Beiträge von Manjula

    Hallo zusammen,


    ein sehr schönes Zitat, Maria. Erinnerungen zu bewahren war also nicht nur im Buch ein wichtiges Thema für ihn.



    Das ist alles sehr moralisch und bitter, die Guten trifft es, die Bösen kommen davon und siegen.


    Man bekommt etwas das Gefühl, die Moral werde auf den Kopf gestellt. Das ging mir so bei Jupiens Unterhaltung mit Marcel, als er fragt, ob es denn verboten sein könne, ein Entgelt für Dinge zu empfangen, die man nicht für schuldhaft hält. Man muss also nur subjektiv von der Richtigkeit einer Sache oder eines Verhaltens überzeugt sein, und schon kann man auch davon ausgehen, es sei allgemein akzeptiert und anerkannt? Eine sehr elastische und bequeme Sicht der Dinge.


    Nett fand ich auch den ironischen Selbstbezug, als Marcel von Francoises Verwandten berichtet:

    Zitat


    In diesem Buche, in dem keine einzige Tatsache berichtet wird, die nicht erfunden ist, in dem es keine einzige Gestalt gibt, hinter der sich eine wirkliche Person verbirgt, in dem alles und jedes je nach Maßgabe dessen, was ich demonstrieren will, von mir erdacht worden ist...


    Hat nicht gleich nach dem Erscheinen des Werks das Rätselraten über die realen Vorbilder der Romanfiguren begonnen?


    Ich wünsche Euch ein schönes Wochenende!


    Liebe Grüße
    Manjula

    Hallo Ihr beiden,


    auch von mir ein gutes neues Jahr mit vielen schönen Leseerlebnissen!


    Über die Feiertage bin ich leider fast nicht zum Lesen gekommen, momentan befinde ich mich mit Marcel in einem Haus, das er zunächst als Spionagenest einschätzte. Mein lieber Mann, Charlus läßt aber auch wirklich kein Laster aus.


    Die Passagen über den Weltkrieg sind für mich zum Teil auch schwer nachvollziehbar, ich habe den Eindruck, dass ich viele wichtige Anspielungen gar nicht sehe, da mir das Hintergrundwissen fehlt. Der Geschichtsunterricht ist halt doch schon ein paar Tage her, und aus französischer Sicht stellt sich vieles sicher nochmal anders dar.



    Es scheint, dass das Kriegsgeschehen mehr aus einer künstlerischen Warte geschildet wird. Es gibt eine Szene, als bei Nacht die Flugzeuge angreifen - das ist wie auf einem Bild beschrieben, losgelöst von all den Greueltaten.


    Ja, das ist mir auch aufgefallen, diese Beschreibung hatte fast etwas Poetisches. Angst scheint Marcel nicht zu haben; an einer Stelle sagt er ja auch, dass er Gedanken an den Tod ebenso wie seine Arbeit stets auf den nächsten Tag verschiebt.


    Viele liebe Grüße
    Manjula

    Hallo zusammen,


    hat Euch der Vorweihnachtsstreß fest in der Hand? Mich schon gewissermaßen, deshalb bin ich leider nicht viel weiter gekommen. Trotzdem ein paar Gedanken:


    Der Krieg scheint für Marcel nur zweitrangig zu sein. An einer Stelle findet er es zwar merkwürdig, dass Charlus und andere ihr Leben einfach so weiterführen, obwohl die Armee nur eine Autostunde vor Paris steht - ihn selbst scheint das aber auch nicht sehr zu kümmern. Vielleicht fühlte er sich durch seinen Sanatoriumsaufenthalt isoliert?


    In diesem Band scheint wieder öfters die feine ironische Seite von Proust auf, z.B. als er schreibt, dass manche Damen "entschlossen ihr Gesicht der schlanken Taille opfern". Auch über Mme Verdurin, die ein ärztliches Attest für Hörnchen erhält, habe ich mich amüsiert.


    Wie fandet Ihr den Vergleich von Nationen mit dem menschlichen Körper? Ich bin noch am Grübeln, ob ich die Auffassung, ein Volk verhalte sich wie ein Individuum, teilen kann. Auf jeden Fall ein interessanter Gedanke.


    Viele liebe Grüße
    Manjula

    Hallo zusammen,


    Hallo ihr Lieben,
    mir gehts ebenso. Die Sehnsucht nach "Combray" wird immer größer. Das hat Proust bestimmt beabsichtig!
    und schon hat er uns wieder am Wickel :smile:


    Schöne Grüße
    Maria


    da kann ich mich nur anschließen. Vieles würde man mit dem Wissen aus den folgenden Bänden auch sicher mit anderen Augen lesen (z.B. die erste Begegnung mit Gilberte).


    Die Gedanken und Eindrücke des Erzählers in Bezug auf den Krieg fand ich sehr interessant zu lesen. Die Gesellschaft, ihre Einstellungen und Meinungen (z.B. zur Bedeutsamkeit der Dreyfusaffäre) und ihre Rangordnung scheinen auf den Kopf gestellt. Andererseits sind die Gespräche und Verhaltensweisen großteils genauso hohl wie bisher, was der Erzähler zum Teil recht boshaft kommentiert, z.B. als er die "magische Transsubstantation" beschreibt, durch die für Mme Verdurin "Langweiler" zu interessanten Personen werden. Auch die Rechtfertigung der Damen, warum ihre eleganten Roben den Soldaten an der Front dienen, ist ziemlich bissig.


    Was mir beim bisherigen Lesen besonders auffällt, sind Szenen, in denen Proust eine Situation oder einen Gefühl direkt in sein Gegenteil verkehrt. Er schildert z.B. die Ehe des Vicomte de Courvoisier, die erst richtig vorbildlich wird, als er beginnt, seine Homosexualität auszuleben, während Saint-Loup seine Neigung mit vielen Mätressen zu verbergen versucht, und Gilberte dadurch erst unglücklich macht. An anderer Stelle macht er die Entdeckung, dass Bekanntschaften, die ihn mit einer Angebeteten zusammen bringen könnten, unmöglich sind, solange er sie dringend ersehnt; dass sie ihm aber zufallen, sobald sie ihm gleichgültig werden.



    Ich kann mir darauf auch keinen Reim machen und habe schon öfters darüber nachgedacht. Dass es für Marcel nicht interessant genug sein könnte, kann ich mir vorstellen, aber wie steht Proust dazu ? Ich bin immer wieder verblüfft, wie sehr ich manchmal Marcel und Proust identifiziere und wie manchmal irgendwie der Unterschied deutlich wird.


    Es fällt mir beim Lesen auch immer schwer, den Autor und den Icherzähler zu trennen. Das Werk wirkt schon raffiniert autobiographisch.


    Euch noch einen schönen Adventssonntag!


    Viele Grüße
    Manjula

    Hallo zusammen,


    wir sind wieder bei Proust, wie schön! Ich habe das Buch gerade nicht zur Hand, deshalb nur ein kurzer Kommentar aus dem Gedächtnis: Die Stelle mit dem späten Zubettgehen hat mich auch gleich an den allerersten Satz des Werks erinnert. Stimmt, der Schlaf zieht sich als Motiv durch das gesamte Buch. Vielleicht auch, weil im Schlaf die Erinnerungen aus dem Unterbewusstsein hochkommen?


    Gilberte besitzt für Marcel nun gar keinen Reiz mehr. Nicht nur die Liebe zu ihr, sondern auch ihre Anziehungskraft ist komplett verschwunden, sogar so weit, dass es Marcel nicht einmal mehr interessiert, auf wen er damals eigentlich eifersüchtig war (und der "Mann" war Lea! Immer wieder dieses Verwirrspiel und die Verknüpfungen. Ich bin schon sehr gespannt, was sich alles auflösen wird). Die Liebesbeziehungen, die beschrieben werden (Marcel/Gilberte, Marcel/Albertine, Swann/Odette, Robert/Rahel), bestehen eigentlich nur aus solchen extremen Höhen und Tiefen und schließlich Gleichgültigkeit. Ich habe mir gerade überlegt, ob damit ausgedrückt werden soll, dass es dauerhafte ("normale") Liebe nicht gibt, aber ich glaube, es ist eher so, dass solche Beziehungen für Marcel nicht interessant genug sind, ein Wort darüber zu verlieren.



    Leute, die Proust auf solche Weise wie ihr lesen, sind mir innerlich verbunden.


    Das geht mir auch so, ich genieße diese Leserunde besonders (wenn ich ehrlich bin, schleicht sich auch ein wenig Wehmut ein, dass wir "schon" beim letzten Band angelangt sind).


    Viele liebe Grüße
    Manjula

    Hallo Maria,


    ja, die Venedigepisode habe ich auch als kurz empfunden, wenn man überlegt, wie lange er schon davon geträumt hat. Aber es ist wohl, wie Du sagst:



    Auf der anderen Seite zeigt es uns wieder, dass der Besuch von Orten nicht das entscheidende ist. Alles um die Liebe und die Kunst spielt sich im Erinnern und im Vergessen statt.


    Nicht die Realität, das tatsächliche Erleben ist wichtig, sondern das, woran man sich erinnert.


    Liebe Grüße
    Manjula

    Hallo Emma,


    wow, bist Du schnell! Ja, die Parallelen zu Swann und Odette sind auch in punkto Nachlassen der Liebe gegeben. Hätte Marcel Albertine heiraten können, wäre er sicher auch recht schnell gleichgültig geworden. Dein Hinweis zum Schlüssel im letzten Band macht mich übrigens jetzt schon neugierig. Vielleicht schaust Du trotz bereits gelesenem Buch ab und zu in unsere nächste Runde rein? Würde mich freuen.


    Schöne Grüße
    Manjula

    Guten Morgen,


    ich fände auch ein zeitnahes Weiterlesen schön. Sollen wir es so machen, dass wir den genauen Termin abstimmen, wenn Du, Maria, fertig bist? Das soll Dich jetzt aber nicht unter Druck setzen, ich weiß, wie so eine Krankheit alles durcheinanderwirbeln kann, und da ist die Familie das Wichtigste. Also, melde Dich doch vielleicht einfach, wann es bei Dir passt.


    Ganz liebe Grüße
    Manjula

    Guten Morgen,


    ich bin nun auch mit diesem Band durch. Der Aufenthalt in Venedig erschien mir noch wichtig, weil er sich hier einen Kindheitstraum erfüllt und sich auch endlich wieder für Kunst und Politik (Norpois taucht wieder auf) begeistert, nachdem er so lange Zeit nur an "der Gesellschaft" und Frauen Interesse hatte. Nun scheint dies vorbei zu sein: Gilbertes Hochzeit und Albertines scheinbares Wiederauftauchen lassen ihn kalt, auch die Adoption der Nichte und ihre Hochzeit mit Cambremer beschäftigt ihn nicht allzusehr (in diesem Zusammenhang fand ich witzig, wie die Heiraten die gesellschaftliche Welt durcheinanderwirbeln. Und selbstverständlich sind diese Verwerfungen viel interessanter als die Tatsache, dass die Braut schon kurz nach der Trauung stirbt, was nur nebenbei erwähnt wird).


    Insgesamt hatte ich wie Steffi den Eindruck, dass Marcel in diesem Buch "erwachsener" wird. In den vorigen Bänden kam es mir eher so vor, als ob er still stünde. Zu Beginn der "Entflohenen" hätte ich nicht gedacht, dass ich zu dieser Einschätzung kommen könnte, da sich ja am Anfang vieles im Kreis drehte. Aber vielleicht war diese Phase zur Ablösung vom Alten notwendig.


    Sehr schön fand ich noch die Szene, in der Madame Sazerat unbedingt Madame de Villeparisis sehen will, die sie sich als "schön wie ein Engel, bös wie ein Teufel" vorstellt - und dann eine "kleine, abscheuliche, bucklige Person mit einem ganz roten Gesicht" sehen muss. Tja, die Vorstellungen der Kindheit halten sich hartnäckig, da kann man so manche Überraschung erleben.


    Und noch ein Zitat, das mich sehr angerührt hat:


    Zitat

    Die Wahrheit und das Leben sind beide sehr schwer zu bewältigen, und ich behielt von ihnen, ohne dass ich sie alles in allem kannte, einen Eindruck zurück, bei dem vielleicht Müdigkeit noch die Trauer überwog.


    Fühlt sich Marcel schon als alter Mann, der zu resigniert ist, um noch Gefühle zu empfinden? Wir werden es wohl bald erfahren.


    Viele Grüße
    Manjula

    Hallo zusammen,


    Der Leser ist ganz schön gefordert, wenn der Erzähler Erinnerungen aus früheren Bänden einflechtet. Die "Laterna magica" (die schon in Combray auftauchte), wirft die Kurven der Projektionen auf bunte Einschiebgläsern, die eine Unzahl von Personen in einem darstellen.


    Die Laterna Magica als Sinnbild der vielen Albertines - das ist wirklich ein sehr schönes Bild von Proust. An solchen Stellen genieße ich unsere Leserunde besonders, weil viele Eurer Assoziationen mir wieder neue Aspekte eröffnen. Die Rückbeziehung auf die früheren Bände gefällt mir auch sehr gut; ich freue mich auch immer, wenn ich auf "Bekanntes" treffe. Apropos bekannt: die Szene, in der Marcel Gilberte wiedersieht, ist ja schon etwas peinlich für ihn. So sehr wird sie sich ja nicht verändert haben. Andererseits zeigt das auch wieder seine Ichbezogenheit: Für ihn existiert nur die Gilberte, die er einmal geliebt hat; die wirkliche Frau erkennt er nicht einmal. Was Gilbertes Verhältnis zu Swann betrifft, stehe ich leider etwas auf der Leitung: schämt sie sich für ihn, weil er Jude war (in Zusammenhang mit der Dreyfusaffäre)? Oder hat das noch andere Gründe?


    Seit der Begegnung mit Gilberte gewinnt das Buch wieder etwas mehr an Handlung (wie auch Marcels Leben?). Dazwischen werden immer wieder, anscheinend ganz beiläufig, sehr schöne Gedankenblitze Marcels eingestreut, z.B.


    Zitat

    Denn der Mensch ist eine Wesen ohne festes Lebensalter, ein Wesen, das die Fähigkeit besitzt, in wenigen Sekunden wieder um Jahre jünger zu werden, und das innerhalb der Wände der Zeit, in der es gelebt hat, in dieser auf und ab schwebt wie in einem Bassin, dessen Spiegel unaufhörlich auf und nieder steigt und bald mit dieser, bald mit jener Epoche auf die gleiche Ebene führt.


    Betroffen hat mich dieser Satz gemacht:


    Zitat

    Nicht weil die anderen tot sind, lässt unsere Zuneigung zu ihnen nach, sondern weil wir selbst sterben.


    Heißt das, wenn man aufhört, jemanden zu lieben, ist auch ein Stück des eigenen Ichs gestorben?



    was ist Wahrheit ?


    Sehr gute Frage :zwinker: Würde Marcel evtl. "Nur die Erinnerung" antworten?


    Emma, mit der Ederquelle weckst Du bei mir gerade auch schöne Kindheitserinnerungen - wir waren oft am Edersee. Als ich vor fünf Jahren wieder dort war, ging es mir wie Marcel mit Gilberte: ich habe nichts wieder erkannt.


    Euch allen schon mal ein schönes Wochenende
    Manjula

    Hallo zusammen, herzlich willkommen Emma!


    Bei "Albertine taucht wieder auf" musste ich doch spontan an "Dallas" denken, als irgendeiner aufwacht und die Handlung der letzten 50 Folgen nur geträumt war. Das wäre ja erst noch eine Variante für Marcel :breitgrins:



    Ob vielleicht diese "Lähmung" beim Lesen der ersten Trauer und der inneren Gefühle auch eine Intention vom Autor ist ?


    Den Eindruck hatte ich auch! Wir hatten es doch schon einmal (ich glaube beim 4.Teil) davon, dass der Schreibstil die innere Leere der Handlung (damals waren es die inhaltsleeren Soireen) widerspiegelt. Ich glaube, dass es auch hier ganz bewusst so geschrieben ist.


    Sehr aufschlussreich fand ich den folgenden Satz:


    Zitat

    Es ist das Unglück der anderen, dass sie in unserem Denken nur eine sehr brauchbare Regalplanke für Dinge abgeben, die es sammelt.


    Beschreibt das nicht exakt Marcels Verhältnis zu Albertine im speziellen und anderen Menschen im allgemeinen? Insoweit ist es auch konsequent, dass er nur seine eigenen Gedanken und Gefühle schildert und sich um die der anderen keinen Kopf macht.


    Maria, vielen Dank für den Artikel. Besonders passend finde ich die Umschreibung:


    Zitat

    Prousts Methode, sich der Erinnerung anzuvertrauen, Stimmungen bis in die leisesten Schattierungen nachzufolgen und Seelenregungen oder Emotionen mit einer bis dahin nie geübten Geduld und Präzision zu analysieren,...


    Die Empfindungen des Erzählers werden wirklich bis in die letzte Feinheit erforscht und beschrieben. Manchmal ist es ein wenig anstrengend, manchmal bin ich auch erschlagen von der Fülle, aber ich genieße es trotzdem. Auf das Wiederauftauchen der Guermantes freue ich mich aber trotzdem.


    Schöne Grüße
    Manjula

    Hallo zusammen,



    und natürlich dürfen wir Marcel nicht alles glauben, was er schreibt.
    so z.B.


    Warum hatte sie mir nicht gesagt: Ich habe diese Neigung? Ich hätte nachgegeben, ich hätte ihr erlaubt, sie zu befriedigen, und würde sie noch in diesem Augenblick küssen


    ja, sehr glaubwürdig! Aber es ist natürlich bequem für Marcel, sein besitzergreifendes Wesen nur auf Albertines Verschweigen ihres Doppellebens zurückzuführen. Hätte sie ihm tatsächlich offen über ihre Neigung berichtet, wäre er sicher genauso eifersüchtig, wenn nicht mehr. Aber so kann er die Verantwortung Albertine zuschieben.


    Zu den Erinnerungen fand ich noch folgendes Zitat aufschlussreich:


    Zitat

    Was wir empfinden, ist das einzige, was für uns existiert, wir aber projizieren es in die Vergangenheit, in die Zukunft, ohne uns durch die fiktiven Schranken des Todes aufhalten zu lassen.


    Und tatsächlich lebt Marcel seit Albertines Flucht fast nur noch in seinen Empfindungen. Einflüsse von außen sind ganz geringfügig (Saint-Loups Besuch, Aimés Briefe) und nur insoweit interessant, als sie Marcels Gefühle beeinflussen. Er ist komplett in sich eingekapselt. Dass er seine Innenwelt als die tatsächliche und die "Außenwelt" als nicht real ansieht, zeigt sich darin, dass er den Tod als fiktiv bezeichnet.


    Bei Aimés Mitteilungen habe ich mich wieder einmal gefragt, inwiefern wir eigentlich ein realistisches Bild von Albertine erhalten. Nicht nur, dass ich Aimé als nicht unbedingt vertrauenswürdig einstufe (schließlich sichert er sich mit interessanten Nachrichten sein "Urlaubsgeld"); zudem lässt uns ja (wie wir schon beim letzten Band festgestellt haben) Proust die Figur Albertine konsequent nur durch Marcels Augen sehen. Schon vor ihrem Tod hatte sie keine eigenständige Persönlichkeit.


    Schön finde ich, dass Proust zwischen Marcels Um-sich-selbst-Kreisen immer wieder Humor durchblitzen lässt, z.B. als er von dem Mann erzählt, der zwar die Mondnächte im Wald längst vergessen hat, aber immer noch unter dem dadurch verursachten Rheuma leidet :zwinker:


    Euch ein schönes Wochenende!
    Manjula

    Hallo Maria und Steffi,


    ich bin auch etwa so weit wie ihr.


    Albertines Tod kam nicht nur früh, er kam für mich auch völlig unerwartet. Es fällt eine Andeutung, dass der Tod der Geliebten (entgegen Swanns Meinung) nicht befreiend wirke und zwei Absätze später erfährt der Leser von Albertines Unfall. Tragisch: Marcels Telegramm hat sie nicht mehr erreicht, umgekehrt empfängt er ihre Briefe erst, als es schon zu spät ist. Und es scheint, als ob ihre letzten Zeilen Marcel nicht trösten können. Besonders eindrücklich finde ich die Stelle, als er von den "unzähligen Albertinen" spricht, die er nicht vergessen könne.



    Die Frage ist ja, wie kann man seine "gefärbten Erinnerungen" umgehen um an die Realität zu kommen und geht das überhaupt ?


    Gute Frage! Ich glaube, dass es nicht geht, denn eine von allen persönlichen Einflüssen gereinigte, quasi völlig neutrale Erinnerung wäre aus meiner Sicht blass und leblos und damit noch "unrealistischer".


    Das hatte ich beim letzten Eintrag vergessen: ja, der Band heißt bei mir "Die Entflohene".


    Viele Grüße
    Manjula

    Hallo zusammen,


    Marcel macht auf mich in diesem Band einen sehr konfusen Eindruck: die merkwürdige Episode mit dem kleinen Mädchen, der wirre Plan mit den 30.000 Francs für den Onkel, der Brief mit der vorgeschobenen Hochzeitserlaubnis...Man könnte meinen, er sei durch die Trennung von Albertine so durcheinander, eigentlich scheint er aber nur um sich selbst zu kreisen. Ständig pendelt er zwischen dem Gedanken an Albertines Rückkehr (worauf er sich diese überhaupt nicht mehr wünscht) und der Furcht, sie nie wieder zu sehen (was ihn dann umso mehr ihre Rückkehr ersehnen lässt). Er befindet sich in einem Teufelskreis, aus dem aus eigener Kraft nicht mehr herausfinden kann. Und fremde Hilfe ist nicht in Sicht: Saint-Loup fühlt sich verpflichtet (wahrscheinlich in Erinnerung an Rahel), einen Kontakt zu Albertine herzustellen; Bloch tritt wie üblich nur ins Fettnäpfchen.


    Ich fand einen Satz, der in "Freuden und Tage" zu finden ist und der passend ist: Durch das Begehren erblüht, durch das Besitzen verwelkt alles.


    Das drückt Marcels Dilemma perfekt aus.


    Viele Grüße
    Manjula

    Hallo Steffi und Maria,



    Manchmal denke ich, dass Albertine gar nicht real ist/sein soll sondern nur ein bestimmtes Gefühl und Gedankenmuster ist, dass sie für etwas anderes steht.


    das klingt auch für mich schlüssig. Wir hatten ja schon in der Leserunde zum letzten Buch festgestellt, dass wir Albertine konsequent nur aus Marcels Sicht dargestellt bekommen. Sie erscheint für mich gar nicht plastisch, eher nur wie eine Projektion des Autors. Sein Leiden ist zwar echt, aber komplett ichbezogen. An keiner Stelle fragt er sich, wie es Albertine gehen mag. Naja, wozu auch, sie ist ja nur zu seinem Wohlgefallen auf der Welt :zwinker:


    Ich lese übrigens die im Suhrkamp Verlag erschienene, von Eva Rechel-Mertens übersetzte Ausgabe (leider ohne Nachwort). An der von Dir, Maria, erwähnten Stelle ist bei mir keine Ergänzung; nach Marcels Überlegung wegen der Jacht und dem Rolls Royce denkt er gleich über eine mögliche Unterstützung durch Madame Bontemps nach. Dafür kommt bei mir einige Seiten später eine Fußnote, in der er über ein Mädchen erzählt, das er sich als Albertine-Ersatz ins Zimmer holt. Die Einfügung macht aber einen merkwürdigen Eindruck, da sie zwischen zwei Sätze eingefügt ist, die sich beide auf das "Unbekannte" in Albertine beziehen und daher eigentlich nicht trennbar sind. Als Originaltitel steht bei mir übrigens "La Fugitive".


    Euch beiden ein schönes Wochenende!
    Manjula

    Hallo Maria und Steffi,


    schön, dass wir wieder bei Proust sind (ich hatte ihn schon vermißt). Leider habe ich mein Buch nicht zur Hand und kann auswendig nichts zur Ausgabe sagen, werde ich aber nachtragen. Wenn wir unterschiedliche Ausgaben lesen, ist der Vergleich sicher interessant.


    Der nahtlose Anschluss an Band 5 gefällt mir, man ist wieder gleich in der Geschichte. Und wie zu erwarten, hat sich Marcels Überzeugung, er könne problemlos auf Albertine verzichten, als Selbsttäuschung erwiesen. Sein Schmerz wird sehr eindrücklich geschildert.


    Dies mal als ersten Eindruck - ich freue mich schon auf die weitere Leserunde mit Euch!


    Viele Grüße
    Manjula