Hallo Steffi und Maria,
da sind wir wohl alle etwa an der selben Stelle. Marcels "Aha-Erlebnis" habe ich nun auch miterlebt und ich fand es wunderbar, eine der berührendsten Szenen dieses Buchs. Vor seinem Besuch im Palais der Guermantes ist er sehr resigniert, da er das Gefühl hat, seine geistigen Fähigkeiten, die ihm ja Bergotte bescheinigt hat, nicht genutzt zu haben, er bezeichnet sie sogar als unfruchtbar. Und dann erlebt er gleich mehrere Offenbarungen: die ungleiche Schwelle, die ihn an Venedig erinnert; das Geräusch des Löffels, das ihm die Zugfahrt durch das Wäldchen ins Gedächtnis ruft; die Beschaffenheit der Serviette, die Balbec zurückruft; und schließlich das Buch, das ihn in die Kindheit zurückversetzt. Er fühlt sich befreit und strömt fast über vor Glück. Proust schildert dieses Erlebnis so eindrücklich, dass es mich völlig mitgerissen hat. Für mich der Höhepunkt der Recherche.
Sehr schön fand ich auch, dass in diesem Zusammenhang wieder an Swanns Gefühle beim Anhören von Vinteuils Thema erinnert wurde (diese Schilderung fand ich damals schon wunderbar). Was Marcel in dieser Szene durch seine Erinnerungen wiedererlebt, ist ja positiv unterlegt; durch die Erwähnung von Swann wird aber deutlich, dass solche durch Sinneseindrücke wieder hervorgerufenen Erinnerungen nicht immer schön sind, sei es weil die Erinnerung an sich unangenehm ist, sei es, weil der Vergleich des damaligen mit dem heutigen Ich quält.
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Ich versuche mal, meine Gedanken dazu niederzuschreiben, denn ich fand es doch etwas kompliziert
Eine sachliche Analyse fällt mir auch schwer, aber ich versuche mal, zu beschreiben, wie ich es verstehe: Der Mensch ist im Ablauf der Zeit gefangen. Die einzige Möglichkeit, sich daraus zu befreien, ist die Erinnerung, allerdings nicht die bewusste (da man hier nur Bilder hervorruft, aber keine Gefühle), sondern die durch Sinneseindrücke hervorgerufene (die den Menschen aus seiner Zeit heraus in die Vergangenheit versetzt). In diesen Augenblicken löst man sich aus seinem heutigen Ich, fühlt man wie sich wie der Mensch, der man damals war, nimmt sich also im wahrsten Sinne des Wortes eine "Auszeit". Da die Zeit ansonsten linear, nicht beeinflussbar abläuft, sind solche "Auszeiten" wiedergefundene Zeiten.
Was ich immer wieder bewundere, sind Sätze wie
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Der Instinkt diktiert die Pflicht, der Verstand aber liefert die Vorwände, um sich ihr zu entziehen.
oder
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Aber der Schnee, der die Champs-Elysées an dem Tag bedeckte, an dem ich in jenem Bande las, ist nie von ihm geschwunden, er liegt für mich immer noch darauf.
die wie beiläufig eingestreut wirken, aber mich lange beschäftigen.
Etwas schmunzeln musste ich, als er über die Vermutung schreibt, die Eisenbahn würde der Kontemplation ein Ende bereiten. Die Erinnerungsszene hatte ich nämlich während einer Bahnfahrt gelesen und dabei fast den Ausstieg verpasst :zwinker:
Viele Grüße und ein schönes Wochenende
Manjula