es ist sehr originell, bildhaft geschrieben und hin und wieder scheint ein grimmiger Humor durch.
Ich kann mich an vieles erinnern, aber im Moment nicht an das Ende.
Inzwischen hab ich Kubins "Die andere Seite" wiedergelesen und kann da nur zustimmen ;-).
Worum geht's? Darum:
Der namenlose Ich-Erzähler, ein "Zeichner und Illustrator" Mitte 30, verheiratet, der sich "schlecht und recht durchs Leben" schlägt – Ähnlichkeiten mit Kubin dürften beabsichtigt sein
–, erhält Besuch von einem Franz Gautsch. Gautsch stellt sich als Abgesandter von Claus Patera vor, der ein Schulfreund des Ich-Erzählers war.
Patera ist zu – wortwörtlich – unermesslichem Reichtum gekommen und hat sein eigenes, von der Außenwelt komplett abgeschottetes Reich gegründet, das er "Traumreich" nennt und in das er ausgewählte Personen einlädt, die dort, so klingt es zumindest, von materiellen oder körperlichen Sorgen unbeschwert leben können.
Alle Gegenstände und Gebäude in diesem Traumreich werden von Leuten wie Gautsch in aller Welt zusammengekauft und im Traumland wieder aufgebaut, wobei ausschließlich Altes gekauft wird, denn "alles Fortschrittliche" ist aus dem Traumreich verbannt. Das Traumreich soll eine "Freistätte für die mit der modernen Kultur Unzufriedenen" sein, auf keinen Fall "eine Utopie, eine Art Zukunftsstaat".
Der Ich-Erzähler gehört zu den Auserwählten und soll ins Traumreich kommen. Anfangs hält er Gautsch für einen Irrsinnigen, lässt sich aber überzeugen, als der ihm ein Porträt Pateras als Legitimation übergibt, ein Scheck über 100.000 Mark (eine ungeheure Summe!) tut ein übriges. Also machen sich der Erzähler und seine Frau auf die lange, beschwerliche Reise ins Traumreich, das irgendwo im asiatischen Raum angesiedelt und der Außenwelt praktisch unbekannt ist.
Das Traumreich lässt sich nur durch ein Tor, "ein gewaltiges, schwarzes Loch" betreten. Beim Passieren überkommt den Ich-Erzähler "wie auf einen Schlag ein ganz unbekanntes, gräßliches Gefühl" und seine Frau flüstert: "Nie mehr komme ich da heraus".
Mit einer Droschke (deren Kutscher aufgeweckt werden muss) kommt man in Perle, der Hauptstadt des Traumreichs an. Dort ist der Erzähler zuerst enttäuscht:
Zitat
Neugierig schaute ich auf die Straßen, durch die das schlechte Gefährt klappert. "Das soll Perle, die Hauptstadt des Traumreichs, sein?" – Meine Entrüstung war nur schlecht zu verhehlen. "So sieht es ja bei uns in jedem Drecksnest aus!" sagte ich voll Unlust und Enttäuschung und deutete auf die langweiligen Gebäude.
Die Enttäuschung legt sich bald. Man mietet eine passende Wohnung und lebt sich allmählich ein. Der Erzähler bekommt bald ein äußerst lukratives Angebot, als Illustrator für eine Zeitung zu arbeiten, Geld hat er im Überfluss, alles scheint etwas seltsam, aber gut und angenehm.
Auffallend ist, dass das Traumreich zwar ein mildes Klima bietet, aber über dem Land – von dem wir übrigens im Roman lediglich dessen Hauptstadt Perle kennenlernen, der Rest des Landes oder andere Städte und Dörfer werden gelegentlich erwähnt, spielen aber keine Rolle – hängt eine beständige Wolkendecke, die weder die Sonne noch den Mond oder den Sternenhimmel freigibt, es fehlen alle kräftigen Farben oder (auch meteorologische) Kontraste:
Zitat
Was in der Heimat in reichen Farben prangte, hier war es gedämpft, matt. Während bei den meisten Landschaften das Blau der Luft, mit dem Gelb des Bodens die Stimmung beherrschen und dazwischen die anderen tönen nur eingesprengt erscheinen, waren hier Grau und Braun vorherrschen. Das Beste, die Buntheit, fehlte. Harmonisch war das Traumland anzusehen, das mußte man zugeben.
Der Wetteranzeiger stand immer auf "anhaltend trüb und schlecht", doch war eine warme, weiche Luft wie bei unserer Ankunft die Regel. Ähnlich gegensatzlos verhielten sich die Jahreszeiten. Ein fünf Monate langes Frühjahr – fünf Monate Herbst; dauerndes Zwielicht in der Nacht kennzeichneten den kurzen, heißen Sommer, endlose Dämmerungen und ein paar Schneeflocken den Winter.
Es gibt bald Anzeichen dafür, dass in dem Traumland nicht alles zum Besten steht. Die Bewohner bewegen sich mitunter wie in Trance, sind "im Bann", in dem sie Albträume real durchleben, es gibt seltsame Rituale, bei denen Patera als "der Meister" angebetet wird, die Nachbarn des Erzählers sind eher eigenartig, die Versuche des Erzählers, seinen alten Schulfreund zu besuchen, scheitern in kafkaesken Szenen, der scheinbar lukrative Kontrakt des Erzählers erweist sich als wertlos, denn Geld kommt & geht: Wer auf der einen Seite durch einen Schnäppchenkauf oder eine riskante Spekulation zu Geld gekommen ist, verliert es dann auf seltsame Weise. Die Frau des Erzählers kauft etwa für einen Spottpreis von ein paar Kreuzern auf dem Markt umfangreich ein, gleichzeitig aber hat der Erzähler mehrere Gulden für einen Salzstreuer ausgegeben. Und irgendwann sind auch die 100.000 Mark des Erzählers einfach verschwunden. Ob gestohlen oder sonstwie abhanden gekommen, lässt sich nicht klären.
Die angstvolle Ahnung seiner Frau erfüllt sich: sie erkrankt, es geht ihr immer schlechter, ein Versuch, zur Kur in die Berge zu fahren – und also Perle zu verlassen – scheitert, die Frau stirbt.
Das ist ziemlich genau die Hälfte des Romans, die aus den beiden Teile "Der Ruf" und "Perle" besteht. Der letzte, dritte Teil füllt den Rest des Romans und beschreibt den "Untergang des Traumreichs". Der beginnt damit, dass mit Herkules Bell ein mächtiger, massiger Amerikaner mit unerschöpflichen Geldreserven das Traumreich betritt. Bell tritt von Anfang an als Gegenspieler Pateras auf und will ihn stürzen, es kommt zu Tumulten, Straßenschlachten usw.: "Es waren böse Zeiten", resümiert der Erzähler. (Wie Bell überhaupt zu den Auserwählten gehören konnte, die das Traumreich betreten dürfen, bleibt etwas unklar.)
Das mit rund 80 Seiten bei weitem umfangereichste Kapitel im Teil 3 ist passend "Die Hölle" überschrieben. Hier wird in vielen visionären Bildern der unaufhaltsame Zerfall des Traumreichs beschrieben, der damit beginnt, dass alle Bewohner – bis auf Bell – in einen tagelangen Schlaf fallen. Aufgewacht stellen sie fest, dass die Stadt von den Tieren übernommen wurde, überall lauern wilde Bestien und Gefahren, es gibt Unmassen an Ratten, Schlangen, Würmern, Ameisen, Wanzen etc., alle Gebäude und Gegenstände zerfallen, zerbröseln und lösen sich auf, es gibt origiastische Szene, Totentänze etc. etc. Kubin lässt hier nichts aus.
Hier gibt es auch den von Zefira erwähnten "grimmigen Humor". Zwei Beispiele.
Zitat
Zur Strafe wurde sie [= eine junge Nonne] auf eine eiserne Bettstellte gebunden. Kreaturen, strotzend vor Ungeziefer, mit abgefressenen Nasen, eiterigen Augen, faustgroßen Geschwüren, Kräzeschorf, beugten sich über die Gefesselte, die während dieser Schändung erst wahnsinnig wurde und dann starb. Die übrigen Nonnen unterwarfen sich gehorsam dem unerforschlichen Schicksal; nur der achtzigjährigen Oberin blieb diese Prüfung erspart, wohl infolge ihrer heißen Gebete.
Oder:
Zitat
Lampenbogen wurde mit Hilfe eines Gasrohrs gepfählt. […] Der Wärter legte Feuer an, um die Spuren der Untat zu verwischen. So endete Lampenbogens Existenz als Spießbraten, und zwar als ein schlechter; der obere Teil war größtenteils roh, kaum gebräunt, die Bauchteile dagegen gänzlich verkohlt. Nur an den Seiten war er richtig knusprig.
Das Traumreich versinkt endgültig im Dreck, es gibt keine Gebäude mehr, es bleibt nur eine Kloake aus Trümmern und Exkrementen.
Der Ich-Erzähler konnte dem Untergang entkommen, weil er einer Gruppe rätselhafter, mönchsähnlicher Personen in die Berge gefolgt ist (hier kommt es noch zu einem visionären Showdown zwischen Patera und Bell und dem Tod Pateras). Diese Mönche werden als die "Blauäugigen" bezeichnet und sind die Ureinwohner des Landes, das Patera ihnen abgekauft hat. Das Verhältnis der Blauäugegen und Patera ist nicht ganz klar, sie scheinen ihn als Gottheit verehrt zu haben, aber das bleibt etwas offen. Diese Blauäugigen sind die Bewohner der Vorstadt, die von den Übrigen gemieden wird. Der Erzähler macht einmal einen Abstecher dorthin und beschreibt die Vorstadt als einen Ort, dessen Bewohner völlig regungs- und emotionslos Dinge betrachten (Assoziationen à la Meditation, Buddhismus, Trance, Nirvana etc. stellen sich das zwangslos ein).
Am Schluss stellt sich der Ich-Erzähler noch die Frage, wessen Traum man da geträumt habe – war man in Pateras Traum gefangen, oder war Patera nur die Marionette der Blauäugigen? Die Frage bleibt offen.
Der kurze, eineinhalbseitiger Epilog, in dem der Ich-Erzähler kurz seinen Taumel zwischen Todessehnsucht und Lebenslust beschreibt, endet mit diesem Absatz:
Zitat
Die wirkliche Hölle liegt darin, daß sich dies widersprechende Doppelspiel in uns fortsetzt. Die Liebe selbst hat einen Schwerpunkt "zwischen Kloaken und Latrinen". Erhabene Situationen können der Lächerlichkeit, dem Hohne, der Ironie verfallen
Der Demiurg ist ein Zwitter.
Tja.
Was macht man damit? Keine Ahnung ;-). Sollte man das lesen? Unbedingt! Es ist wirklich schade, dass Kubin nur diesen einen Roman geschrieben hat.