Beiträge von Krylow

    Nun habe ich mein Leseprojekt abgeschlossen. Es war eine zur Hälfte mühsame, zur Hälfte sehr bereichernde Lektüre. Missfallen haben mir die langen, sich wiederholenden Tiraden Ulrichs über sein Lebensthema Moral und die Unmöglichkeit, Richtlinien für das Leben zu finden. Bewundernd habe ich den Schliff der Musil'schen Sprache und die hohe Kunst genossen, mit der er Satire betreibt. In den satirischen Kapiteln hatte ich auch den meisten Lesespaß. Insbesondere wenn der Name General Stumm von Bordwehr in der Kapitelüberschrift oder irgendwann zwischendurch auftauchte, konnte ich sicher sein, dass ich viel Lesespaß haben würde. Der Roman hat sich gelohnt, war aber auch eine gewaltige Aufgabe.

    Schön, dass Du bis zum Schluss auch Deine Gedanken zu den Kapiteln mitgeteilt hast. Entschuldige nochmals, dass das mit dem "gemeinsamen Lesen" nur zu Beginn etwas wurde. Ich hoffe, dass ich mich mit Deinen Gedanken zu den Kapiteln irgendwann auch noch befassen werde können.

    finsbury

    Es tut mir leid, dass ich mich jetzt erst melde und wie Zefira momentan sehr viel Energie in andere Angelegenheiten stecken muss, so dass ich die letzten Wochen nicht viel weitergekommen bin.


    Abbrechen möchte ich nicht, dazu gefällt es mir zu gut, nur fürchte ich, dass ich mit Dir nicht Schritt halten werde. Ich schaue mal, wie es sich entwickelt. Im Stich lassen wollte ich Dich nicht, kann aber nichts versprechen.

    Ich bin schon auch noch dabei, war aber leider die letzten Wochen mit anderen Dingen mehr beschäftigt, z.B. dem Wetter. Dauerregen und heftige Gewitter haben zu Stromausfällen und Überschwemmungen geführt. Zum Glück sind wir hier nicht abgesoffen, wie große Teile weiter südlich.

    Ich hoffe, ich kann diese Woche wieder etwas aufschließen.

    Ich lese langsam, viel langsamer als sonst, und lasse mir praktisch jeden Satz auf der Zunge zergehen, es ist so eine wunderschöne Sprache. Wenn ich aber zusammenfassen soll, was ich gelesen habe, muss ich passen.

    Ich lese sowieso nicht so schnell, gebe Dir aber recht, diese schon angesprochene Verdichtung zwingt zu mehr Aufmerksamkeit. Einzelne Sätze platzen fasst, so viel ist da reingepackt. Und trotzdem wirkt es nicht so, wie ich das beschrieben habe, sondern elegant und präzise, auf seine Art und Weise auch prägnant.

    Wenn ich das dann be- oder umschreiben will, brauche ich viel mehr Worte. Viele Sprachbilder haben schon den Weg in mein Zitatebuch gefunden. Hier tue ich mir aber eher in der Auswahl schwer, was ich weglassen und was ich notieren soll. Anderswo gibt es nicht so viel zu entdecken.

    Von dieser Warte betrachtet, ist das Buch schon jetzt ein großer Gewinn.


    Ich liebe solche Bilder:


    "So ein paar Worte, richtig eingestreut, können fruchtbar wie lockere Gartenerde sein, aber an diesem Ort wirkten sie wie ein Häuflein Erde, das einer versehentlich an den Schuhen ins Zimmer getragen hat."

    Da bist du ja schon weit vorausgeeilt, Krylow. Ich habe erst das 13. Kapitel abgeschlossen, stehe also noch vor dem von dir so gelobten Kapitel "Jugendfreunde".

    Bei bisher durchschnittlich ca. 3 Seiten pro Kapitel bin ich wohl nur ein paar Schritte weiter geschlichen. ;-)


    Worüber ich öfter schmunzeln muss, sind die Parallelen zur heutigen Zeit, was die Beschreibungen der Umbrüche anbelangt, wie beispielsweise im Kapitel 16 "Eine geheimnisvolle Zeitkrankheit". Man könnte das wahrscheinlich auf jede Zeit der Veränderung in gewisser Weise anwenden, dennoch ist es immer wieder amüsant und auch ein bisschen beruhigend, dass sich die Probleme zu wiederholen scheinen, gleichzeitig aber auch beunruhigend, da man scheinbar nichts aus der Vergangenheit gelernt hat (oder jede Generation die Fehler der vorherigen aufs Neue begeht.)


    Auch die Beobachtungen im 16. Kapitel sind wieder messerscharf und viele Sätze bieten sich für die Zitatesammlung an, mir gefiel der Absatz zur Dummheit besonders:


    "So hatte sich also die Zeit geändert, wie ein Tag, der strahlend blau beginnt und sich sacht verschleiert, und hatte nicht die Freundlichkeit besessen, auf Ulrich zu warten. Er vergalt es seiner Zeit damit, daß er die Ursache der geheimnisvollen Veränderungen, die ihre Krankheit bildeten, indem sie das Genie aufzehrten, für ganz gewöhnliche Dummheit hielt. Durchaus nicht in einem beleidigenden Sinn. Denn wenn die Dummheit nicht von innen dem Talent zum Verwechseln ähnlich sähe, wenn sie außen nicht als Fortschritt, Genie, Hoffnung, Verbesserung erscheinen könnte, würde wohl niemand dumm sein wollen, und es würde keine Dummheit geben. Zumindest wäre es sehr leicht, sie zu bekämpfen. Aber sie hat leider etwas ungemein Gewinnendes und Natürliches. Wenn man zum Beispiel findet, daß ein Öldruck eine kunstvollere Leistung sei als ein handgemaltes Ölbild, so steckt eben auch eine Wahrheit darin, und sie ist sicherer zu beweisen als die, daß van Gogh ein großer Künstler war. Ebenso ist es sehr leicht und lohnend, als Dramatiker kräftiger als Shakespeare oder als Erzähler ausgeglichener als Goethe zu sein, und ein rechter Gemeinplatz hat immerdar mehr Menschlichkeit in sich als eine neue Entdeckung. Es gibt schlechterdings keinen bedeutenden Gedanken, den die Dummheit nicht anzuwenden verstünde, sie ist allseitig beweglich und kann alle Kleider der Wahrheit anziehen. Die Wahrheit dagegen hat jeweils nur ein Kleid und einen Weg und ist immer im Nachteil."

    Ich lese das, wie sonst auch, ohne Sekundärliteratur. Falls ich was nachschlagen muss, schreibe ich mir das meist raus. Das ist aber öfter bei älteren Werken der Fall und macht auch Spaß. Ich bin ein Fan von alten Wörterbüchern und Sammlungen zur Sprache im Allgemeinen (Handwörterbücher, Sprichwörter usw.)


    Wenn ich bei geschichtlichen Ereignissen auf dem Schlauch stehe, lese ich auch gerne mal nach.

    Wie an anderer Stelle schon geschrieben, hat mich der Anfang des Romans gleich in seinen Bann gezogen. Der erste Abschnitt mit genauen meteorologischen und astronomischen Ausführungen, die sich auf den letztlich geäußerten Satz „Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913“ eindampfen lassen, haben bei mir Lust und Neugier entfacht. Anderswo wird eben mit einem Allerweltssatz wie dem zitierten eingestiegen, hier kündigt sich gewissermaßen schon an, was zumindest die ersten Kapitel und (womöglich?) den Roman [auch] kennzeichnet: sehr genaue und dichte Beschreibungen, in langen, verschachtelten Sätzen, an denen ich gerne etwas verweile, weil sie auf mich komponiert (oder zumindest: äußerst durchdacht) wirken, nicht manieriert.


    In Kapitel 5 „Ulrich“:

    „Er wurde damals in dem vornehmen Gymnasium der Theresianischen Ritterakademie erzogen, das die edelsten Stützen des Staates lieferte, und sein Vater, erbost über die Beschämung, die ihm sein weit vom Stamme gefallener Apfel bereitete, schickte Ulrich in die Fremde fort, in ein kleines belgisches Erziehungsinstitut, das in einer unbekannten Stadt lag und, mit kluger kaufmännischer Betriebsamkeit verwaltet, bei billigen Preisen einen großen Umsatz an entgleisten Schülern hatte. Dort lernte Ulrich, seine Mißachtung der Ideale anderer international zu erweitern.“


    „Es ist schon angedeutet worden, daß er Mathematiker war, und mehr braucht davon noch nicht gesagt zu werden, denn in jedem Beruf, wenn man ihn nicht für Geld, sondern um der Liebe willen ausübt, kommt ein Augenblick, wo die ansteigenden Jahre ins Nichts zu führen scheinen. Nachdem dieser Augenblick längere Zeit angedauert hatte, erinnerte sich Ulrich, daß man der Heimat die geheimnisvolle Fähigkeit zuschreibe, das Sinnen wurzelständig und bodenecht zu machen, und er ließ sich in ihr mit dem Gefühl eines Wanderers nieder, der sich für die Ewigkeit auf eine Bank setzt, obgleich er ahnt, daß er sofort wieder aufstehen wird.“


    Die Spannung, die beim Kennenlernen seiner Geliebten nach dem Boxkampf (es war ja eine Schlägerei, die nachträglich mehrfach unter sportlichen Aspekten er- und geklärt werden will) auf der Heimfahrt in der Luft liegt, wird folgendermaßen beschrieben:


    „Er fühlte etwas mütterlich Sinnliches neben sich, eine zarte Wolke von hilfsbereitem Idealismus, in deren Wärme sich jetzt die kleinen Eiskristalle des Zweifels und der Angst vor einer unüberlegten Handlung zu bilden begannen, während er wieder Mann wurde, und sie füllten die Luft mit der Weichheit eines Schneefalls.“


    „(…) er bemerkte nun, daß seine Nachbarin das nicht im geringsten verstand, dennoch war der weiche Schneefall, den sie im Wagen verbreitete, noch dichter geworden.“


    Die Suche nach dem Besonderen, Herausragenden, Genialen in einem Selbst, scheint mir bisher ein roter Faden zu sein – nicht nur die Hauptfigur Ulrich betreffend. (Das 9. Kapitel trägt den Titel „Erster von drei Versuchen, ein bedeutender Mann zu werden“, die weiteren folgen in 10 und 11)


    Ich habe vorhin das Kapitel “Jugendfreunde” gelesen, das mich besonders fasziniert hat. Mir imponieren Musils Beschreibungen sehr (hatte ich das schon geschrieben?), denen es gelingt, schwer Faßbares oder komplexe Verhältnisse prägnant in Worte zu kleiden. Wie er beispielsweise die langjährige Beziehung der nun verheirateten Jugendfreunde Walter und Clarisse in wenigen Seiten charakterisiert, auch über die Verbindung zur Musik, insbesondere der Wagners, finde ich in seiner Dichte und Klarheit schon bemerkenswert.


    Da wird aus Walter, dem gleich auf vielen Feldern äußerst begabten jungen Mann, fasst so etwas wie ein Hochstapler, zumindest jedoch einer, der Clarisses Ansprüchen nicht mehr genügt. Walter ist sich dessen bewusst. Hier gefällt mir, wie die Leichtigkeit und das Mindergewicht (also aus geistiger Sicht) verknüpft werden, wie Walters streben nach wahrer Größe ihn immer kleiner werden lässt. (Diese Gegensätze sind mir nun schon desöfteren aufgefallen, z.B. im obigen Zitat mit der Bank).


    "Obgleich er natürlich wie jedermann bereit war, an seine Erfolge als ein persönliches Verdienst zu glauben, hatte ihn doch sein Vorzug, daß er von jedem Glückszufall mit solcher Leichtigkeit emporgehoben wurde, seit je wie ein beängstigendes Mindergewicht beunruhigt, und so oft er seine Tätigkeiten und menschlichen Verbindungen wechselte, geschah es nicht bloß aus Unbeständigkeit, sondern in großen inneren Anfechtungen und von einer Angst gehetzt, er müsse um der Reinheit des inneren Sinnes willen weiterwandern, ehe er dort Boden fasse, wo sich das Trügerische schon andeute. Sein Lebensweg war eine Kette von erschütternden Erlebnissen, aus denen der heroische Kampf einer Seele hervorging, die allen Halbheiten widerstand und keine Ahnung davon hatte, daß sie damit der eigenen diente. Denn während er um die Moral seines geistigen Tuns litt und kämpfte, wie es einem Genie zukommt, und den vollen Einsatz für seine Begabung erlegte, die nicht zu Großem genügte, hatte ihn sein Schicksal still innen im Kreis zum Nichts zurückgeführt."


    Auch in diesem Kapitel wird wieder auszuloten versucht, was das Genie ausmacht (man denke etwas zurück, an das geniale Rennpferd), woran man es bemisst, ob man Mangel an Begabung durch Fleiß und Willen wettmachen kann.


    "Aber sie hielt Genie für eine Frage des Willens. Mit wilder Energie hatte sie sich das Studium der Musik anzueignen gesucht; es war nicht unmöglich, daß sie überhaupt nicht musikalisch war, aber sie besaß zehn sehnige Klavierfinger und Entschlossenheit; sie übte tagelang und trieb ihre Finger wie zehn magere Ochsen an, die etwas übermächtig Schweres aus dem Grund reißen sollen. In der gleichen Weise betrieb sie die Malerei. Sie hatte Walter seit ihrem fünfzehnten Jahr für ein Genie gehalten, weil sie stets die Absicht gehabt hatte, nur ein Genie zu heiraten. Sie erlaubte ihm nicht, keines zu sein. Und als sie sein Versagen merkte, wehrte sie sich wild gegen diese erstickende, langsame Veränderung in ihrer Lebensatmosphäre. Gerade da hätte nun Walter menschliche Wärme gebraucht, und er drängte, wenn ihn seine Ohnmacht quälte, zu ihr wie ein Kind, das Milch und Schlaf sucht, aber Clarissens kleiner, nervöser Leib war nicht mütterlich. Sie kam sich von einem Parasiten mißbraucht vor, der sich in ihr einnisten wollte, und sie verweigerte sich. Sie verhöhnte die wallende Waschküchenwärme, in der er Trost suchte. Es kann sein, daß das grausam war. Aber sie wollte die Gefährtin eines großen Menschen sein und rang mit dem Schicksal."


    "Grausam" trifft es hier gut; für mich als Leser steckt in solchen kurzen Abschnitten ungeheuer viel. Kein Wort wirkt verschwendet oder zuviel, im Gegenteil, ich bewundere, dass es gelingt, in so wenigen Sätzen, so viel zu sagen. Für mich ist das bisher schon eine besondere Qualität des Romans, die ich aufgrund des Umfangs so nicht erwartet habe.


    Die Jahrhundertwende vom 19. ins 20., der um sich greifende Wandel, gesellschaftlich, auch innerhalb der Generationen, ist bisher ein weiteres Thema des Romans. Sehr widersprüchlich und als "Ereignislein" im Kapitel 15 "Geistiger Umsturz" einzufangen versucht.


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    Arg viel weiter bin ich noch nicht gekommen, bleibe aber bei meiner ersten Begeisterung. Insbesondere aus sprachlicher Sicht hebt sich das schon von vielen Romanen ab. Die Dichte des Romans zwingt mir dann auch seinen eigenen Rhythmus auf, dem ich bisher aber gerne folge.

    Auch ich sage danke für die schöne Besprechung, die Lust auf eine weitere Lektüre macht (die in meinem Fall schon die dritte wäre ...).
    Wenn ich es richtig behalten habe, wird Daniel Nothaffts Tochter Eva später eine berühmte Tänzerin. Ich weiß nicht mehr, in welchem weiteren Roman sie vorkam; kann sein, dass es "Christian Wahnschaffe" war. Auch Sylvester von Erfft kommt in einem weiteren Roman von Wassermann vor.

    Will ich auch noch lesen und habe ich schon hier stehen...wie auch "Die Masken Erwin Reiners", auf den ich mich jetzt besonders freue. ^^

    Stendhal habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gelesen, die "Kartause von Parma" und "Rot und Schwarz" vor Jahrzehnten. Beide haben mir ganz gut gefallen, aber bisher nicht den Wunsch nach Weiterlektüre ausgelöst. Wie sind denn die italienischen Sachen?


    Bin immer noch mit dem "Kindheitsmuster" von Christa Wolf beschäftigt, eine hoch interessante, aber auch emotional sehr berührende und anstrengende Lektüre, weil Wolf die Indoktrination gerade der Kinder, aber auch der Gesellschaft im Nationalsozialismus thematisiert und sich dabei intensiv mit der Frage der Schuld auseinandersetzt.

    "Die Kartause von Parma" hat mir sehr gut gefallen (in der Hanser Neuübersetzung von Elisabeth Edl), "Rot und Schwarz" habe ich noch ungelesen hier. Die Edl-Übersetzungen von Flaubert wurden vom Feuilleton ebenfalls einhellig gelobt und gefielen mir sehr (ohne da Vergleiche anstellen zu können).

    Die von Leibgeber erwähnten Titel habe ich auch noch in der Übersetzung von Walter Widmer aus dem Winkler Verlag. Die Beschreibung macht Lust darauf.

    Letzte Woche habe ich zwei neue Bücherregale gekauft und zusammengebaut. So konnte ich endlich eine ganze Menge an Büchern aus ihrem düsteren Dasein im Dunkel der dritten Reihe ans Licht holen. Da waren unter anderem auch die kleinen Winkler Bände (wahrscheinlich Klein-Oktav) von Stendhal dabei.

    Von mir aus gerne!

    Ich habe schon mal angelesen, 30 Seiten, und bin schwer begeistert. Mit Abstand das Beste, was ich seit einiger Zeit gelesen habe. (Wenn man das mal eben so über 30 Seiten sagen kann...) Ich habe die gebundene Ausgabe aus dem Rowohlt Verlag, herausgegeben von Adolf Frisé, 1632 Seiten.


    Ich bin jetzt schon ganz dankbar, dass der Vorschlag kam und froh, dass ich mich entschlossen habe, mitzumachen. Ich bin gespannt, was uns da noch erwartet. Wie und ob ich den Rhythmus einhalten kann, wird sich zeigen.

    Mittlerweile habe ich das „Gänsemännchen“ ausgelesen und mein anfänglicher Eindruck hat sich nicht geschmälert. Da ist zum einen die Sprache, die mir sehr gefiel. Das fängt bei der Beschreibung von Landschaften an (Mir ist aufgefallen, dass der Satz ganz zu Beginn des Romans


    „An den zahlreichen Weihern steht das Gras höher, so hoch oft, dass man von den Gänseherden nur die Schnäbel gewahrt, und wäre das Geschnatter nicht, man könnte sie für wunderlich bewegte Blumen halten, diese Schnäbel.“


    knapp 600 Seiten später, nahezu identisch, als letzter Satz den Roman beschließt.), von Dörfern und Städten mit ihrer Gesellschaft bis zu der, in meinen Augen, wunderbar fein ausgearbeiteten Charakterisierung der Figuren. Diese Figuren sind so zahlreich, dass ich mir manches Mal nicht ganz sicher war, ob Daniel Nothafft die Hauptfigur bleibt.


    Daniels Schaffensprozess, das Werden eines Künstlers, in diesem Fall geht es um die Musik, hat Wassermann meiner Meinung nach großartig in Worte gefasst. Die innere Zerissenheit, das Ringen um Ordnung im Wirrwarr seiner Ideen, die raren Momente von Klarheit, die Verbindungen zwischen den einzelnen Stückwerken herstellen und allgemein die Schilderung seiner Musik, die seiner Zeit voraus scheint, fand ich sehr bewegend. Ausführlich lernt man das Dunkle in Daniels Charakter kennen, die Schmerzen, die nicht nur er erfährt, sondern die insbesondere auf sein gesamtes Umfeld ausstrahlen.


    Dabei spielen die Frauen eine gewichtige Rolle, auch wenn das anfänglich nicht so scheint. Seinen Beziehungen wird dann auch sehr viel Platz eingeräumt, ebenso der Auslotung ihrer Funktion für Daniels Musik - Lenore, Gertrud, Dorothea, Philippine. Dazu gesellen sich noch Randfiguren wie Sylvia, die Mutter, die drei Schwestern, die Magd, die Zingarella usw. Letztgenannte begleitet Daniel als Maske durch den Roman. Diese Symbolik ist an verschiedenen Stellen zu finden, natürlich auch in Form des titelgebenden Gänsemännchens, der Brunnenfigur vom Nürnberger Obstmarkt, die gegen Ende in einer Art Fiebertraum sogar zum Leben erwacht.


    Die zahlreichen Figuren, die Einfluß (oft negativer Art) auf Daniels Werdegang hatten, werden erstaunlich ausführlich und lebhaft beschrieben. Auch wenn sie Daniel teils übel mitspielen, haben fast alle früher oder später an ihrem Schicksal zu tragen (Carovius, Schimmelweis, Döderlein, der alte von Auffenberg, Eberhard, Benda usw.)


    Armut und Stolz sind weitere Themen des Romans, die nicht nur den Protagonisten beuteln (so auch der adelige Eberhard von Auffenberg). Mir gefiel Wassermanns Darstellung der Würde der Menschen, die gebrochen oder am Leben gescheitert scheinen und wie sie die Augenblicke stillen Respekts und Momente der scheinbaren Teilhabe an der Gesellschaft am Leben halten. (z.B. der alte Jordan, der sich mit Carovius im stillen Einvernehmen regelmäßig in der Gaststube trifft)


    Ich bin ziemlich eingetaucht in diese fränkische Welt der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit den verschrobenen, oft harten und gemeinen Figuren. Geschichten einzelner Figuren hätten eigene Novellen sein können (z.B. der alte Jordan und seine Erfindung). Man könnte das vielleicht als Kritikpunkt anführen, dass der Fokus noch öfter auf Daniel hätte gelenkt werden können. Andererseits gewinnt die Motivation der Hauptfigur durch die Ausarbeitung seines gesamten Umfelds an Glaubwürdigkeit, der Roman an Tiefe. Im kleinen Begleitheft (ich habe die Ausgabe der Bibliothek des 20. Jahrhunderts gelesen) ist ein Essay, der den Roman an einer Stelle so beschreibt: "(...) Statt des Gesellschaftsromans mit seinem Figurenpanorama den Bildungsroman mit seinem einen Helden, der von Stufe zu Stufe zur Persönlichkeitsvollendung geführt wird. (...)" Dem würde ich [der Autor beschreibt, warum er das so sieht] auch bedingt zustimmen, würde aber gerade aufgrund des Figurenpanoramas eher zu einem "sowohl, als auch" tendieren.


    Für mich war die Lektüre jedenfalls ein lohnendes Erlebnis und sicher nicht der letzte Roman Wassermanns.

    Da bin ich auf deine Meinung gespannt. Ich habe eine Zeitlang mit wachsender Begeisterung Wassermann gelesen, auch das Gänsemännchen, und der Wahnschaffe ist eines meiner Lieblingsbücher geblieben.

    Die "wachsende Begeisterung" stellt sich auch bei mir ein. Ich habe kürzlich ein paar schöne Ausgaben antiquarisch erworben und überhaupt spielt das ja alles in nicht so weiter Ferne für mich, d.h. viele Schauplätze sind mir bekannt. Der Wahnschaffe war bei den Einkäufen dabei, den Hauser kenne ich schon, aber schon ewig lange her. Sprachlich gefällt mir das "Gänsemännchen" bisher sehr gut, ebenso die Beschreibung der damaligen Gesellschaft. Ein paar Mal hab ich mir schon gedacht, dass sich da bis heute nicht so viel geändert hat. Wenn ich das Buch gelesen habe, werde ich meine Meinung zum Besten geben.

    Das würde mich sehr freuen, Krylow. Da hätten wir einen guten Literaturkenner mit im Boot.

    Euch kann ich hier nicht das Wasser reichen, aber soll ja auch kein Wettbewerb sein. ;-)

    Mir ist aufgefallen, dass ich den Roman noch gar nicht in der Sammlung habe. Ich hätte schwören können, dass der irgendwo in einem Regal schlummert. Irgendwie hatte ich den auch in der Bibliothek des 20. Jahrhunderts vermutet, aber da ist "nur" der Törleß.

    (...) brauche weder mir noch diesem Forum irgendetwas zu beweisen

    Ich glaube, niemand ist in diesem Forum, um irgendwem etwas zu beweisen.

    Persönlich finde ich das pauschale Abwatschen der Beiträge, insbesondere im Hinblick auf ihre vermeintliche Substanzlosigkeit, ziemlich daneben. Man kann das anders sehen.


    Blogs sind daran nicht unschuldig; auch ich muss zugeben, dass ich vorwiegend in meinem Blog poste und hier wenig davon zum Besten gebe.

    Dein Blog ist einer derjenigen, auf die ich hier im Forum aufmerksam wurde und wo ich gerne mitlese. Es verblüfft mich immer wieder, wenn ich die Menge an Büchern sehe, die Du da verschlingst. Manchmal glaube ich, bei Dir haben die Tage 48 Stunden.

    Übrigens: https://www.elfenbein-verlag.de/camoes.htm


    Rechner aber, selbstredend: Debian Gnu/Linux.

    Ha, bis vor kurzem auch noch, momentan wieder bei Arch Linux. Na ja, unter anderem. Ich habe immer ein paar auf Reserve und zum Experimentieren.

    Die große Zeit der Foren ist schon lange vorbei, ebenso die der Blogs (die meines Erachtens ein wenig zum Verfall vieler Foren beigetragen haben). Die Freiheit, auf einer Plattform sein eigenes Ding machen zu können, quasi ohne Einschränkungen oder Moderation, hat viele gereizt. Es gab immer wieder die Diskussion um den Stellenwert von Blogs in der Literaturszene (oder sonstwo), da ein gewisser Teil sich als Produzenten betrachtete, die wie Journalisten bezahlt werden müssten. Ich kann mich dunkel an einige Kontroversen um Rezensionsexemplare und unkritische bzw. substanzlose Rezensionen und um die Qualität im Allgemeinen erinnern.


    In eine ähnliche Kerbe schlägt da ja Dein Beitrag. Zuerst habe ich natürlich nach Deinen gehaltvollen, literarisch besonders wertvollen, Bogen schlagenden und Brücken bauenden Beiträgen gesucht: nichts!! (Das muss nichts heißen, mir geht so manches durch die Lappen)


    An besagter Rezension aus dem Jahr 2018, die hier witzigerweise von Dir mit einem Hinweis aufs Copyright versehen ist, könnte man sich abarbeiten, wozu man natürlich das Buch gelesen haben sollte. Oberflächlich betrachtet fällt mir auf, dass die Rezension praktisch nur auf den Aufbau eingeht und den Inhalt komplette unter den Tisch fallen lässt. Zudem Teile ich die Ansicht nicht, die meisten Historiker würden ihre gewonnenen An- und Einsichten als das Maß aller Dinge ansehen. Im Gegenteil, meiner bescheidenen Erfahrung nach, werden bemerkenswerte Schlußfolgerungen, die beispielsweise bisherige Erkenntnisse ergänzen oder gar widerlegen sollen, sehr ausführlich und ausgiebig, auch interdisziplinär, diskutiert. Sei es in Fachzeitschriften, auf Tagungen oder durch Forschungsarbeit u.ä.


    Im Übrigen bleibt einem nichts als der Versuch, sich mit als gesichert geltendem Wissen, vielen Variablen und Unbekannten einer jahrtausende alten Kultur anzunähern.


    Zurück zum Forum: Es ist doch völlig normal, dass, außer man verabredet sich über Leserunden, kaum einmal der Fall eintreffen sollte, dass in einem literarischen Forum über Klassiker der Literatur, in dem sich momentan vielleicht ein Dutzend dauerhaft aktive Benutzer versammeln, plötzlich zwei finden, die gerade ein Buch über das Erbgut von Maispflanzen lesen.


    Ich glaube, Du solltest die Erwartungshaltung stark dämpfen und statt Dich über mangelnde Qualität zu beschweren, diese erst einmal selbst abliefern. Das ist erfahrungsgemäß deutlich schwieriger und würde so wunderbar den heutigen Zeitgeist untergraben.

    Ich für meinen Teil bin auf der Suche nach spezielleren Titeln in der Vergangenheit immer wieder auf dieses Forum aufmerksam geworden, das über Jahre eine sehr große Anzahl an interessanten Beiträgen und auch Diskussionen selbst zu weniger bekannten Werken versammelt. Nimmt man dann noch Blogs oder Webseiten hinzu, auf die ich über das Forum aufmerksam wurde, bin ich froh, dass ich mich hier angemeldet habe (auch wenn ich zuletzt alles andere als aktiv war.)