Wie an anderer Stelle schon geschrieben, hat mich der Anfang des
Romans gleich in seinen Bann gezogen. Der erste Abschnitt mit genauen
meteorologischen und astronomischen Ausführungen, die sich auf den
letztlich geäußerten Satz „Es war ein schöner Augusttag des
Jahres 1913“ eindampfen lassen, haben bei mir Lust und Neugier
entfacht. Anderswo wird eben mit einem Allerweltssatz wie dem
zitierten eingestiegen, hier kündigt sich gewissermaßen schon an,
was zumindest die ersten Kapitel und (womöglich?) den Roman [auch]
kennzeichnet: sehr genaue und dichte Beschreibungen, in langen,
verschachtelten Sätzen, an denen ich gerne etwas verweile, weil sie
auf mich komponiert (oder zumindest: äußerst durchdacht) wirken, nicht
manieriert.
In Kapitel 5
„Ulrich“:
„Er wurde damals
in dem vornehmen Gymnasium der Theresianischen Ritterakademie
erzogen, das die edelsten Stützen des Staates lieferte, und sein
Vater, erbost über die Beschämung, die ihm sein weit vom Stamme
gefallener Apfel bereitete, schickte Ulrich in die Fremde fort, in
ein kleines belgisches Erziehungsinstitut, das in einer unbekannten
Stadt lag und, mit kluger kaufmännischer Betriebsamkeit verwaltet,
bei billigen Preisen einen großen Umsatz an entgleisten Schülern
hatte. Dort lernte Ulrich, seine Mißachtung der Ideale anderer
international zu erweitern.“
„Es ist schon
angedeutet worden, daß er Mathematiker war, und mehr braucht davon
noch nicht gesagt zu werden, denn in jedem Beruf, wenn man ihn nicht
für Geld, sondern um der Liebe willen ausübt, kommt ein Augenblick,
wo die ansteigenden Jahre ins Nichts zu führen scheinen. Nachdem
dieser Augenblick längere Zeit angedauert hatte, erinnerte sich
Ulrich, daß man der Heimat die geheimnisvolle Fähigkeit zuschreibe,
das Sinnen wurzelständig und bodenecht zu machen, und er ließ sich
in ihr mit dem Gefühl eines Wanderers nieder, der sich für die
Ewigkeit auf eine Bank setzt, obgleich er ahnt, daß er sofort wieder
aufstehen wird.“
Die Spannung, die
beim Kennenlernen seiner Geliebten nach dem Boxkampf (es war ja eine
Schlägerei, die nachträglich mehrfach unter sportlichen Aspekten
er- und geklärt werden will) auf der Heimfahrt in der Luft liegt,
wird folgendermaßen beschrieben:
„Er fühlte etwas
mütterlich Sinnliches neben sich, eine zarte Wolke von hilfsbereitem
Idealismus, in deren Wärme sich jetzt die kleinen Eiskristalle des
Zweifels und der Angst vor einer unüberlegten Handlung zu bilden
begannen, während er wieder Mann wurde, und sie füllten die Luft
mit der Weichheit eines Schneefalls.“
„(…) er bemerkte
nun, daß seine Nachbarin das nicht im geringsten verstand, dennoch
war der weiche Schneefall, den sie im Wagen verbreitete, noch dichter
geworden.“
Die Suche nach dem
Besonderen, Herausragenden, Genialen in einem Selbst, scheint mir
bisher ein roter Faden zu sein – nicht nur die Hauptfigur Ulrich
betreffend. (Das 9. Kapitel trägt den Titel „Erster von drei
Versuchen, ein bedeutender Mann zu werden“, die weiteren folgen in
10 und 11)
Ich habe vorhin das
Kapitel “Jugendfreunde” gelesen, das mich besonders fasziniert
hat. Mir imponieren Musils Beschreibungen sehr (hatte ich das schon
geschrieben?), denen es gelingt, schwer Faßbares oder komplexe
Verhältnisse prägnant in Worte zu kleiden. Wie er beispielsweise
die langjährige Beziehung der nun verheirateten Jugendfreunde Walter
und Clarisse in wenigen Seiten charakterisiert, auch über die
Verbindung zur Musik, insbesondere der Wagners, finde ich in seiner
Dichte und Klarheit schon bemerkenswert.
Da wird aus Walter,
dem gleich auf vielen Feldern äußerst begabten jungen Mann, fasst
so etwas wie ein Hochstapler, zumindest jedoch einer, der Clarisses
Ansprüchen nicht mehr genügt. Walter ist sich dessen bewusst. Hier
gefällt mir, wie die Leichtigkeit und das Mindergewicht (also aus
geistiger Sicht) verknüpft werden, wie Walters streben nach wahrer
Größe ihn immer kleiner werden lässt. (Diese Gegensätze sind mir nun schon desöfteren aufgefallen, z.B. im obigen Zitat mit der Bank).
"Obgleich er natürlich wie jedermann bereit war, an seine Erfolge als
ein persönliches Verdienst zu glauben, hatte ihn doch sein Vorzug,
daß er von jedem Glückszufall mit solcher Leichtigkeit emporgehoben
wurde, seit je wie ein beängstigendes Mindergewicht beunruhigt, und
so oft er seine Tätigkeiten und menschlichen Verbindungen wechselte,
geschah es nicht bloß aus Unbeständigkeit, sondern in großen
inneren Anfechtungen und von einer Angst gehetzt, er müsse um der
Reinheit des inneren Sinnes willen weiterwandern, ehe er dort Boden
fasse, wo sich das Trügerische schon andeute. Sein Lebensweg war
eine Kette von erschütternden Erlebnissen, aus denen der heroische
Kampf einer Seele hervorging, die allen Halbheiten widerstand und
keine Ahnung davon hatte, daß sie damit der eigenen diente. Denn
während er um die Moral seines geistigen Tuns litt und kämpfte, wie
es einem Genie zukommt, und den vollen Einsatz für seine Begabung
erlegte, die nicht zu Großem genügte, hatte ihn sein Schicksal
still innen im Kreis zum Nichts zurückgeführt."
Auch in diesem
Kapitel wird wieder auszuloten versucht, was das Genie ausmacht (man
denke etwas zurück, an das geniale Rennpferd), woran man es bemisst,
ob man Mangel an Begabung durch Fleiß und
Willen wettmachen kann.
"Aber sie hielt Genie
für eine Frage des Willens. Mit wilder Energie hatte sie sich das
Studium der Musik anzueignen gesucht; es war nicht unmöglich, daß
sie überhaupt nicht musikalisch war, aber sie besaß zehn sehnige
Klavierfinger und Entschlossenheit; sie übte tagelang und trieb ihre
Finger wie zehn magere Ochsen an, die etwas übermächtig Schweres
aus dem Grund reißen sollen. In der gleichen Weise betrieb sie die
Malerei. Sie hatte Walter seit ihrem fünfzehnten Jahr für ein Genie
gehalten, weil sie stets die Absicht gehabt hatte, nur ein Genie zu
heiraten. Sie erlaubte ihm nicht, keines zu sein. Und als sie sein
Versagen merkte, wehrte sie sich wild gegen diese erstickende,
langsame Veränderung in ihrer Lebensatmosphäre. Gerade da hätte
nun Walter menschliche Wärme gebraucht, und er drängte, wenn ihn
seine Ohnmacht quälte, zu ihr wie ein Kind, das Milch und Schlaf
sucht, aber Clarissens kleiner, nervöser Leib war nicht mütterlich.
Sie kam sich von einem Parasiten mißbraucht vor, der sich in ihr
einnisten wollte, und sie verweigerte sich. Sie verhöhnte die
wallende Waschküchenwärme, in der er Trost suchte. Es kann sein,
daß das grausam war. Aber sie wollte die Gefährtin eines großen
Menschen sein und rang mit dem Schicksal."
"Grausam" trifft es hier gut; für mich als Leser steckt in solchen kurzen Abschnitten ungeheuer viel. Kein Wort wirkt verschwendet oder zuviel, im Gegenteil, ich bewundere, dass es gelingt, in so wenigen Sätzen, so viel zu sagen. Für mich ist das bisher schon eine besondere Qualität des Romans, die ich aufgrund des Umfangs so nicht erwartet habe.
Die Jahrhundertwende vom 19. ins 20., der um sich greifende Wandel, gesellschaftlich, auch innerhalb der Generationen, ist bisher ein weiteres Thema des Romans. Sehr widersprüchlich und als "Ereignislein" im Kapitel 15 "Geistiger Umsturz" einzufangen versucht.
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Arg viel weiter bin ich noch nicht gekommen, bleibe aber bei meiner ersten Begeisterung. Insbesondere aus sprachlicher Sicht hebt sich das schon von vielen Romanen ab. Die Dichte des Romans zwingt mir dann auch seinen eigenen Rhythmus auf, dem ich bisher aber gerne folge.