Beiträge von giesbert

    So, ich hab dann mal Ostrowskijs "Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste" gelesen (1872 sagt das Nachwort, 1868 die Wikipedia, der ich da etwas mehr vertraue, das Nachwort scheint mir ein wenig zusammengestoppelt).


    Der junge Glúmow – bislang wohl ein Autor satirisch-bissiger Texte – entschließt, fortan allen Leuten nur noch zu schmeicheln, weil man nur so Erfolg haben könne. Damit er die Dummheiten der anderen ertragen kann, führt er allerdings ein satirisches Tagebuch. Durch seine dreiste Schmeicheltaktik (und tatkräftige Unterstützung seiner Mutter) gelingt es ihm in Rekordzeit, sich bei den wichtigen Leuten beliebt zu machen. Er soll einen einträglichen Posten bekommen, wird der Lieblingsneffe eines schwerreichen Erbonkels, bootet seine Nebenbuhler und Konkurrenten aus und bekommt fast die Hand von Máschenka, die 200.000 Rubel Mitgift zu bieten hat. Es kommt, wie es kommen muss, das Tagebuch wird bekannt – das ist die titelgebende Dummheit, die dem Gescheitesten, Glúmov, unterläuft –, alle sind empört und Glúmow liest ihnen abschließend noch einmal die Leviten. Zum einen könnten Sie ohne ihn, den Schmeichler gar nicht existieren, zum anderen:

    Zitat

    Was hat Sie denn in meinem Tagebuch beleidigt? Was haben Sie denn in meinem Tagebuch gefunden? Sprechen Sie nicht selbst das gleiche einer von dem andern aus, wenn Sie es auch nicht einander ins Gesicht sagen? Gesetzt, ich hätte jedem einzelnen von Ihnen das vorgelesen, was ich über die anderen geschrieben, ein jeder hätte mir Beifall geklatscht.

    Die Figuren sind Schablonen, die Dialoge ganz nett und manchmal auch witzig, das Stück ist auch heute für einen westlichen Leser im Großen und Ganzen zu verstehen.


    Kann man lesen, muss man nicht ;-).

    Ah, thx.


    Gerade wollte ich mir bei Amazon mal rasch einen Überblick verschaffen - es ist eine einzige Katastrophe: englische Titel, italienische Titel, Kindle-Ausgaben: aber die Ausgaben bei Klett-Cotta wurden mir nicht gezeigt. Drecksladen.


    Aber die Lektüre will wolh gut überlegt sein. Hm. Mal vorsichtig auf die Liste setzen …

    Ein paar Bücher in meiner Sammlung sind noch ungelesen.

    Ich hab ja beim ersten Lockdown angefangen, meine Bücher mal zu katalogisieren. Dabei hab ich auch viele Bücher aus dem Genre in die Hand genommen, deren Lektüre mir seinerzeit sehr gut gefallen hat (den genannten Blackwood, z.B.), und ein paar Bände, die ich noch gar nicht gelesen habe (aus DuMonts "Bibliothek des Phantastischen"). Kubin hat mich da jetzt ein wenig auf den Geschmack gebracht - vielleicht lese ich das alles nochmal bzw. erstmals. Und Mervyn Peake kenne ich überhaupt nicht. Das muss geändert werden ;-).

    es ist sehr originell, bildhaft geschrieben und hin und wieder scheint ein grimmiger Humor durch.
    Ich kann mich an vieles erinnern, aber im Moment nicht an das Ende.

    Inzwischen hab ich Kubins "Die andere Seite" wiedergelesen und kann da nur zustimmen ;-).


    Worum geht's? Darum:


    Der namenlose Ich-Erzähler, ein "Zeichner und Illustrator" Mitte 30, verheiratet, der sich "schlecht und recht durchs Leben" schlägt – Ähnlichkeiten mit Kubin dürften beabsichtigt sein ;-) –, erhält Besuch von einem Franz Gautsch. Gautsch stellt sich als Abgesandter von Claus Patera vor, der ein Schulfreund des Ich-Erzählers war.


    Patera ist zu – wortwörtlich – unermesslichem Reichtum gekommen und hat sein eigenes, von der Außenwelt komplett abgeschottetes Reich gegründet, das er "Traumreich" nennt und in das er ausgewählte Personen einlädt, die dort, so klingt es zumindest, von materiellen oder körperlichen Sorgen unbeschwert leben können.


    Alle Gegenstände und Gebäude in diesem Traumreich werden von Leuten wie Gautsch in aller Welt zusammengekauft und im Traumland wieder aufgebaut, wobei ausschließlich Altes gekauft wird, denn "alles Fortschrittliche" ist aus dem Traumreich verbannt. Das Traumreich soll eine "Freistätte für die mit der modernen Kultur Unzufriedenen" sein, auf keinen Fall "eine Utopie, eine Art Zukunftsstaat".


    Der Ich-Erzähler gehört zu den Auserwählten und soll ins Traumreich kommen. Anfangs hält er Gautsch für einen Irrsinnigen, lässt sich aber überzeugen, als der ihm ein Porträt Pateras als Legitimation übergibt, ein Scheck über 100.000 Mark (eine ungeheure Summe!) tut ein übriges. Also machen sich der Erzähler und seine Frau auf die lange, beschwerliche Reise ins Traumreich, das irgendwo im asiatischen Raum angesiedelt und der Außenwelt praktisch unbekannt ist.


    Das Traumreich lässt sich nur durch ein Tor, "ein gewaltiges, schwarzes Loch" betreten. Beim Passieren überkommt den Ich-Erzähler "wie auf einen Schlag ein ganz unbekanntes, gräßliches Gefühl" und seine Frau flüstert: "Nie mehr komme ich da heraus".


    Mit einer Droschke (deren Kutscher aufgeweckt werden muss) kommt man in Perle, der Hauptstadt des Traumreichs an. Dort ist der Erzähler zuerst enttäuscht:

    Zitat

    Neugierig schaute ich auf die Straßen, durch die das schlechte Gefährt klappert. "Das soll Perle, die Hauptstadt des Traumreichs, sein?" – Meine Entrüstung war nur schlecht zu verhehlen. "So sieht es ja bei uns in jedem Drecksnest aus!" sagte ich voll Unlust und Enttäuschung und deutete auf die langweiligen Gebäude.

    Die Enttäuschung legt sich bald. Man mietet eine passende Wohnung und lebt sich allmählich ein. Der Erzähler bekommt bald ein äußerst lukratives Angebot, als Illustrator für eine Zeitung zu arbeiten, Geld hat er im Überfluss, alles scheint etwas seltsam, aber gut und angenehm.


    Auffallend ist, dass das Traumreich zwar ein mildes Klima bietet, aber über dem Land – von dem wir übrigens im Roman lediglich dessen Hauptstadt Perle kennenlernen, der Rest des Landes oder andere Städte und Dörfer werden gelegentlich erwähnt, spielen aber keine Rolle – hängt eine beständige Wolkendecke, die weder die Sonne noch den Mond oder den Sternenhimmel freigibt, es fehlen alle kräftigen Farben oder (auch meteorologische) Kontraste:

    Zitat

    Was in der Heimat in reichen Farben prangte, hier war es gedämpft, matt. Während bei den meisten Landschaften das Blau der Luft, mit dem Gelb des Bodens die Stimmung beherrschen und dazwischen die anderen tönen nur eingesprengt erscheinen, waren hier Grau und Braun vorherrschen. Das Beste, die Buntheit, fehlte. Harmonisch war das Traumland anzusehen, das mußte man zugeben.


    Der Wetteranzeiger stand immer auf "anhaltend trüb und schlecht", doch war eine warme, weiche Luft wie bei unserer Ankunft die Regel. Ähnlich gegensatzlos verhielten sich die Jahreszeiten. Ein fünf Monate langes Frühjahr – fünf Monate Herbst; dauerndes Zwielicht in der Nacht kennzeichneten den kurzen, heißen Sommer, endlose Dämmerungen und ein paar Schneeflocken den Winter.

    Es gibt bald Anzeichen dafür, dass in dem Traumland nicht alles zum Besten steht. Die Bewohner bewegen sich mitunter wie in Trance, sind "im Bann", in dem sie Albträume real durchleben, es gibt seltsame Rituale, bei denen Patera als "der Meister" angebetet wird, die Nachbarn des Erzählers sind eher eigenartig, die Versuche des Erzählers, seinen alten Schulfreund zu besuchen, scheitern in kafkaesken Szenen, der scheinbar lukrative Kontrakt des Erzählers erweist sich als wertlos, denn Geld kommt & geht: Wer auf der einen Seite durch einen Schnäppchenkauf oder eine riskante Spekulation zu Geld gekommen ist, verliert es dann auf seltsame Weise. Die Frau des Erzählers kauft etwa für einen Spottpreis von ein paar Kreuzern auf dem Markt umfangreich ein, gleichzeitig aber hat der Erzähler mehrere Gulden für einen Salzstreuer ausgegeben. Und irgendwann sind auch die 100.000 Mark des Erzählers einfach verschwunden. Ob gestohlen oder sonstwie abhanden gekommen, lässt sich nicht klären.


    Die angstvolle Ahnung seiner Frau erfüllt sich: sie erkrankt, es geht ihr immer schlechter, ein Versuch, zur Kur in die Berge zu fahren – und also Perle zu verlassen – scheitert, die Frau stirbt.


    Das ist ziemlich genau die Hälfte des Romans, die aus den beiden Teile "Der Ruf" und "Perle" besteht. Der letzte, dritte Teil füllt den Rest des Romans und beschreibt den "Untergang des Traumreichs". Der beginnt damit, dass mit Herkules Bell ein mächtiger, massiger Amerikaner mit unerschöpflichen Geldreserven das Traumreich betritt. Bell tritt von Anfang an als Gegenspieler Pateras auf und will ihn stürzen, es kommt zu Tumulten, Straßenschlachten usw.: "Es waren böse Zeiten", resümiert der Erzähler. (Wie Bell überhaupt zu den Auserwählten gehören konnte, die das Traumreich betreten dürfen, bleibt etwas unklar.)


    Das mit rund 80 Seiten bei weitem umfangereichste Kapitel im Teil 3 ist passend "Die Hölle" überschrieben. Hier wird in vielen visionären Bildern der unaufhaltsame Zerfall des Traumreichs beschrieben, der damit beginnt, dass alle Bewohner – bis auf Bell – in einen tagelangen Schlaf fallen. Aufgewacht stellen sie fest, dass die Stadt von den Tieren übernommen wurde, überall lauern wilde Bestien und Gefahren, es gibt Unmassen an Ratten, Schlangen, Würmern, Ameisen, Wanzen etc., alle Gebäude und Gegenstände zerfallen, zerbröseln und lösen sich auf, es gibt origiastische Szene, Totentänze etc. etc. Kubin lässt hier nichts aus.


    Hier gibt es auch den von Zefira erwähnten "grimmigen Humor". Zwei Beispiele.

    Zitat

    Zur Strafe wurde sie [= eine junge Nonne] auf eine eiserne Bettstellte gebunden. Kreaturen, strotzend vor Ungeziefer, mit abgefressenen Nasen, eiterigen Augen, faustgroßen Geschwüren, Kräzeschorf, beugten sich über die Gefesselte, die während dieser Schändung erst wahnsinnig wurde und dann starb. Die übrigen Nonnen unterwarfen sich gehorsam dem unerforschlichen Schicksal; nur der achtzigjährigen Oberin blieb diese Prüfung erspart, wohl infolge ihrer heißen Gebete.

    Oder:

    Zitat

    Lampenbogen wurde mit Hilfe eines Gasrohrs gepfählt. […] Der Wärter legte Feuer an, um die Spuren der Untat zu verwischen. So endete Lampenbogens Existenz als Spießbraten, und zwar als ein schlechter; der obere Teil war größtenteils roh, kaum gebräunt, die Bauchteile dagegen gänzlich verkohlt. Nur an den Seiten war er richtig knusprig.

    Das Traumreich versinkt endgültig im Dreck, es gibt keine Gebäude mehr, es bleibt nur eine Kloake aus Trümmern und Exkrementen.


    Der Ich-Erzähler konnte dem Untergang entkommen, weil er einer Gruppe rätselhafter, mönchsähnlicher Personen in die Berge gefolgt ist (hier kommt es noch zu einem visionären Showdown zwischen Patera und Bell und dem Tod Pateras). Diese Mönche werden als die "Blauäugigen" bezeichnet und sind die Ureinwohner des Landes, das Patera ihnen abgekauft hat. Das Verhältnis der Blauäugegen und Patera ist nicht ganz klar, sie scheinen ihn als Gottheit verehrt zu haben, aber das bleibt etwas offen. Diese Blauäugigen sind die Bewohner der Vorstadt, die von den Übrigen gemieden wird. Der Erzähler macht einmal einen Abstecher dorthin und beschreibt die Vorstadt als einen Ort, dessen Bewohner völlig regungs- und emotionslos Dinge betrachten (Assoziationen à la Meditation, Buddhismus, Trance, Nirvana etc. stellen sich das zwangslos ein).


    Am Schluss stellt sich der Ich-Erzähler noch die Frage, wessen Traum man da geträumt habe – war man in Pateras Traum gefangen, oder war Patera nur die Marionette der Blauäugigen? Die Frage bleibt offen.


    Der kurze, eineinhalbseitiger Epilog, in dem der Ich-Erzähler kurz seinen Taumel zwischen Todessehnsucht und Lebenslust beschreibt, endet mit diesem Absatz:

    Zitat

    Die wirkliche Hölle liegt darin, daß sich dies widersprechende Doppelspiel in uns fortsetzt. Die Liebe selbst hat einen Schwerpunkt "zwischen Kloaken und Latrinen". Erhabene Situationen können der Lächerlichkeit, dem Hohne, der Ironie verfallen


    Der Demiurg ist ein Zwitter.

    Tja.


    Was macht man damit? Keine Ahnung ;-). Sollte man das lesen? Unbedingt! Es ist wirklich schade, dass Kubin nur diesen einen Roman geschrieben hat.

    Mach mal und erzähl dann davon.

    Ich hab mir "Die andere Seite" mal zurecht gelegt und auch schon mal die ersten paar Seiten gelesen. Ich kann zwar noch nichts erzählen ;-), aber bei Youtube gibt es die Verfilmung von Johannes Schaaf (mit engl. Untertiteln). Den dt. Trailer gibt's auch – und der lässt fürchterliches ahnen: den Film werd ich mir wohl nicht ansehen, das wirkt schon alles sehr gewollt und mit großem "ich mach jetzt Kunst"-Gestus gedreht.

    Ich denke immer noch, dass "Schuld und Sühne" passender für den am Transzendenten sich abarbeitenden Dostojevskij ist als der neutrale andere Titel, der eher dem weltlicheren Zeitgeist von heute geschuldet ist.

    je nun - "von heute": Im Englischen wurde der Titel immer mit "Crime and Punishment" übersetzt. Und Swetlana Geier wirkte in ihren Interviews auf mich eher auch nicht so, als liefe sie da irgendwelchen Zeitgeistern hinterher ;-). Falls man automatischen Übersetzungsprogrammen (Google, Deepl) glauben darf, lautet der Titel "Преступление и наказание" auch schlicht: Verbrechen und Strafe. "Schuld und Sühne" ist dann bereits Interpretation, die nach der Lektüre des Romans kommt und nicht auf dem Titel bereits vorgegeben werden sollte. "Schuld und Sühne" lenkt den Lesefluss von Anfang an in eine ganz bestimmte Richtung – etwas, was der Originaltitel anscheinend genau nicht tut. Gut möglich, dass der Roman so verstanden werden möchte: Aber das ist dann Aufgabe des Lesers, die einem der Übersetzer nicht abnehmen kann (und es auch nicht tun sollte).

    Bei der großen Poe-Ausgabe aus dem Walter-Verlag sollte Hans Wollschläger die Gedichte übersetzen, das hat er aber nach den ersten Versuchen wieder abgegeben wollen, dann war HC Artmann als Übersetzer im Gespräch, aber daraus wurde dann doch nichts: "Die Gedichte werd’ ich jetzt doch übernehmen, da Herr Artmann »unzuverlässig« sei (Müller) –: mit dem Großen PS (= Peregrinus Syntax) wird das Wägelchen schon hurtig laufen" schreibt Wollschläger am 16.11.1966 an Arno Schmidt.


    Inzwischen hab ich das nächste Stück meiner Liste gelesen: Oscar Wilde, ›Lady Windermeres Fächer‹. Das war seine erste Gesellschaftskomödie und seinerzeit ein sehr großer Erfolg. Hätte ich das als erstes Stück gelesen, hätte ich wohl kaum Lust verspürt, mehr Stücke von Wilde zu lesen. Ja, es ist witzig, ja, es gibt ein amüsante Szenen, ja, es gibt satirische Karikaturen der Londoner Gesellschaft (die mir allerdings ziemlich zeitgebunden scheinen), ja, die Dialoge sind teilweise brillant – aber die Komödie kann jeden Augenblick in die Tragödie abkippen, das Pathos mancher Figurenrede ist durchaus ernst gemeint (und wenn nicht, ist es trotzdem da), was dazu führt, dass das Stück eher zum Melodrama mit amüsanten Passagen und plötzlichem Happy End wird. Es ist meilenweit von ›Ernst und seine tiefere Bedeutung‹ entfernt – aber es ist vielleicht ungerecht, Wildes andere Stück an diesem Geniestreich zu messen.


    Dazu ein passende Zitat aus dem Nachwort des Übersetzers Bernd Eilert:

    Zitat

    Bestimmt wird uns der Zugang zu diesen Komödien erschwert durch fehlendes Verständnis für die Moral, die hier bekämpft, wie für die, die hier gepredigt wird. Wilde wußte um die Infamie puritanischer Morallehren, und indem er die Folgen ihrer Befolgung vorführte, zeigt er beiläufig, wie doppeldeutig und zweischneidig sie wirken könnten. Die Provokation, die in dieser Enthüllung lag, ist heute nur mehr schwer nachvollziehbar. Und so besteht die Gefahr, daß ihre Zeitgebundenheit den Stücken schaden könnte, zumindest wenn man sie in ihrer Bedeutung so ernst nimmt, wie sie wohl gemeint waren; das gilt zumindest für drei der vier Stücke. Ausgerechnet The Importance of Being Earnest macht hier die großartige Ausnahme, da es diesen Ernst uns seine tiefere Bedeutung selbs genüßlich parodiert.

    Den Pym hab ich vor zwei, drei Jahren mal wieder gelesen - und fand ihn fürchterlich ;-). Fängt mit Katastrophen an und steigert sich … Aber noch schlimmer ist Jules Vernes Fortsetzung "Die Eissphinx" - gediegene Langeweile. Ich weiß gar nicht, warum ich das bis zum Ende durchgehalten habe. Berge des Wahnsinns habe ich dagegen in sehr guter Erinnerung, aber da bin ich vorsichtig - Lovecraft habe ich so mit 17, 18 verschlungen. Ob ich dem heute noch etwas abgewinnen würde, möchte ich lieber nicht ausprobieren.

    wie könnte er sonst erzählen

    Das Problem könnte über eine Tagebuch-/Notizen-Fiktion gelöst werden (mir fallen da jetzt natürlich nur zwei frühe Texte von Arno Schmidt ein: Leviathan und Enthymesis). – Die Liste der "müsste ich mal wieder lesen"-Bücher wird auch immer länger. Seufz.


    Nachtrag: ich hab den Band mal aus dem Regal genommen, ist eine rd. 45 Jahre alte Bertelsmann-Ausgabe (auf Schaafs Verfilmung von 1973 wird auf dem Umschlag verwiesen, ungefähr aus der Zeit dürfte das sein) und entsprechend schmuddlig. Hm. Aber hat nur 250 Seiten, das könnte ich in der Tat mal einschieben.

    Aber ich such noch eine ganz bestimmte Stelle bei Nestroy, wo es in einem Monolog um winken/gewunkt/gewinkt geht – vielleicht les ich doch mehr und find die Stelle mit etwas Glück wieder …

    Ha, wie der Zufall es wollte, brauchte ich nach Strindberg mal was anderes und habe Nestroys ›Einen Jux will er sich machen‹ (1842) gelesen. Und was lese ich da zu Beginn des 2. Aufzugs? Genau, das hier:

    Zitat

    WEINBERL. O Freund in die öden Gasseln erlebt man allerhand, das is ja grad das Abenteuerliche. Wie oft hab' ich gelesen in die Bücher: »Er befand sich ohne zu wissen wie, in einem engen abgelegenen Gäßchen, plötzlich gewahrt er an der Ecke einen Mann in einen Mantel, ihm war's als ob er ihm gewunken – an der andern Ecke sieht er auch einen Mann, ihm deucht als hätt' er ihm gewinkt, unentschlossen steht er da, er weiß nicht, soll er dem folgen, der ihm gewinkt, oder dem, der ihm gewunken – da öffnen sich plötzlich die Fenster –«

    Ok, es kam nicht in in einem Monolog vor, aber immerhin ;-).


    Ansonsten hat mich meine jetzt rd. 35 Jahre zurückliegende Erinnerung an meine damalige Nestroy-Lektüre nicht getäuscht – er ist wirklich ziemlich komisch. Die Nestroy-typischen satirischer Sottisen sind hier eher selten, aber der ›Jux‹ bietet eine turbulente Handlung mit viel Situationskomik, gegen Ende hat er's dann allerdings sehr eilig, alle Verwirrungen aufzulösen.


    Das Stück war zu Nestroys Lebzeiten neben dem ›Lumpazivagabunds‹ sein erfolgreichstes Stück und auch nach seinem Tod erstaunlich wirkmächtig. Nestroy bearbeitete die Komödie ›A Day well spent‹ (1835) von John Oxenford (der mir gar nichts sagt, seufz, man kennt einfach immer viel zu wenig), die zwar die Grundkonstellation bietet, aber ansonsten recht schematisch sein soll. Nestroy Stück wurde dann von Thornton Wilder 1938 als ›The Merchant of Yonkers‹ bearbeitet, das er 1954 erneut als ›The Matchmaker‹ überarbeitete – und das wiederum war die Vorlage für das Musical ›Hello, Dolly!‹. Und der engl. Wikipedia entnehme ich, dass Tom Stoppard das Stück 1981 als ›On the Razzle‹ übersetzt hat (und dass außer dem ›Jux‹ sein Werkt im angelsächsischen Sprachraum eher unbekannt ist).

    Och, lesen kann man das schon, das liest sich auch unkompliziert weg. Ich frag mich nur, warum man das tun sollte ;-). Die Stücke sind sicherlich für die historische Entwicklung wichtig, und sie dürften für einiges Aufsehen wo nicht Skandale gesorgt haben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachte Strindberg wohl einen völlig neuen Ton auf die Bühne – aber heute? Ich weiß ja nicht. Das ist IMHO alles sehr muffig geworden.


    Ich hab noch "Ostern" von ihm auf meiner Liste, aber das lese ich frühstens zu Ostern ;-). Falls ich das nicht überhaupt austausche. Na, man wird sehen.

    Strindbergs ›Pelikan‹ (1908) hab ich dann doch noch rasch gelesen, das ist auch nur ein kurzer 3-Akter, den hat man in einer Stunde gelesen – und das ist schon fast das Beste, was ich über das Stück zu sagen weiß ;-). Es ist halt das übliche: Das Bürgertum ist durch und durch verlogen, alle Lebenszusammenhänge sind pervertiert, alles ist lebensverhindernd, das Personal ist lebensunfähig usw. – Der Titel ist eine Anspielung auf die bekannte frühchristliche Ikonographie: Der Pelikan füttert seine Jungen mit seinem eigenen Blut. Das bezieht sich im Stück auf die Mutter, die natürlich genau das nicht, sondern das glatte Gegenteil tut: sie lebt, in jeder nur denkbaren Bedeutung, auf Kosten ihrer Kinder. – Es ist ermüdend platt und mit dem Holzhammer geschrieben. Vielleicht bin ich mit knapp 60 auch einfach zu alt für solche Stücke, ich könnte mir vorstellen, dass sie mich in jungen Jahren vielleicht beeindruckt hätten.

    ich besitze die Bücher schon seit meinen Studienzeiten,

    Meine Strindberg-Büchlein sind allesamt von Reclam. Die hab ich vor rund 40 Jahren mal günstig aus einer Grabbelkiste gefischt. Und jetzt lese ich sie. (Oder auch nicht, ich zögere nach der ›Gespenstersonate‹ doch ein wenig - was soll mir das? Sicherlich alles wichtig, alles einflussreich - aber auch alles sehr angestaubt. Na, mal sehen.)

    Ich hab dann noch Strindbergs ›Gespenstersonate‹ eingeschoben, das 3-aktige Kammerspiel ist ja sehr kurz. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich schon mal was von Strindberg gelesen habe (und ich bin mir nicht sicher, ob ich noch mehr von ihm lesen möchte, aber es stehen noch zwei Stücke von ihm auf meiner Liste …).


    Die ›Gespenstersonate‹ gilt wohl als Meilenstein des modernen Theaters und ich kann mir gut vorstellen, dass sie 1907 für Aufsehen gesorgt hat (was nicht heißt, dass sie erfolgreich war …). Alles schwerstsymbolisch mit grotesken bzw. absurden Zügen – und imho alles sehr in die Jahre gekommen. Keine Person im Stück ist die, die sie zu sein scheint, bis auf den "Studenten", der mit der nunja Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft konfrontiert wird. Es gibt zwar eine Art Handlung, aber um die geht es nicht, da entwickelt sich auch nichts, das ist alles ziemlich statisch und die einzelnen Situationen dienen anscheinend nur dazu, dass sich die Personen (die zwar im Stück Namen tragen, im Theaterzettel aber nur als Typen auftauchen: Der Alte, das Mädchen, der Student, der Oberst, der Tote, die Mumie …) allerlei um die Ohren hauen. Dh - "hauen" ist schon viel zu engagiert, die reden eigentlich alle eher sehr schlaff vor sich hin, ihr Leben entpuppt sich als Lüge, die Herrschaften sind die Gefangenen ihrer Bediensteten usw. Es ist alles dabei: Betrug, Mord, Selbstmord, Tod, Vergewaltigung etc. etc. Die verschiedenen Verbrechen und Lügen kommen so nach und nach raus, dann legen sich die Figuren hin und sterben, was als völlig normal hingenommen wird. Wir lernen: Das Leben der Bürger ist durch und durch auf Lügen aufgebaut und von "Leben" kann man da gar nicht reden, das sind alles nur Gespenster, Gefangene, Getriebene, alles hoffnungslos -- naja, und so weiter halt.


    Ich weiß nicht, wie das heute inszeniert wird (das Stück gehört wohl zum Repertoire), aber ich fürchte, ich würde angesichts des völlig abstrusten Geschehens mir ein Lachen nicht verkneifen können. Und dass man heute noch mit dem gut abgehangenen Ladenhüter "Lebenslüge!" irgendwas reißen kann, glaube ich nicht.


    (Robert Gernhardts Gedicht ›Ein Sonntagnachmittag bei Strindbergs‹ trifft's eigentlich ganz gut …)

    Als ich anfing im Buchhandel zu arbeiten, war der Verlag gerade sehr en vogue.

    Der ist ja auch ziemlich fulminant gestartet, brachte mit seinen Prospekten einen frischen Tonfall, war um vollmundige Ankündigungen nie verlegen und hatte auch ein paar tolle und sehr schön gestaltete Bücher im Programm. Aber das hat sich dann ja gegeben. Inzwischen ist Haffmans ja bei Zweitausendeins aktiv, mit sehr ähnlichem Auftreten und ähnlichem Programm (das ein wenig danach aussieht, als habe Haffmans geschaut, an was er denn noch die Rechte hat, um es dann neu aufzulegen). Neben dem üblichen Zeugt hat er da ja auch den kompletten Pepys und die Brüder Goncourt in schönen Ausgaben rausgebracht (die ich mir nach einigen Zögern dann auch tatsächlich geleistet habe, weiß der Geier, wann ich dazu kommen werde, das auch zu lesen).