jungen, im Leben noch wenig
verwurzelten Menschen – seiner Alltagswelt, all dem, was er seine
Pflichten, Interessen, Sorgen, Aussichten nannte, viel mehr, als er
sich auf der Droschkenfahrt zum Bahnhof wohl träumen ließ. Der
Raum, der sich drehend und fliehend zwischen ihn und seine
Pflanzstätte wälzt, bewährt Kräfte, die man gewöhnlich der Zeit
vorbehalten glaubt; von Stunde zu Stunde stellt er innere
Veränderungen her, die den von ihr bewirkten sehr ähnlich sind,
aber sie in gewisser Weise übertreffen. Gleich ihr erzeugt er
Vergessen; er tut es aber, indem er die Person des Menschen aus ihren
Beziehungen löst und ihn in einen freien und ursprünglichen Zustand
versetzt, - ja selbst aus dem Pedanten und Pfahlbürger macht er im
Handumdrehen etwas wie einen Vagabunden. Zeit, sagt man, ist Lethe;
aber auch Fernluft ist so ein Trank, und sollte sie weniger gründlich
wirken, so tut sie es dafür desto rascher.“
Mit Beschreibungen
wie dieser, kündigt der Erzähler praktisch an, was dem Helden des
Romans bevorsteht. Zugleich betont er im nächsten Abschnitt, die
Unwichtigkeit, die Castorp selbst der Reise zuschreibt, er werde
„ganz als derselbe zurückkehren, als der er abgefahren war und
sein Leben genau dort wieder aufnehmen, wo er es für einen
Augenblick hatte liegen lassen müssen.“
Es ist spannend zu
erfahren, wie Castorp sich an seine Maxime des schlichten Besuchers
und Beobachters klammert und sich gleichzeitig, auch
gezwungenermaßen, von den Gepflogenheiten, dem Ort und dessen Aura
vereinnahmen lässt. Stück für Stück beginnen sich sein innerer
Widerstand und sein Zeitgefühl aufzulösen und gleichzeitig
entwickelt er eine Empfänglichkeit für Dinge, denen er unten im
flachen Land niemals Beachtung geschenkt hätte.
Die ersten Wochen
des Hans Castorp im Hotel Berghof nehmen ein sehr großes Stück des
Romans ein. Die Tagesroutinen, wie die Liegekur und das Einwickeln in
Decken, das Fiebermessen, Spaziergänge, Vorträge und die
ausgiebigen Mahlzeiten werden in allen Einzelheiten beschrieben,
genauso wie die Sitzordnung im Speisesaal und alle Tischgenossen mit
ihren Marotten. Es ist ein Spiel mit der Zeit und ihrer Wahrnehmung,
dessen der Erzähler nicht müde wird, es auf mannigfache Art wieder
und wieder auszuführen.
Man ändere hier
seine Begriffe, sagt Vetter Joachim bei dessen Ankunft zu Hans, als
der geschockt auf die Aussage reagiert, er müsse wohl noch
mindestens ein halbes Jahr lang dort oben bleiben. Dieses Ändern der
Begriffe, ein Prozess oder vielleicht auch ein Kampf, findet
schleichend statt und wird laufend verhandelt, wie beispielsweise im
Kapitel „Totentanz“:
„Der heilige Abend
also näherte sich, stand eines Tages vor der Tür und hatte am
nächsten Tage Gegenwart gewonnen… Es waren noch reichlich sechs
Wochen bis zu ihm gewesen, damals als Hans Castorp sich gewundert
hatte, dass man hier schon von Weihnachten sprach: so viel Zeit also
noch (...)
Sechs Wochen, nicht
einmal so viele also, wie die Woche Tage hatte: was war auch das in
Anbetracht der weiteren Frage, was denn so eine Woche, so ein kleiner
Rundlauf vom Montag zum Sonntag und wieder Montag war. Man brauchte
nur immer nach Wert und Bedeutung der nächst kleineren Einheit zu
fragen, um zu verstehen, dass bei der Summierung nicht viel
herauskommen konnte, deren Wirkung überdies und zugleich ja auch
eine sehr starke Verkürzung, Verwischung, Schrumpfung und
Zernichtung war. Was war ein Tag, gerechnet etwa von dem Augenblick
an, wo man sich zum Mittagessen setzte, bis zu dem Wiedereintritt
dieses Augenblicks in vierundzwanzig Stunden? Nichts, - obgleich es
doch vierundzwanzig Stunden waren. Was war denn aber auch eine
Stunde, verbracht etwa in der Liegekur, auf einem Spaziergang oder
beim Essen , - womit die Möglichkeiten, diese Einheit zu verbringen,
so gut wie erschöpft waren? Wiederum nichts. Aber die Summierung des
Nichts war wenig ernst ihrer Natur nach. Am ernstesten wurde die
Sache, wenn man ins Kleinste stieg: jene sieben mal sechzig Sekunden,
während man das Thermometer zwischen den Lippen hielt, um die Kurve
fortführen zu können, waren überaus zählebig und gewichtig; sie
weiteten sich zu einer kleinen Ewigkeit, bildeten Einlagerungen von
höchster Solidität in dem schattenhaften Huschen der großen Zeit…“
Den
„Strandspaziergang anfangs des 7. Kapitels, der Roman ist schon
weit fortgeschritten, widmet der Erzähler den Begriffen der Zeit und
des Zeitromans. Die Frage, ob man die Zeit erzählen kann, verneint
er und bezeichnet sie als „närrisches Unterfangen“. Er findet
Gemeinsamkeiten mit der Musik.
„Das Zeitelement
der Musik ist nur eines: ein Ausschnitt menschlicher Erdenzeit, in
den sie sich ergießt, um ihn unsagbar zu adeln und zu erhöhen. Die
Erzählung dagegen hat zweierlei Zeit: ihre eigene erstens, die
musikalisch-reale, die ihren Ablauf, ihre Erscheinung bedingt;
zweitens aber die ihres Inhalts, die perspektivisch ist, und zwar in
so verschiedenem Maße, dass die imaginäre Zeit der Erzählung fast,
ja völlig mit ihrer musikalischen zusammenfallen, sich aber auch
sternenweit von ihr entfernen kann."
Er findet plastische
Beispiele, berichtet vom Opiumraucher, der in seinem kurzen Rausch
Jahrzehnte durchlebte oder von eingeschlossenen Bergarbeitern, die
die vergangene Zeit unter Tage bis zur Rettung „kraft des Fehlens
jedes Zeitorgans in unserem Innern“ überraschenderweise völlig
unterschätzten. Einen Höhepunkt stellt in dieser Hinsicht das
Kapitel „Schnee“ dar, das auch durch seine atemlose Spannung
etwas aus dem Rahmen fällt.
Das Unstete des
Erlebens der Zeit , was dem Leser nichts Unbekanntes ist, vermag der
Erzähler so gut zu vermitteln, dass ich beim Lesen selbst in diesen
besonderen Rhythmus kam und am Ende das Gefühl hatte, von einer
Reise aus einer mystischen Welt zurückgekehrt zu sein. „Der
Zauberberg“ ist so ein Buch, das ich nach dem Beenden nicht einfach
weglegen konnte, sondern gleich nochmal hätte beginnen können. Und
so habe ich das Vorwort noch einmal gelesen und musste schmunzeln,
was uns der Erzähler hier schon alles verrät.
Nun ist die Zeit
zwar ein wichtiger, aber eben nur ein Aspekt des Buches. Die teils
sehr skurrilen Figuren laden zur (Nach-)Betrachtung ein – ob die
türenschlagende Clawdia Chauchat, der Vetter Joachim, Settembrini,
zu dem sich später noch Naphta gesellt, die dumme Stöhr, Hofrat
Behrens und nicht zu vergessen, der großartige Peeperkorn und viele
weitere – sind die meisten doch alles andere als eindimensional und
nicht so leicht zu vergessen. Kleine Dinge (z.B. der Bleistift, das
Röntgenbild usw.) und Gesten erlangen große Bedeutung oder wirken
ungemein kraftvoll, die Walpurgisnacht nimmt da eine besondere Rolle
ein. Aber auch die Gespräche Settembrinis mit Castorp oder die
zwischen Castorp und Peeperkorn sind von beeindruckender Wirkung.
Hinzu kommen die
vielen Beschreibungen, die nicht selten von besonderer Schönheit
sind und dazu beitragen, dass man völlig in der Welt dort oben
versinken kann:
„Jedoch liebte
Hans Castorp das Leben im Schnee. Er fand es demjenigen am
Meeresstrande in mehrfacher Hinsicht verwandt: die Urmonotonie des
Naturbildes war beiden Sphären gemeinsam; der Schnee, dieser tiefe,
lockere, makellose Pulverschnee, spielte hier ganz die Rolle wie
drunten der gelbweiße Sand; gleich reinlich war die Berührung mit
beiden, man schüttelte das frosttrockene Weiß von Schuhen und
Kleidern wie drunten das staubfreie Stein- und Muschelpulver des
Meeresgrundes, ohne dass eine Spur hinterblieb, und auf ganz ähnliche
Weise mühselig war das Marschieren im Schnee wie eine
Dünenwanderung, es sei denn, dass die Flächen vom Sonnenbrand
oberflächlich angeschmolzen, nachts aber hart angefroren waren: dann
ging es leichter und angenehmer darauf, als auf Parkett, - genau so
leicht und angenehm, wie auf dem glatten, festen, gespülten und
federnden Sandboden am Saume des Meeres.“
Im Nachgang fiel mir
dann auf, dass die nicht so lange zurückliegende Lektüre von
„Troubles“ von James Gordon Farrell von Thomas Manns Zauberberg
inspiriert worden sein könnte. Das verfallende Hotel in Irland mit
seinen schrulligen Gästen, Symbol des zerfallenden „British
Empire“, erinnert mich jetzt ein wenig an das Hotel Berghof in
Davos, mit seinen Gästen. Nur dass hier der „große Knall“ sich
als stetiger Begleiter, sei es durch die Zeitungsschnipsel, die von
Anschlägen berichten oder durch ähnliche Vorkommnisse rund ums
Hotel, erweist. Nun ja, es werden sicher einige Schriftsteller von
Thomas Mann beeinflußt worden sein.
"Der Zauberberg" hat mich die letzten Wochen begeistert und ich bin mir sicher, dass ich den Roman nicht das letzte Mal gelesen haben werde. Vielleicht kaufe ich mir bei passender Gelegenheit ja doch noch irgendwann den Kommentarband. Ein Buch für die Insel ist es auf jeden Fall.