Beiträge von Manjula

    Hallo zusammen,


    dass Wilhelms Hinwendung zum Handelsgeschäft nicht von Dauer sein sollte, war ja absehbar, und so habe ich inzwischen auch Philine, Mignon und Laertes kennen gelernt. Die Beschreibungen sind wirklich sehr plastisch und machen mir Freude (als Leser! Müsste ich daran teilnehmen, wäre mir das wie thopas zu anstrengend :breitgrins: ). Die Bootsfahrt kam mir entfernt bekannt vor, gab es in "Dichtung und Wahrheit" nicht eine ähnliche Szene?


    Von Mariane hört Wilhelm zufällig auch wieder und merkt, dass er doch nicht ganz über sie hinweg ist. Zum ersten Mal macht er sich auch Gedanken über ihr gemeinsames Kind, das er ja bisher mehr oder weniger verdrängt hatte. Merkwürdig, auch bei der Familie Melina wird deren Kind nicht erwähnt.


    Gut gefallen hat mir auch Laertes Aussage in II,4, er habe


    Zitat

    bemerken können, überall weiß man nur zu verbieten, zu hindern und abzulehnen; selten aber zu gebieten, zu befördern und zu belohnen. Man läßt alles in der Welt gehen, bis es schädlich wird, dann zürnt man und schlägt drein.


    Ein nur zu menschliches Verhalten, treffend beschrieben.


    Schönen Sonntag noch!


    Manjula

    Guten Morgen,


    finsbury, da sind wir gleichauf, ich habe gestern auch das 14. Kapitel beendet. Bis jetzt scheinen mir folgende Themen wichtig: Wilhelms Theaterleidenschaft (die von seiner Familie abgelehnt wird), der Gegensatz zwischen Kunst und Handel (sehr schön der Disput zwischen Wilhelm und Werner) und "verbotene" Liebesbeziehungen. Wilhelm ist ja sehr idealistisch gezeichnet, vielleicht auch ein bißchen träumerisch, sehr handfest sind seine Zukunftsvorstellungen ja nicht:


    Zitat

    Er bildete aus den vielerlei Ideen mit Farben der Liebe ein Gemälde auf Nebelgrund, dessen Gestalten freilich sehr ineinanderflossen; dafür aber auch das Ganze eine desto reizendere Wirkung tat.

    (Ende 9. Kapitel).


    Dass er sich so stark für das junge Liebespaar einsetzt, hat natürlich auch etwas Romantisches. Er scheint auch seine Mariane sehr auf einen Sockel zu stellen, aber nicht wirklich zu sehen (z.B. als er gar nicht merkt, dass sie während seines Monologs einschläft). Von ihrer Seite ist die Liebe auch nicht ganz ungetrübt, mit Norberg und ihrem "kleinen Geheimnis" kann sie nicht so unbeschwert sein. Ihre Barbara rät ihr ja, das Problem ganz pragmatisch zu lösen ("bauernschlau" passt hier wirklich).


    Bis jetzt gefällt mir W.M. sehr gut, an einigen Stellen musste ich auch schmunzeln, z.B. als Wilhelm erzählt, dass er meist nur die 5. Akte (mit Hauen und Stechen) vorgeführt habe, und dass der Reiz der Puppen z.T. auch in ihrem Küchengeruch lag. Ich freue mich aufs Weiterlesen und auf den Austausch mit Euch.


    Viele Grüße
    Manjula

    Hallo finsbury,


    vielen Dank für Deine interessanten Schilderungen, Du machst wirklich Appetit auf chinesische Literatur (von der ich leider nur sehr wenig kenne). In unserer Tageszeitung war neulich eine Kurzrezension zu einer Sammlung von Kurzgeschichten mit dem Titel "Neue Träume aus der Roten Kammer" (s.u.). Klang sehr einladend. Kennst Du das Buch zufällig schon?


    Ich wünsche Dir eine schöne, eindrucksvolle Reise!


    Liebe Grüße
    Manjula


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    Guten Morgen,


    September ist für mich schlecht, weil am 05.09. die Goethe-Leserunde beginnt. Ob wir da bis 01.10. durch sind, weiß ich nicht. Ein späterer Beginn würde dann aber wieder mit Eurer Sue-Leserunde kollidieren. Wäre evtl. auch ein früherer Start (von mir aus ab sofort - ich habe das Buch gestern bei meinen Eltern ausgeliehen) möglich? Sonst müssten wir wohl wirklich auf 2010 ausweichen.


    Viele Grüße
    Manjula

    Hallo Jaqui, hallo Josmar,


    bei einer Leserunde zur "Deutschstunde" wäre ich gerne dabei, weil ich von Lenz schon lange wieder mal etwas lesen wollte. Von mir aus könnten wir entweder relativ zeitnah (bis Ende Juli) oder dann nach der Wilhelm-Meister-Leserunde (November) anfangen.


    Viele Grüße und ein schönes Wochenende
    Manjula

    Hallo Maria,


    das klingt sehr interessant und ist schon auf die Wunschliste gewandert.


    Zitat

    Erst als sein Französisch besser wurde und eine Typhus-Erkrankung ihm die nötige Muße bescherte, konnte er die "Suche nach der verlorenen Zeit" genießen und bewundern.


    Ich stelle es mir merkwürdig vor, dieses Buch als Kranker zu lesen. Andererseits hätte er sich später sicher in sein Krankenbett zurückgewünscht.


    Zitat

    Als Leser ist er ein Amateur, übersetzt heißt das, ja, ein Liebender.


    :smile:


    Viele Grüße und ein schönes Wochenende
    Manjula

    Guten Morgen zusammen,


    Zitat

    von den Rosen her weiß ich, dass damals die Farbbenennung manchmal etwas anders war als heute, gerade was Farbschattierungen betraf. Wer weiß, wie fuchsienrot damals aussah ...


    Ah, das ist interessant. Dass sich solche Bedeutungen auch ändern können, war mir gar nicht bewusst.


    Ich bin nun auch mit dem Buch fertig. Wobei „fertig“ wohl nicht das richtige Wort ist


    Zitat

    Es ist eigentlich ein Kreislauf und kein Ende.


    Dieses Gefühl hatte ich auch, es ist eher ein Kreislauf, da ja das „Ende“ wieder direkt zum Anfang führt. Ein schöner Kunstgriff - und raffiniert, da er den Leser dazu führt, gleich wieder von vorn anzufangen.


    Besonders berührt haben mich auf den letzten Seiten die Ängste des Erzählers, er könne sein Werk aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit nicht vollenden. Wie oft muss Proust selbst diese Gedanken gehabt haben! Das muss wirklich sehr quälend sein.


    Für mich waren die wichtigsten Themen dieses Bands die Gedanken zur Erinnerung und zum Verhältnis Buch – Leser. Zum ersten hatte ich ja schon nach der Szene in der Bibliothek einiges geschrieben; diese Schilderung hat mich so mitgerissen, ich hatte bei ganz vielen Sätzen den Eindruck, hier spricht mir Proust „aus der Seele“, auch wenn ich diese Gedanken nie ganz greifen konnte und schon gar nicht so perfekt hätte ausdrücken können wie er. Auch seine Ausführungen zum zweiten Punkt haben mich sehr angesprochen. Dass ein Buch für jeden Leser etwas anderes ist, dass also keine Deutung für sich in Anspruch nehmen kann, die einzig richtige zu sein, finde ich ungemein erleichternd. Wenn ich bisher meine Eindrücke zu einem Buch mit denen anderer Leser verglichen habe, kam ich immer ins Grübeln: Warum habe ich über diese Stelle einfach weg gelesen, während sie anderen so wichtig erschien? Und warum ist eine Szene, die mich ganz tief angerührt hat, anderen gar nicht aufgefallen? Proust gibt hier Antwort.


    So ganz kann ich meine Gedanken zu der Recherche noch nicht zusammenfassen (insbesondere zum Thema Zeit rumort es noch in mir), aber ich kann sicher sagen, dass dieses Werk für mich eine Art „Lebensbuch“ ist, da es mir so viele Anregungen, Gedankenanstöße und neue Einblicke gegeben hat und künftig auch noch geben wird. An dieser Stelle möchte ich mich auch bei Euch für diese sehr schöne Leserunde bedanken. Ohne Euch wäre mir vieles entgangen, und das gemeinsame Lesen hat mir sehr viel Freude bereitet.


    Viele liebe Grüße
    Manjula

    Hallo zusammen,


    ich bin nun auch kurz vor dem Ende – auf den letzten 100 Seiten werden ja rasant viele Fäden verknüpft, die vorher noch lose erschienen. Proust verwendet ja auch dieses Bild, als er die Verbindungen beschreibt, die zwischen den Guermantes, Saint-Loup, Swann, Gilberte… verlaufen und schließlich in Mademoiselle de Saint-Loup zusammentreffen. Das von Maria gepostete Zitat fand ich auch sehr schön!


    Die Beziehungen und Querverbindungen scheinen übrigens nur Marcel noch bewusst zu sein. Den anderen Teilnehmern der Gesellschaft ist z.B. Swanns Stellung und Herkunft nicht klar. Sogar die Herzogin bringt Vergangenes durcheinander: sie glaubt, Marcel schon länger zu kennen, als das der Fall ist, und meint, ihn mit Swann, nicht aber mit Bréauté bekannt gemacht zu haben. Diese selektive, individuell unterschiedliche Erinnerung beschreibt Proust sehr schön:


    Zitat

    Unser parallel verlaufendes Leben ist wie eine jener Alleen, an denen man in bestimmten Zwischenräumen Blumenvasen symmetrisch, jedoch nicht einander gegenüber, angeordnet findet.


    Zitat

    Unsere Vorstellungen von ihm [dem Namen] sind aber so ungenau und bizarr und entsprechen so wenig denjenigen, die er selbst von uns hat, dass wir vollkommen vergessen haben, wie wir uns um ein Haar mit ihm duelliert hätten, uns aber gleichwohl erinnern, dass er als Kind in den Champs-Elysées seltsame gelbe Gamaschen trug, während er sich trotz allen unseren Versicherungen nicht im Geringsten daran erinnert, in solchen Gamaschen mit uns gespielt zu haben.



    Ähnlich geht es Marcel und der Herzogin, als sie über deren rotes Kleid sprechen; an die Nachricht von Swanns schwerer Krankheit erinnert sich keiner der beiden.


    Eine Folge dieser verlorenen Erinnerungen ist, dass sich niemand an die alte Ordnung und Rangfolge erinnert, was Marcel sogar besser dastehen lässt: er gilt als alter Vertrauter des Adels und nicht als unbedeutender Provinzler.


    Dagegen ist die Umkehrung der alten Ordnung äußerst schmerzhaft für die Berma: alle ziehen die Gesellschaft bei den Guermantes der ihren vor; sogar ihre Tochter und ihr Schwiegersohn gehen heimlich (während sie sich zum Blutspucken zurückgezogen hat!) dorthin und demütigen sich und auch die Berma durch ihr kriecherisches Verhalten gegenüber Rahel (die wiederum ganz nach oben gespült wurde).


    Die gesellschaftliche Stellung ist wirklich nichts Festes: Odette, die ich einige Seiten zuvor schon unwiderruflich auf dem Abstellgleis sah, hat wieder mal einen Liebhaber, der ihr völlig verfallen ist und den sie entsprechend demütigt. Und er, der Herzog von Guermantes, gibt das eins zu eins an seine Gattin weiter. Die Liebe scheint eher ein Gift als eine Himmelsmacht zu sein.


    Sehr schön und treffend fand ich noch die beiden folgenden Zitate:


    Zitat

    Wenn ich eine einfache gesellschaftliche Bekanntschaft oder sogar einen rein stofflichen Gegenstand nach Verlauf einiger Jahre in meiner Erinnerung wieder fand, so stellte ich fest, dass das Leben unaufhörlich neue Fäden darum gewoben hatte, die sie schließlich mit dem schönen, einzigartigen Samt der Jahre weich umkleideten, ähnlich dem, der in alten Parks ein schlichtes Wasserrohr mit einer smaragdenen Hülle umgibt.


    Zitat

    …denn unsere eigenen Irrtümer und Lächerlichkeiten haben selten die Wirkung, uns, sogar nachdem wir sie ganz und gar durchschaut haben, nachsichtiger gegen die der anderen zu stimmen.


    Interessant fand ich auch die nacaratfarbene Robe eines Gastes, lt. Wikipedia soll die Farbe so aussehen: http://en.wiktionary.org/wiki/nacarat. Und daneben wirken Fuchsien blaß? Hm.


    Schöne Grüße
    Manjula

    Du besitzt schon eine kleine Proustbibliothek, oder? Toll. Die Recherche verführt aber auch dazu. Ich besitze sonst keine Sekundärliteratur, habe mir aber das Proustlexikon gekauft, schleiche schon länger um "Paintings in Proust" herum und das von Dir genannte Buch würde mich auch reizen...


    Grüße
    Manjula

    Hallo zusammen und herzlich willkommen Yvonne,


    zu den Kleidern fielen mir spontan auch die beiden von JMaria genannten Szenen ein. Im ersten Band müsste, als Marcel erstmals der Herzogin von Guermantes begegnet, auch eine Beschreibung ihrer Kleidung enthalten sein (das ist mir im Gedächtnis geblieben, weil ich es merkwürdig fand, dass sie eine Krawatte trägt). Über Odettes Kleidung wird sich doch sicher auch etwas finden? Zumindest wissen wir, dass sie bei der Begegnung mit dem Onkel Rosa trug. Ach, und in der "Mädchenblüte" gibt es doch diese Zugfahrt, während derer sich Charlus und Albertine über ihr Kleid unterhalten. Wahrscheinlich fallen einem nach längerem Nachdenken noch viel mehr Stellen ein. Wenn ich neugierig sein darf: sammelst Du das für einen bestimmten Zweck, Yvonne, oder einfach nur so?


    klassikfreund: kaum zu glauben, was es alles an "Sekundärliteratur" zu Proust gibt. Besitzt Du dieses Buch denn?


    Manchmal drängten sich mir beim Lesen Bilder auf, wie die eines Friedhofs, und vor dem Friedhof ein eingegrenztes Terrain in der nur alte Menschen leben, die nicht mehr ausgehen und auf den Tod warten. Ich finde leider die Stelle nicht mehr. Aber dieses Bild geht mir nicht mehr aus dem Kopf.


    Ja, dieses Bild hat sich mir auch eingeprägt. Niederdrückend, vor allem, wenn man bedenkt, wie krank Proust selbst war. Er müsste sich ja dann beim Schreiben auch schon auf dem Friedhofsvorplatz gesehen haben.


    Ich habe gestern die Szene gelesen, in der Marcel Gilberte nicht wieder erkennt. Mir kam es von der Abfolge etwas merkwürdig vor, da er ja einige Seiten zuvor bereits ein Gespräch mit ihr beschrieben hat (in dem er Heiterkeit erregt, als er sich als jungen Mann bezeichnet), da hatte er sie ja offensichtlich erkannt. Ob diese Abfolge wohl so geplant war, oder hatte Proust hier nachträglich etwas umgestellt und nicht mehr komplett korrigiert? Jedenfalls muss sie wohl ihrer Mutter sehr ähnlich geworden sein. Dick kann ich sie mir gar nicht vorstellen, mir steht sie immer als zartes Mädchen vor Augen. Naja, da geht es mir mit den Erinnerungsbildern wie Marcel selbst.


    Viele liebe Grüße
    Manjula

    Guten Morgen,


    meine Lesegeschwindigkeit hat sich der momentanen Gesellschaft von Marcel angepasst, will sagen, ich befinde mich noch immer auf der Soiree. Das ist ja nun eine Szene, die man bei akuter Midlifecrisis nicht lesen sollte; Proust findet ja sehr drastische Worte über die Verwüstungen, die das Alter anrichten kann (Maria hat ja schon ein entsprechendes Zitat gepostet). Wir begegnen Bloch wieder, der sowohl im Aussehen als auch im Namen seine jüdische Herkunft abgelegt zu haben scheint, selbst seine Nase kommt Marcel gerader vor. Auf mich machte er allerdings den Eindruck, als habe er auch seine sonstigen Ecken und Kanten abgeschliffen, er hüpft nicht mehr von einem Fettnäpfchen zum anderen.


    Eine weitere alte Bekannte: Madame Verdurin, die sich offenbar gezielt hochgeheiratet hat. Das bringt die ehrwürdige Gesellschaft natürlich zum Brodeln :zwinker: Proust verwendet hier passenderweise das Wort Kastenwesen. Wobei sich im weiteren Verlauf ja herausstellt, dass die Gesellschaft sowieso tüchtig durcheinander gewirbelt wurde und vielen der Name Guermantes nichts mehr bedeutet.


    Und schließlich - Proust verliert keinen Faden - taucht Odette wieder auf. Mit Paraffin aufgespritzt (verwendete man das nicht auch zur Leichenpräparierung?) sieht sie zwar nicht so gealtert aus wie die anderen Besucher, wirkt aber maskenhaft. Ein Blick in die Zukunft zeigt sie als verwirrte, verlachte Alte (böse hier Marcels Kommentar, dass "denken" ein zu starkes Wort für sie sei). Eine Art ausgleichende Gerechtigkeit: sie, die früher immer so hochnäsig war, wird nun von den anderen verachtet. Zum ersten Mal in ihrem Leben erscheint sie Marcel sympathisch.


    Ich hänge momentan bei Marcels Gespräch mit der jungen Amerikanerin und hoffe, am Wochenende ein Stück weiter zu kommen.


    Viele Grüße
    Manjula

    Hallo Hermeneutiker und herzlich willkommen,


    interessante Frage. Zu der Überschrift fiel mir spontan "Der Mann ohne Eigenschaften" ein, sowie - wenn es auch etwas Nichtklassisches sein darf - "Das Hotel New Hampshire" von John Irving und "Vater unser" von Marilyn French. Wenn ich Dich richtig verstanden habe, geht es Dir aber nicht um Werke, in denen Inzest offen thematisiert wird, sondern eher um verdeckte Anspielungen?



    Jedenfalls: In den alten Mythen, den griechischen Göttersagen wie auch den christlichen Bibelsagen, findet sich unverschlüsselter Inzest. Die Schriften der anderen Religionen werden sicher in nichts nachstehen.


    Das erinnert mich an eine Figur aus einem Roman (von Heinlein?), die in etwa dasselbe sagt und das plastisch darstellt mit den Worten "die nordischen Götter tun Dinge, die kein Nerzzüchter zulassen würde." :zwinker:


    Viele Grüße
    Manjula

    Hallo Ihr beiden,


    die Wechselwirkung Werk - Leser scheint Proust tatsächlich wichtig gewesen zu sein. Den Vergleich mit den verblassten Grabinschriften fand ich sehr passend.


    Die Begegnungen mit alten Freunden (und Feinden :zwinker:) war für Marcel ja wohl sehr erschreckend. Er sieht die anderen extrem gealtert (genial hier der Kunstgriff, dass sie zunächst als verkleidet beschrieben werden). Es wird ihm dann klar, dass nicht nur die anderen, sondern auch er selbst älter geworden ist, was ihm dann auch gleich mehrfach bestätigt wird (der "älteste" Freund, die Unterschrift auf dem Brief des jungen Manns, der Trost, dass ihn aufgrund seines Alters die Grippe nicht erwischen wird...). Sicher wird die Wirkung dadurch verstärkt, dass Marcel lange fern von der Gesellschaft war. Er hat also ihr Altern nicht ständig miterlebt, sondern hatte sie als jung in Erinnerung. Das stelle ich mir in etwa so vor wie ein Klassentreffen nach langer Zeit - man denkt an die anderen immer noch als Schüler. Kann man eigentlich in etwa nachvollziehen, wie alt Marcel jetzt ist? Mir erscheint er immer noch jung. Auch der Leser lässt sich also täuschen.


    Ich habe jetzt noch etwa 150 Seiten zu lesen vor mir.


    Viele Grüße
    Manjula

    Hallo zusammen,


    wie es scheint, war die Erinnerungsszene ein echter Wendepunkt in Marcels Leben: Kann es sein, dass er sein altes Leiden, das ewige Vorsichherschieben, überwunden hat und nun endlich tätig wird? Vorerst macht er sich zwar nur Gedanken über seine Arbeit, aber immerhin. Und diese Gedanken sind mal wieder hochinteressant zu lesen. So stellt er z.B. fest, dass ohne Leiden keine Kunst möglich ist:


    Zitat

    Das Glück ist einzig heilsam für den Leib, die Kräfte des Geistes jedoch bringt der Schmerz zur Entfaltung.


    Über dieses Thema hatten wir ja schon in der Leserunde zum ersten Band diskutiert. Prousts Leben und Werk scheinen diese These ja zu bestätigen. Ob er auch die folgende Feststellung


    Zitat

    Oft schreiben Autoren, in deren Tiefen jene geheimnisvollen Wahrheiten nicht mehr auftauchen, von einem gewissen Alter an nur noch mit dem Verstande, der sich in ihnen machtvoll durchgesetzt hat; die Bücher ihres reiferen Alters weisen daher mehr Kraft als die ihrer Jugend auf, doch ist ihnen der gleiche samtene Anschlag nicht mehr eigen.


    aus eigener Anschauung geschrieben hat? Aus Sicht des Schriftstellers muss eine solche Sichtweise doch deprimierend sein.


    Am schönsten fand ich seine Gedanken über die Leser – jedem seine persönliche Erstausgabe, ist das nicht herrlich? Eigentlich nimmt Proust ja dem Schriftsteller ein bisschen die Deutungshoheit über sein eigenes Werk aus der Hand, wenn er schreibt, dass ein Buch nur ein Art optisches Instrument, ein Spiegel des Lesers sei – das verstehe ich so, dass ein Werk nie DIE EINE Bedeutung hat, sondern unendlich viele, je nach Leser. Vielleicht bemisst sich ja sogar der Wert eines Buchs danach, wie viele Deutungen und Lesarten es zulässt?


    Eine Stelle fand ich noch ganz eindrücklich, und zwar als Marcel von den unzähligen Photonegativen spricht, die oft vom Verstand gar nicht entwickelt werden. Ein wunderbares Bild für die vielen Erinnerungen, die wir unbewusst speichern, um sie irgendwann vielleicht einmal abzurufen.


    Zitat

    die Wartezeit in der Bibliothek der Guermantes ist für den Erzähler und für den Leser ein Rausch an Erinnerungen


    „Ein Rausch von Erinnerungen“ – ja, dieser Ausdruck trifft es sehr gut. Marcel wird ja förmlich überspült davon. Als ich Deinen Beitrag las, JMaria, fiel mir ein, wie ich das Buch anfing: da kamen auch ganz viele Erinnerungen hoch, an die ich schon ewig nicht mehr gedacht hatte. Schon da hatte mich diese Erzählweise also in ihren Bann gezogen und genau das bewirkt, worüber Proust erst einige tausend Seiten später schreibt. Dieses Buch ist wie ein Kaleidoskop.


    Viele liebe Grüße
    Manjula

    Hallo Steffi und Maria,


    da sind wir wohl alle etwa an der selben Stelle. Marcels "Aha-Erlebnis" habe ich nun auch miterlebt und ich fand es wunderbar, eine der berührendsten Szenen dieses Buchs. Vor seinem Besuch im Palais der Guermantes ist er sehr resigniert, da er das Gefühl hat, seine geistigen Fähigkeiten, die ihm ja Bergotte bescheinigt hat, nicht genutzt zu haben, er bezeichnet sie sogar als unfruchtbar. Und dann erlebt er gleich mehrere Offenbarungen: die ungleiche Schwelle, die ihn an Venedig erinnert; das Geräusch des Löffels, das ihm die Zugfahrt durch das Wäldchen ins Gedächtnis ruft; die Beschaffenheit der Serviette, die Balbec zurückruft; und schließlich das Buch, das ihn in die Kindheit zurückversetzt. Er fühlt sich befreit und strömt fast über vor Glück. Proust schildert dieses Erlebnis so eindrücklich, dass es mich völlig mitgerissen hat. Für mich der Höhepunkt der Recherche.


    Sehr schön fand ich auch, dass in diesem Zusammenhang wieder an Swanns Gefühle beim Anhören von Vinteuils Thema erinnert wurde (diese Schilderung fand ich damals schon wunderbar). Was Marcel in dieser Szene durch seine Erinnerungen wiedererlebt, ist ja positiv unterlegt; durch die Erwähnung von Swann wird aber deutlich, dass solche durch Sinneseindrücke wieder hervorgerufenen Erinnerungen nicht immer schön sind, sei es weil die Erinnerung an sich unangenehm ist, sei es, weil der Vergleich des damaligen mit dem heutigen Ich quält.


    Zitat

    Ich versuche mal, meine Gedanken dazu niederzuschreiben, denn ich fand es doch etwas kompliziert


    Eine sachliche Analyse fällt mir auch schwer, aber ich versuche mal, zu beschreiben, wie ich es verstehe: Der Mensch ist im Ablauf der Zeit gefangen. Die einzige Möglichkeit, sich daraus zu befreien, ist die Erinnerung, allerdings nicht die bewusste (da man hier nur Bilder hervorruft, aber keine Gefühle), sondern die durch Sinneseindrücke hervorgerufene (die den Menschen aus seiner Zeit heraus in die Vergangenheit versetzt). In diesen Augenblicken löst man sich aus seinem heutigen Ich, fühlt man wie sich wie der Mensch, der man damals war, nimmt sich also im wahrsten Sinne des Wortes eine "Auszeit". Da die Zeit ansonsten linear, nicht beeinflussbar abläuft, sind solche "Auszeiten" wiedergefundene Zeiten.


    Was ich immer wieder bewundere, sind Sätze wie


    Zitat

    Der Instinkt diktiert die Pflicht, der Verstand aber liefert die Vorwände, um sich ihr zu entziehen.


    oder


    Zitat

    Aber der Schnee, der die Champs-Elysées an dem Tag bedeckte, an dem ich in jenem Bande las, ist nie von ihm geschwunden, er liegt für mich immer noch darauf.


    die wie beiläufig eingestreut wirken, aber mich lange beschäftigen.


    Etwas schmunzeln musste ich, als er über die Vermutung schreibt, die Eisenbahn würde der Kontemplation ein Ende bereiten. Die Erinnerungsszene hatte ich nämlich während einer Bahnfahrt gelesen und dabei fast den Ausstieg verpasst :zwinker:


    Viele Grüße und ein schönes Wochenende
    Manjula