Ich habe mir zur Erholung nach dem fürchterlichen Meyern übrigens einen englischen Zeitgenossen zurecht gelegt: James Boswell, "Dr. Samuel Johnson. Leben und Meinungen". Das steht fast so lange ungelesen im Regal wie "Dya-Na-Sore", ist aber wohl sehr viel unterhaltsamer ;-). (Ich hab noch nicht begonnen, aber nur Gutes darüber gehört/gelesen.)
Beiträge von giesbert
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Was für eine Bedeutung haben eigentlich die merkwürdigen Eigennamen der Personen? "Mioldaa" scheint ja ein Mann zu sein. Ist das sein Vor- oder sein Nachname?
Das wird nie erklärt und ist einer der vielen Stolpersteine bei der Lektüre. Die Namen tauchen einfach aus dem Nichts auf, wenn jemand redet und wer und was da nun ist, muss man sich erschließen (das sind wohl auch alles Vornamen). Bei den Dialogen setzt Meyern dann einfach den Anfangsbuchstaben vor den Beginn der Rede. Da kann dann dann urplötzlich ein "E." stehen, ohne dass man weiß, wer oder was damit gemeint ist, manchmal schiebt er die Erklärung nach, etwa: "DIN. Ich bewundere dich, sagte Dinandaar …". Ich habe jetzt beim Rumblättern gesehen, dass doch noch Frauen als redende Personen auftauchen, aber nur sehr am Rand.
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Braucht man nicht wirklich ...
Tja. Anfangs dachte ich noch, ok, Meyern lässt verschiedene Personen verschiedene Ideale vertreten, daher auch die ganzen Dialoge. Aber dem ist nicht so, das ist alles ernst gemeint und die Gegenpositionen zum Männlichkeitswahn werden nur angeführt, um ihre verweichlichte Verderbtheit zu illustrieren. Es wird übrigens nie wirklich erklärt, worin denn die "Größe" besteht, die da von Dya dauernd beschworen wird.
Meatoa ist (zumindest im ersten Teil) übrigens die einzige Frau, die einen Namen und Dialog bekommt, die anderen Frauen tauchen da nur als äh schmückendes Beiwerk im Hintergrund auf, als Dienerin, Schwester, Ehefrau, die sich um die Kinder kümmert. Und ausgerechnet diese eine Frau hadert damit, dass sie eine Frau ist. Es ist wirklich von exquisiter Widerlichkeit. Der ganze Roman scheint mir eher ein psychopathologisches Dokument zu sein. Interessant vor allem als Zeugnis einer um 1800 rezenten Gemütslage, die dann mehr oder weniger direkt in den Faschismus mündet.
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Am besten an "Dya-Na-Sore" ist das kenntnisreiche und ironische Nachwort von Günter de Bruyn. Der versucht zwar das Buch im historischen Kontext zumindest ein klein wenig zu retten und attestiert dem Autor Meyern durchaus politische Weitsicht, da er die zeitgenössischen Entwicklungen vorausschauend beschreibt, bevor sie realiter statt gefunden haben, aber das hilft alles nichts: Der Roman ist wohl auch für de Bruyn ein militaristisches, misogynes Machwerk und sein Nachwort liest sich ein wenig so, als würde sich de Bruyn an Meyeren dafür rächen wollen, dass er, für den Vergleich zwischen 1. und 2. Auflage, gleich zwei Fassungen dieses unsäglichen Romans durcharbeiten musste
Ich hab ja ein wenig gezögert, ob ich nicht vielleicht doch nach dem ersten Teil weiterlesen sollte (zumal das, was an Handlung vorhanden ist, sich wohl erst in Teil 2 und Teil 3 entfaltet), aber diese Idee nach der Lektüre des Nachworts aufgegeben. Eine kleine Blütenlese aus dem Nachwort:
… die Einsicht des Verfasser, daß so kein dauerhafter Staat zu machen ist – schon deshalb nicht, weil seine Berufsrevolutionäre aus Frauenverachtung ihre Fortpflanzung versäumen.
…
Die Helden-Verehrung in 'Dya-Na-Sore' ist Männer-Verehrung, die immer verbunden wird mit Schmähung der Frauen. Wie Ausbruch von Rassenhaß könnte einen dieser revolutionär maskierte, durch Homoerotisches verstärkte Männlichkeitswahn erschrecken, wenn er in seiner Unkontrolliertheit nicht so schrecklich komisch wäre
…
[zur 2. Auflage] … Besser hat er mit dieser Umarbeitung den Roman nicht gemacht, nur länger. Aus drei wurden fünf Bände, aus 1500 Seiten 2400. … nur eben um 900 langweilige Seiten vermehrt …
…
Da die alte … Mischform von Autor-Erzählung, pseudo-dramatischem Dialog und eingestreuten Ich-Berichten anderer Personen beibehalten wird, vergrößern sich mit dem erzählenden Ich nur die Lese-Schwierigkeiten. Denn der Ich-Erzähler läßt doch sieben andere Ich-Erzähler auftreten, die wiederum ich-sagende Personen agieren lassen. Die schon in der ersten Fassung oft nicht klaren Perspektiven werden so noch mehr verwirrt.
…
Daß Meyern seine Personen nun besser ordnet, wichtige eher auftreten läßt, hilft wenig, da ihre Charakterisierung genau so primitiv oder nicht vorhanden ist wie vorher.
…
Die sprachliche Heroen-Geste wird nicht gemildert, die Unerträglichkeit der Dialoge noch verlängert.
Vielleicht noch kurz etwas zu den "oft nicht klaren Perspektiven", die de Bruyn anspricht: Das ist auch so ein Punkt, der die Lektüre nicht gerade erleichtert, ich hab ca. 40 Seiten gebraucht, um da reinzufinden. Aus Meyern scheint der Roman gewissermaßen "hervorgebrochen" zu sein, das schwallt und quillt über die Seiten und nur gelegentlich streut der Autor ein, wer da eigentlich gerade zu wem redet oder was da überhaupt los ist. Dass etwa vier Brüder gemeinsam aufbrechen muss man sich erschließen (warum sie das überhaupt tun, wird im ersten Band nicht erklärt), und die Titelfigur Dya taucht völlig unvermittelt als redende Person auf. Das Zitat hab ich gerade gesucht und bin dann prompt wieder über eine Stilblüte gestolpert:
Der Becher ging feierlich herum. Sie hielten sich bei den Händen und ieder warf eine Rose hinein, indem er trank, aus denen der Kranz geflochten ward, der zum Andenken der Trennung am Altar hängen sollte.
Ah ja.Da der Einfluss von Meyern auf Jean Paul lt. de Bruyn bei weitem nicht so groß oder gar entscheiden ist, wie manchmal behauptet wird, gibt es, außer literaturhistorischem Interesse, wirklich keinen Grund, das Zeug zu lesen. Man sollte ihn wohl mal zur Kenntnis nehmen, den Roman. Aber das reicht wirklich.
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Vo der DuMont-Reihe hab ich fünf oder sechs Bände, die sind mir mal antiquarisch für wenig Geld zugelaufen, und ich ab sie gekauft, weil ich ich die Bände hübsch fand ;-). Gelesen hab ich davon aber noch keines … Seufz.
Vielleicht greif ich mal zu einem der Bücher, wenn ich den unsäglichen Meyern für mich abgeschlossen habe. Also nach Theil 1. Das Buch hat, in kleinen Dosen, durchaus seine Reize, allerdings nur aus, so auf die Schnelle: literatur-historischen Gründen. Das war ja seinerzeit wohl ein ziemlicher Bestseller, und man fragt sich dann doch: warum? Dieses ganze präpotent pubertäre Geplärre, all diese (behaupteten) großen Gesten, (behaupteten) großen Gefühle und (behaupteten) großen & tiefen Gedanken, dieses unsägliche Geraune & Gewese, die Beschwörung von Nation & Vaterland, gern mit "heilig" kombiniert: All das scheint eine bestimmte nunja Seelenlage um 1790 anzusprechen. Man kann da eigentlich blind reinpiecksen und findet sofort eher seltsam anmutende Passagen, etwa:
Thränend schlossen alle Hand in Hand rings um das Grab und sprachen ja! Sie standen still und fühlten tief. In ihrer Seele war das Drängen eines grosen Augenbliks.
So, so. Man kann das auch einfach als unfreiwillig komisch lesen, aber das funktioniert nur kurz, danach nervt es einfach nur. Dass, wie Diaz Grey treffend anmerkt, zwar dauernd "große" Taten beschworen werden, aber überwiegend nur geredet wird, scheint mir auch typisch; nicht nur für Dya-Na-Sore, sondern für einen bestimmten psychischen Zustand, der, wenn er dann von der Reflexion in die Aktion übergeht, praktisch sofort zu fanatisiertem Mord & Totschlag führt. Arno Schmidt hatte wohl schon sehr recht, als er das Buch als genuin faschistisch beurteilte.
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Erst 120?
Ich hab ja erst gestern Abend angefangen ;-). Aber es geht mir jetzt schon gehörig auf den Keks. Als Lustleser, der ich bin, werd’ ich wohl nach dem ersten Teil das Buch wieder ins Regal stellen. Es ist einfach zu fürchterlich, historische Bedeutung hin oder her.
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Wilhelm Friedrich Meyern, ›Dya-Na-Sore oder die Wanderer‹. Das war Ende des 18. Jahrhunderts sehr einflussreich und wichtig (etwa für Jean Paul) und eröffnete
Zitat von Nachwort Günter de Bruyndie Reihe der deutschen Romane …, in denen Geheimbünde eines Rolle spielen: Goethes 'Wilhelm Meister', Schillers 'Geisterseher', Grosses 'Genius', Tiecks 'William Lovell', Jean Pauls 'Unsichtbare Loge', 'Hesperus' und 'Titan'.
Das Buch aus der 2001-Reihe der Haidnischen Alterthümer steht jetzt seit 40 Jahren im Regal und ist jetzt endlich mal dran. Aber ob ich das durchhalte, weiß ich noch nicht. Das sind gut 900 Seiten und nach den ersten 120 Seiten möchte ich sagen: das sind ziemlich wirre Seiten. Im Anhang sind einige Rezensionen abgedruckt, da kann ich einem gewissen Walch von Schleusigen bislang nur zustimmen:
ZitatEigentliche Geschichte ist nicht viel in dem Buch; und was darin einer Geschichte ähnlich sieht, ist so räthselhaft und abgebrochen erzählt und in so geflissentliches Dunkel verhüllt, daß es nicht sehr zum Lesen reizt. Das meiste hingegen besteht aus Declamationen und Dialog […].
Schiller machte sich in seiner Rezension lustig:
ZitatDie Reise wird, wie man leicht denken kann, den armen Wanderern höchst sauer gemacht. Bald hilft ihnen eine kaum leserliche Inschrift, die sie von ungefähr finden, bald ein Eremit, der sich ihnen in den Weg stellt; ein Greis schickt sie zum andern (weil das Herumschicken einmal Gebrauch ist), und so treten in dem Buch vier oder fünf solche Greise auf, die alle einander wie aus den Augen geschnitten sind und auch so ziemlich das nämliche sagen.
Nachtrag: Ach ja, der Titel – Dya ist der Name eines von vier Brüdern, eben den titelgebenden Wanderern.
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So, das nächste Stück auf der Liste: Karl May, ›Babel und Bibel‹ – ein ausgesprochen seltsames Werk, in jeder Beziehung.
Eine Inhaltsangabe ist gar nicht so einfach, die probiere ich auch gar nicht erst … Im Zentrum steht jedenfalls der Scheik Abu Kital ("Vater des Kampfes") der, salopp gesagt, als Kraftmensch die Welt erobern will, aber durch allerlei Ereignisse zum "Edelmenschen" umgeformt wird. Oder irgendwie so ;-). Alles schwerst symbolisch. Es geht um Mays Religionsvorstellungen, seine Idee der "Menschheitsseele", und dem "Empor ins Reich der Edelmenschen". Was macht den "echten" Menschen aus, was ist irdisches Beiwerk, in welcher Beziehung stehen Kunst und Religion etc.
Der Titel nimmt u.a. Bezug auf den Anfang des 20. Jahrhunderts in Theologenkreisen herrschenden Babel-Bibel-Streit, über den man sich bei Interesse in der Wikipedia informieren kann.
Soweit ich sehe, fällt Mays Drama völlig aus der literarischen Entwicklung seiner Zeit, Vorbilder scheint er keine gehabt zu haben, Nachfolger auch nicht. Zum Vergleich wird manchmal der ›Jedermann‹ herangezogen, manchmal auch die mittelalterlichen Mysterienspiele, aber das scheint mir alles nicht so recht zu passen. May selbst nennt das Stück »Arabische Fantasia«, was einem jetzt auch nicht wirklich weiterhilft ;-). Mir scheint ›Babel und Bibel‹ jedenfalls ziemlich einzigartig. (Aber da mag ich mich irren ….).
May hat für dieses Drama umfangreiche Studien durchgeführt und am Stück sehr intensiv und lange gearbeitet. Sprachlich bleibt er brav bei Jamben, die nur sehr selten etwas holprig geraten, das Stück besteht aus 2 Akten mit jeweils exakt 1.000 Versen, was vermutlich auch irgendeinen tiefen symbolischen Sinn hat, denn ich Stoffel halt nicht bemerke.
Vom Erfolg seines Dramas war er felsenfest überzeugt, May scheint mir da durchaus messianische Züge zu entfalten, gewissermaßen die Fortführung der Old-Shatterhand-Legende mit anderen, oder wie May es wohl sagen würde: edel geläuterten Mitteln. (Er scheint seinen Lebens- und Leidensweg auch durchaus exemplarisch für das Menschenleben schlechthin gesehen zu haben.)
Dass das Stück bislang noch nie aufgeführt wurde (wenn man mal von einer Schulaufführung 2005 absieht) überrascht nicht wirklich. Schon gar nicht, wenn man solche Regie-Anweisungen liest:
ZitatSchēfakā […] (eilt zu ihrem Vater und duckt sich hinter ihm nieder. Während die „Seele“ sich derart in den Schutz der „Wissenschaft“ flüchtet, verschwindet in demselben Augenblicke Mārah Dūrimēh, nur von den Zuschauern gesehen, von ihrem Platze und deutet an, daß nun ein selbständiger, mündiger Geist in die Handlung einzugreifen beginnt. Der Scheik der Todeskarawane wird durch den Anblick dessen, was er hier so plötzlich vor sich sieht, in eine gewaltige, innere Bewegung versetzt. Er hat dies dem Zuschauer ahnen zu lassen, ohne aber dieser Aufregung äußere Zeichen zu verleihen, die gegen seinen Charakter und seine Rolle verstoßen würden. Diese letztere ist so schwer, daß sie nur von einem Meister gegeben werden kann, dem es gelingt, durch die kleinste Bewegung Großes zu sagen und trotz der sprechendsten Geste verschwiegen zu bleiben. Er geht langsam einige Schritte vorwärts, wie ein Träumender, und doch Alles, was er sieht, wie mit den Augen verschlingend. Dann bleibt er stehen und grüßt die Anwesenden, natürlich orientalisch)
Es gibt mehrere solcher interpretierender Anweisungen, die so weit weg von der Bühnenpraxis sind, wie man es sich nur vorstellen kann. May hat eher ein nunja "Lehrgedicht" als ein Drama geschrieben. Nach dem Misserfolg von ›Babel und Bibel‹ hat er die Motive dann in seinen späten erzählerischen Texten aufgegriffen, er plante wohl auch einen Roman ›Abu Kital‹.
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Raoul Schrott: Euripides. Die Orestie. Zweiteiliges Hörspiel:
Jeweils rd. 90 Minuten. Nach dem Start der Wiedergabe können die Dateien auch als MP3 geladen werden.
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Die Fischer-TBs von Thomas Mann hab ich irgendwann mal angeekelt weggeworfen ;-). Selbst, wenn sie sich nicht aufgelöst habe, war das Papier derart schwiemelig geworden, dass ich es nicht mehr anfassen wollte. Ein wenig bedauere ich es, dass ich die Jules Verne-Ausgabe von Fischer ebenfalls entsorgt habe. Das waren zwar eine radikal bearbeitet und sehr stark gekürzte Versionen, aber "Die Propellerinsel" wurde von Wondratschek bearbeitet, der dort eine Arno-Schmidt-Referenz einschmuggelte (Schmidt übernahm zentrale Motive von Verne für seine "Gelehrtenrepublik"). Den Band hätte ich aufheben sollen …
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Nachtrag: jetzt hab ich die Stelle vergessen, die unfreiwillig komisch ist und bei der ich doch auflachen musste. Dialog zwischen dem Intriganten Beauseant und einem General der Grande Armée:
ZitatBeauseant: […] Sie sind noch nicht verheirathet, General?
Damas: Sehe ich aus, wie ein verheiratheter Mann? – Nein, dem Himmel sei Dank! – Mein Beruf ist Wittwen, nicht Weiber zu machen.
Das ist übrigens keine Freiheit des Übersetzers, sondern steht so bei Bulwer:
ZitatBeau. […] You are not married, general?
Damas. Do I look like a married man, sir?—No, thank Heaven! My profession is to make widows, not wives.
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Allmählich gehen mir die einfachen Stücke aus
– als eines der letzten war jetzt Bulwers Melodrama ›Das Mädchen von Lyon‹ an der Reihe (UA: 15.2.1838). Ich mache es mir da jetzt mal einfach und zitiere aus dem Kommentar zu Gutzkows Digitaler Gesamtausgabe. Gutzkow hat das Stück 1838 in Hamburg (?) gesehen und die Aufführung für den ›Telegraph für Deutschland‹ rezensiert (»ein gutes Bühnenstück mit einigen Albernheiten«):
ZitatBulwers Stück spielt während der republikanischen Phase der Französischen Revolution. Pauline, einzige Tochter eines reichen Seidenfabrikanten, wird als "Schönheit von Lyon" von Verehrern umschwärmt. Ihre aufstiegsbesessene Mutter will sie nur an einen Adligen verheiraten, aber da der französische Adel abgeschafft worden ist, kommt nur ein ausländischer Kandidat in Frage. Der "Bürger Beauseant", der 'eigentlich' Marquis ist und um Paulines Hand wirbt, hat daher genau so wenig Glück wie der Gärtnersohn Claude Melnotte, der sich eine umfassende Bildung angeeignet hat und Pauline leidenschaftlich liebt. Als Pauline einen Brief mit Versen Melnottes auf verletzende Weise zurückschickt, lässt sich Melnotte von dem rachesüchtigen Beauseant auf eine Intrige verschwören. Der Gärtnersohn tritt als "Prinz von Como" auf, gewinnt die Hand Paulines, entpuppt sich nach der Heirat als Melnotte und setzt sie und ihre Familie somit der Deklassierung aus. Pauline verliebt sich aber in Melnotte, zieht schließlich die Ehe mit ihm einer Konvenienzheirat vor, und als Melnotte sich auf dem italienischen Feldzug der Grande Armée auch noch militärische Ehre erwirbt, ist die Verbindung der beiden im Zeichen republikanischer Werte besiegelt.
Interessant ist dabei vielleicht der Aufbau. Bereits im ersten, relativ kurzen Akt ist die Intrige gesponnen, im zweiten Akt agiert Melnotte schon als Prinz Como, dessen Hochzeit mit Pauline kurz bevor steht, im dritten Akt ist bereits die Hochzeit gewesen, im vierten Akt kommt Melnotte als Oberst zurück aus dem Krieg. Die gesamte Handlung wird praktisch nur erzählt, weder erleben wir die Hochzeit noch den Feldzug mit, die Figuren erzählen sich das alles nur. Auch die Entwicklung der Figuren wird nur behauptet, motiviert wird da gar nichts, was insbesondere für den Dreh- und Angelpunkt der Handlung – die fiese Intrige – gilt. Melnotte ist einerseits ein ehrenwerter Mann, der sich andererseits auf den Betrug einlässt: Warum sich der wackere Gärtnerssohn an der – von ihm selbst später als schändlich und ehrverletzend empfundene – Intrige überhaupt beteiligt, wird nicht gezeigt oder erklärt, sondern einfach gesetzt. Beauseant kommt auf die Idee, erzählt sie kurz & knapp seinem Kumpel Glavis und fertig.
Ich kenne nicht viele Melodramen, aber das – nämlich: Handlung in die Figurenrede verlagern, fehlende Motivation, Gefühle & Empfindungen einfach nur in der Figurenrede behaupten etc. – scheint mir ein typisches Merkmal zu sein.
Bulwers Stück muss lt. Wikipedia seinerzeit sehr erfolgreich gewesen sein, es gab auch zwei Opern und eine Operette, die auf ihm basieren.
Im Ganzen kann ich Schmidt da nur zustimmen (das Poe-Zitat habe ich jetzt auf die Schnelle nicht nachweisen können):
A.: Ich deutete bereits an, wie das nicht überwältigend ausgefallen sei bei Bulwer, die ‹Weeds and wild Flowers›. Auch 6 Schauspiele sind – ich muß es leider aussprechen – plattes Zeug : beim ‹Sea Captain› kann man, 10 Zeilen guter Sätze ausgenommen, nur den Kopf schütteln. Selbst die leidlichsten, die ‹Lady of Lyons›, oder ‹Money› ... (?)
C. (einfallend): Da sollen Sie aber doch ma’ seh’n, wozu die einfältigste Poe=Leserin gut ist. – Ich zitiere : ‹Hundert gegenteiligen Kritiken ins Gesicht, muß ich die ‹Lady von Lyon› als einen der erfolgreichsten dramatischen Versuche der Neuzeit betrachten. Beliebt, und das mit vollem Recht, wird es nicht aufhören beliebt zu sein, solange es Menschen giebt, die ein Herz haben. .. Pauline ist eine Gestalt, die selbst einem Shakespeare nicht zur Unehre gereicht hätte. Sie ruft tiefe Bewegung hervor; und ihr vorzuwerfen, daß sie doch schwach, geldgierig, und in jeder Hinsicht unedel wäre, bespricht Dummheit. Sie ist all=das; gut; und was weiter? Wir haben schließlich nicht mit Clarissa Harlowe zu tun. Bulwer hat eben eine Frau porträtiert.› – : undsoweiter! – : ?
A. (achselzuckend): Wenn Sie die Zeit darauf wenden wollen, können Sie bei mir die Bekanntschaft von Fräulein Pauline Deschapelles màchen – aber, ich sag’s Ihnen voraus, : Sie bereu’n Ihren Fürwitz
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Da fällt mir eine Stelle ein, die ich kürzlich in Arno Schmidts "Julia" gelesen habe:
(also etwas iss dran; denn die Einbände unsres Jahrhunderts sind ja zu kurzlebig: zuviel Chemie & miteinander unverträgliche Stoffe! Von denen wird keines 50–60 Jahre alt): »Das begann so um 1890, als ein Satan die ›Klammernheftung‹ erfand: die sind heut alle längst durchgerostet; die Bogen lose; große braunrote Flecken. ’s giebt ja kaum noch LeinenBände: alles ›Kunst‹=Stoffe! Die Schweinerei in nicht nur unserer Kultur, sondern auch unsrer Technik iss sa=gen=haft!«; (und ›das Volk‹ lebt=lumpt so darüber hinweg, daß es jetzt schon praktisch ›kein Holz!‹ mehr giebt; ›kein Leder‹; in ›echt Baumwolle‹ geht nur noch der HochAdel .....)
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Ich leide bei seinem Spätwerk eher an Langweile (beim Rest vielfach auch …). Ihm gelingen da mitunter ziemlich großartige Passagen, aber er braucht dafür einen elend langen Anlauf und fällt rasch wieder ab. B&B ist eines der wenigen Werke von ihm, die ich noch nicht kenne, das wird mal Zeit.
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Ich bin bei Recherchen zu meiner aktuellen Lektüre wieder einmal an das Gutzkow Editionsprojekt erinnert worden. Darauf wurde hier vermutlich schon einmal hingewiesen, aber das finde ich aktuell nicht, also weise ich einfach noch einmal darauf hin und nehme das zum Anlass, ein neues Thema aufzumachen: Hier können Links zu digitalen Editionsprojekten / Werkausgaben gesammelt werden. Ich fang einfach mal an, es gibt sicherlich noch mehr, aber das sind die, die mir auf die Schnelle einfallen:
Hier wird Gutzkows Gesamtwerk in einer historisch-kritischen Edition publiziert. Parallel dazu erscheint das Werk auch im Oktober Verlag Druck, allerdings nicht alles (ich hatte die Ausgabe mal subskribiert, aber irgendwann wieder gecancelt). Die Texte lassen sich als HTML oder PDF anzeigen. Eine Suchfunktion fehlt, aber man kann die Site natürlich gezielt mit Google durchsuchen – besser als nix.
Arno Schmidt, Bargfelder Ausgabe
Die Arno Schmidt Stiftung hat die komplette Bargfelder Ausgabe samt Supplement und Briefbänden ins Netz gestellt. Allerdings nicht für die kontinuierliche Lektüre, sondern als Suchportal. Die Ausgabe kann komplett durchsucht werden (wobei auch komplexe Suchabfragen möglich sind), die Treffer werden auf den PDFs der Seiten gezeigt, Text lässt sich kopieren & zitieren. Sehr schön.
Die komplette Fackel von Karl Kraus als durchsuchbare Ausgabe, gezeigt werden Scans der Originalseiten (JPEG) bzw. der Text in HTML, der dann auch kopiert werden kann. Die Anzeige einzelner Ausgaben ist ebenfalls möglich. Wer will, kann die Fackel also komplett am Bildschirm lesen.
Robert Musils Werk erscheint parallel im Druck und online; aktuell scheint nur Der Mann ohne Eigenschaften verfügbar zu sein.
Die Karl-May-Gesellschaft stellt das komplette Werk Karl Mays digital zur Verfügung, vielfach als HTML, aber auch als Scan der Originaldrucke, darunter auch als ein PDF-Scan der 33bändigen Fehsenfeld-Ausabe
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Ich hab meine Liste übrigens ein wenig überarbeitet. Zum einen hab ich Fischarts "Flöh Hatz Weiber Tratz" von 1573 rausgenommen – das ist kein Schauspiel und ist mir versehentlich reingerutscht –, zum anderen hab ich einen Zahlendreher korrigiert: Bulwers "Mädchen von Lyon" ist nicht von 1883, sondern von 1838. Für den rausgefallenen Fischart wollte ich zuerst ein Barock-Stück aufnehmen, um ungefähr in der Zeit zu bleiben – aber davon hab ich dann doch lieber Abstand genommen, die Lektüre soll ja auch Spaß machen …. Also hab ich mal ein Kuriosum gewählt: Karl May, "Babel und Bibel" von 1906. Auch kein lustiges Stück, aber es passt zum weiteren Umfeld meiner sonstigen Lektüre.
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"Ab durch die Mitte" kenne/kannte ich nur im Sinne von "jetzt aber schnell weg" oder ähnliches, insofern find ich die Herleitung von der Bühnensprache sehr plausibel. Hackländers Stück ist allerdings das erste, in dem es mir aufgefallen ist, z.B.: "Graf (ab durch die Mitte)".
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Das nächste Stück auf meiner Liste: Friedrich Wilhelm Hackländers ›Der geheime Agent‹ (man merkt, ich mache erstmal einen Bogen um die dicken Brocken wie ›Maria Stuart‹ und tummel mich im unteren Fach ;-))
Herzog Alfred ist zwar "regierender Herzog" eines nicht genannten dt. Reichs, ist dies aber nur dem Namen nach, die Staatsgeschäfte werden von seiner Mutter und den ehemaligen Räten & Beamten seines Vaters geführt. Da er selbst nicht weiter spezifizierte Neuerungen und Reformen durchführen möchte, es aber nicht kann, erfindet er einen "geheimen Agenten", den er angeblich auf seinen Reisen kennen und schätzen gelernt habe und der ihn als weiser Berater bei seinen Geschäften unterstützen soll. Die scheinbare Existenz dieses Agenten sorgt am Hof für ein veritables Durcheinander, Günstlinge plaudern vor dem Herzog versehentlich allerlei Geheimnisse aus, der geheime Agent scheint allgegenwärtig, irgendwann reicht es der Herzogin, sie übergibt die Regierung endgültig an ihren Sohn und der bekommt auch die Prinzessin. Oder so ähnlich. Die Handlung und die Motivation der Figuren bleibt mir rätselhaft. Das Stück ist mäßig amüsant, bietet eher bescheiden witzige Dialoge und etwas Situationskomik. "Ein schnelles Tempo ist empfehlenswert", heißt es auf dem Theaterzettel und mit viel Tempo könnte das auf der Bühne recht wirksam sein.
Ich hab im Regal auch das ›Marbacher Magazin‹ zu Hackländer (81/1998), da kann man unter dem Datum vom 14. März 1851 folgendes lesen:
ZitatIn Oldenburg wird ›Der geheime Agent‹ erfolgreich uraufgeführt. FWH hatte es, allerdings verspätet, zu dem von Heinrich Laube (1806–1884), dem Direktor des Wiener Burgtheaters, ausgelobten Preisausschreiben eingesandt. Laube wird künftig sein Berater beim Verfertigen von Bühnenstücken. Der Plot des ›Geheimen Agenten‹, seinem erfolgreichsten Theaterstück, ist publikumswirksame Kolportage: Alfred, ein regierender Herzog, hat dieses Amt nur dem Titel nach. Tatsächlich regiert seine Mutter, die verwitwete Herzogin. Mit dem Gerücht von einem »geheimen Agenten« gelingt es Alfred, die Macht am Hofe zu gewinnen und die Frau seiner Wahl zu heiraten.
Als Einleitung bringt das Magazin einen ›Morgenspaziergang mit Hackländer‹ von Rolf Vollmann, den ich ziemlich verschwafelt und obendrein wenig informativ fand. Aber es gibt ja Leute, die mögen Vollmanns Stil. Ich gehöre nicht wirklich dazu. Ob es sich dabei um einen Originalbeitrag oder um einen Auszug aus einem von Vollmanns Roman-Büchern handelt, steht nicht dabei.
Der Tonfall Vollmanns passt aber etwas zu Hackländer, der ziemlich weitschweifig ist, im Dialog selten auf den Punkt kommt und mitunter einen ganz netten Einfall schlicht kaputt quatsch. Ich hab eine von Carl Friedrich Wittmann besorgte "Bühnenbearbeitung". Das Stück ist ungekürzt, aber die empfohlenen Streichungen für eine Aufführung sind markiert – und das sind ziemlich viele.
Meine Ausgabe ist ein älteres Reclam-Heft, das von einem Vorbesitzer mit festen Pappdeckel und Vorsatzpapier neu geklebt wurde – da hat sich jemand wirklich Mühe gegeben. Ich dachte erst, das sei vielleicht das Arbeitsexemplar einer Aufführung, aber es gibt keinerlei Lesespuren, keine Anmerkungen oder Notizen (die es ansonsten doch wohl hätte).
Die Covergestaltung ist die der RUB von 1867 bis 1917, es gibt einen Hinweis zu den Aufführungsrechten von der Witwe Hackländers. Die ist 1900 gestorben, meine Ausgabe wird also vermutlich 1899 oder früher erschienen sein.
Im Stück ist mir erstmal die Regieanweisung "ab durch die Mitte" aufgefallen, die bekannte Redewendung könnte tatsächlich von der Bühnensprache des 19. Jahrhunderts stammen (sagt Wiktionary).
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Ich habe dieses Stück vor einigen Jahrzehnten unter dem Sprichwort-Titel "Klugheit schützt vor Torheit nicht" gelesen.
Ja, das ist der alternative Titel, der einem gelegentlich unterkommt. Passt aber für mich nicht so recht zum Schluss, wo der Titel zitiert wird: Wie [das Tagebuch] in Ihre Hände geraten ist, weiß ich nicht: Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste. Da passt "Klugheit schützt vor Torheit nicht" für mein Empfinden nicht wirklich (aber das ist natürlich auch alles eine Frage der Übersetzung).
Den Original-Titel verrät die Wikipedia: На всякого мудреца довольно простоты. Google macht daraus "Für jeden Weisen ist Einfachheit genug", Deepl übersetzt das als "Jeder weise Mensch hat seine Einfachheit." Könnte ein russ. Sprichwort sein, für das man dann natürlich ein dt. Pendant suchen muss.
Übrigens wird Ostrowskij im Nachwort als "russischer Molière" bezeichnet, was insofern amüsant ist, als eine der lächerlichen Figuren im Stück mal für einen gewissen Sumarokow schwärmt, der lt. Wikipedia rund 100 Jahre vor Ostrowskij lebte und ebenfalls als "russischer Molière" gefeiert wurde.