Auf Vorschlag der ehemaligen Schauspielerin, Sängerin („Ein Schiff wird kommen, …“) und damaligen griechischen Kulturministerin Melina Mercouri benennt die EU seit 1985 jährlich eine Kulturstadt Europas. Die erste Kulturstadt war Athen, es folgte Florenz, Amsterdam und Westberlin. Seit 1999 heißt die Kulturstadt Europas, Kulturhauptstadt Europas und dieser Titel wird meistens an mehrere Städte verliehen.
2010 waren, neben Pécs, die Metropolregion RUHR und die türkische Metropole Istanbul Kulturhauptstädte Europas. Anselm Weber, der neue Intendant des Schauspielhauses Bochum hatte daher die Idee das Kulturhauptstadtjahr mit einem Kulturen übergreifenden Event zu beschließen. Der türkische Regisseur Mahir Günsiray, der eine freie Theatergruppe in Istanbul leitet, sollte das „deutscheste aller deutschen Dramen“, „Goethes Faust“ in Bochum inszenieren. Premiere war am 4. Dez. 2010, ich habe mir die Inszenierung am 4. März 2011 angesehen:
Günsiray zeigt in etwas mehr als drei Stunden beide Teile von Goethes „Faust“, dabei reduziert er die Figuren auf Faust, den Homunculus und den Türmer Lynkeus, sowie auf Mephisto, der dafür von acht Schauspielern (vier Männer und vier Frauen) gleichzeitig gespielt wird, die sich den Mephisto-Text teilen, aber manchmal auch als Chor sprechen und bei Bedarf dann in die anderen Rollen schlüpfen und Gretchen oder ihren Bruder, Wagner oder Euphorion spielen – alles Projektionen von Mephisto.
Am Anfang lungern die acht Mephistos sichtlich gelangweilt auf der Bühne herum, dann kommt Faust mit seinem „Habe nun ach, …“-Monolog zu ihnen (nicht umgekehrt!) und ab da geht’s richtig schnell: Ein Mephisto verwandelt sich in Gretchen, schnell kommt man zusammen, bzw. aufeinander, schnell ist ein Kinderwagen da, schnell das Kind ertränkt, irgendwo dazwischen wird schnell noch der Bruder (natürlich ein Mephisto) ermordet und noch vor der Pause ist man mit der Homunculus-Szene im zweiten Teil.
Nach der Pause nimmt sich Günsiray etwas mehr Zeit. IKEA?Möbel werden ausgepackt und aufgebaut (das dauert logischerweise etwas länger als ein Baby zu zeugen und zu töten). Ein Bürostuhl für Papa Faust, ein Sofa für Mama Helena, ein Fußball für Söhnchen Euphorion, der aber lieber Krieg als Fußball spielen möchte.
Vieles entfällt in Günzirays Inszenierung, z.B. die Rahmenhandlung, anderes wird umgestellt, Lynkeus muss sterben, weil Philemon und Baucis nicht auftreten – weil man’s aber in Bochum trotzdem „Faust von Goethe“ nennt, ist’s imo ein Fall für den Verbraucherschutz –
andererseits habe ich den Besuch der Aufführung nicht bereut, Goethe hat ja den Faust nicht für sich gepachtet (man darf’s halt nicht Goethes Faust nennen), der Stoff geht bis auf biblische Zeiten zurück und auch Thomas Mann hat den Mephisto auf mehrere Figuren verteilt und seit der „Ersten Allgemeinen Verunsicherung“ wissen wir’s ja eh: „Das Böse ist immer und überall“.
Eine schöne Stelle will ich noch erwähnen: Zu Gretchens Grablegung tanzen alle Mephistos (Männer und Frauen) in weißen Brautkleidern einen Totentanz
und manchmal gibt es live von einem Cellisten begleitete Lieder – und ich bin nicht bereit zu sagen: hätte man dafür nicht ein paar Szenen weniger streichen können, sondern eher: könnte man nicht mal den Faust pantomimisch aufführen, nur von einem Cellisten oder einer Cellistin („Cello, Du …“) begleitet, - so schön war’s
Die nächste Vorstellung: 11. Juni 2011, 19:30 Uhr – Meine Wertung: Nicht unbedingt eine Reise wert, aber bei Gelegenheit nicht verpassen!