Beiträge von finsbury

    Arno Geigers "Es geht uns gut" habe ich inzwischen ausgelesen. Aber ich bin trotz der kunstvollen Technik und des interessanten Zeitraums nicht mit dem Personal warm geworden. Das sind alles so Menschen, die an ihrer Lebenssituation leiden, aber nichts wirklich tun, um sich daraus zu befreien und statt dessen in Anklagen ausbrechen oder sich im Selbstmitleid suhlen. Das kann ich nicht wirklich nachvollziehen und es macht mich ärgerlich, mich durch so viele Seiten voller Gefühle des Scheiterns zu quälen. Es ist ja nicht so, dass diese Personen aus zeitgebundenen Gründen sich nicht hätten befreien können, wie zum Beispiel Menschen in ständischen Gesellschaften.

    Die gebundenen Tergit-Ausgaben sind auch von Schöffling, ebenfalls gut gebunden, ordentlich lesbares Schriftbild, zwar keine Erläuterungen, die durchaus nützlich gewesen wären, aber alle Bände haben gute Nachworte jeweils von Nicole Henneberg.

    Ror Wolf, Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie. Tagebuch 1966–1996. Heute abgeholt und gleich mal reingelesen. Bin begeistert (auch wenn ich mich etwas über den Kommentar wundere, der scheint's auf S. 21 mit Fußnote 49 vergessen hat, dass er praktisch den identischen Text schon einmal in der Fußnote 26 auf S. 14 gebracht hat. Naja.)

    Besser einmal zu viel als zu wenig. Ich wundere mich öfters, wie die Herausgeber einen Text und seine Kommentierungsnotwendigkeit bewerten. Oft findet man ganz einfache Dinge erklärt und dann tauchen plötzlich Zusammenhänge auf, die man nicht ohne sehr spezielles Hintergrundwissen einordnen kann, aber das bleibt unkommentiert.

    Ich lese im Moment den kommentarfreien Roman "Es geht uns gut" von Arno Geiger, wieder mal gut abgehangen (bereits 2007 angeschafft), ein sehr interessanter Familien- und Zeitroman, spielt in Wien zwischen 1938 und 2001 und erzählt in Kapiteln, die jeweils einen Tag als symptomatisch für ein ganzes Jahrzehnt beinhalten, die Geschichte einer gut situierten Familie und ihrer Beziehungen.

    So ganz warm bin ich noch nicht mit dem Erzählstil sowie dem Personal,und einige Anspielungen verstehe ich tatsächlich nicht, vielleicht wäre da Ösi-Spezialwissen nötig.

    Aber lohnenswert ist die Lektüre auf jeden Fall.

    Wenn wir hier jedoch 1000 Leute wären, dann wären aber immer welche davon in München, andere in Hamburg, wieder andere in Berlin und ich aus der Mitte Deutschlands würde (fast) überall hinfahren, wenn ich für den Autor brenne.

    Wenn wir hier tausend Leute wären und diese mehr Freizeit hätten, dann wäre ja vieles hier anders. Ich zum Beispiel interessiere mich sehr für Jonathan Franzen, aber da ich noch arbeite, kann ich nicht mal eben so nach Lübeck reisen. Früher gab es hier im Ruhrgebiet auch mehr hochkarätige Lesungen, da gab es zum Beispiel das Harenberg-Center in Dortmund, dessen Namensgeber ein klassischer Mäzen war und dementsprechend sehr vielversprechende und auch berühmte Leute zu Konzerten und Lesungen geholt hat. Aber gone, gone, gone ... .
    Wenn wir hier im Forum mehr wären, würden auch die einzelnen in ihren Interessenssegmenten mehr Gleichgesinnte finden, aber wir sind eben ein sehr kleiner Kreis.
    Was schade ist, denn in dem Wiener Tamino-Klassikforum, das sich allerdings um Klassische Musik dreht, sind so viele Leute in regem Austausch, dass man da von Renaissance-Musik bis hin zu Zwölfton, von sakralen Chorwerken bis hin zur Operette eine überreiche Auswahl an Themen findet, in denen hochkarätige Laien, aber auch viele Berufsmusiker schreiben. Aber für kanonische Literatur und Belletristik im anspruchsvollen Segment sowie zu hebende Schätze interessieren sich anscheinend weniger Leute. Vielleicht liegt das auch daran, dass es nicht so viele Jobs in diesem Bereich gibt oder Leute mit solchen Jobs schon genügend reale Kontakte für einen intensiven Austausch haben.

    Ich wusste, der Name der Autorin sagt mir etwas. Den "Käsebier" gab's vor kurzem bei der Büchergilde. Ich habe ihn aber nicht gekauft und jetzt ist er offenbar weg. Je nun ...

    Gibt's aber noch in dem Verlag, der auch die Effingers veröffentlicht hat, als Taschenbuch, also nicht so teuer. Habe ich mir gestern organisiert.

    Ich kannte sie auch nicht, habe den Roman vor zwei Jahren zum Geburtstag bekommen und wie bei mir meist, jetzt gut abgehangen gelesen. Sie hat noch einen Roman "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" geschrieben, der wohl zu seiner Zeit ein ziemlicher Erfolg war. Er spielt wohl vorwiegend im Pressemilieu.

    Gabriele Tergit: Effingers – ein grandioser Zeitroman




    Der fast neunhundertseitige Familienroman von Gabriele Tergit (d.i. Elise Hirschmann., verh. Reifenberg, 1894-1982) erschien zum ersten Mal nach langen Schwierigkeiten bei der Verlagssuche stark gekürzt 1951 und wurde zuletzt 2019 bei Schöffling & Co. in der ungekürzten Form wieder aufgelegt.


    Was für ein Roman!

    Die Autorin knüpft explizit an die „Buddenbrooks“ an, und sie braucht den Vergleich keineswegs zu scheuen. Ihr Thema ist die Geschichte zweier assimilierter jüdischer Kaufmannsfamilien zwischen 1878 und 1948. Die spannend erzählte und gleichzeitig sprachlich, motivisch und szenisch kunstvoll und sehr modern anmutende Geschichte um den jüdischen Beitrag zum deutschen Wirtschafts- und Kulturleben und seinen Untergang im Holocaust und dessen Vorbereitern beginnt bei einer Uhrmacherfamilie im fiktiven Kragsheim in Süddeutschland und führt uns mit einer der Hauptpersonen, dem jungen Paul Effinger, nach Berlin, denn in Kragsheim kann er seine unternehmerischen Pläne im konservativen Herzogtum nicht durchsetzen. Paul gründet mit seinem lebenslustigen Bruder Karl zunächst eine Schraubenfabrik, aus der später eine bekannte Autofabrik wird, wie sie der Vater der Autorin auch gegründet und aufgebaut hatte. Tergit baut sehr viele autobiografische Elemente aus ihrer und der Familie ihres Mannes ein, weshalb der Roman sehr authentisch wirkt. Die beiden Brüder heiraten in eine jüdische Bankiersfamilie, die Goldschmidt/Oppners ein, die den zweiten personalen Pfeiler des Romans stellen. Nun erleben wir mit den zahlreichen Mitgliedern dieser Familie (ein vorgesetzter Stammbaum erleichtert die Orientierung) die Gründerzeit, den Abstieg Bismarcks und die chauvinistische Regierungszeit Kaiser Wilhelms Zwo, die Jugendbewegung um die Jahrhundertwende, Jugendstil, Expressionismus, Frauenbewegung, den Ersten Weltkrieg, die schwierigen Jahre der Reparationszahlungen und der Inflation und schließlich das Aufkommen des Nationalsozialismus mit seinem später auch staatlich organisierten Antisemitismus bis hin zum Holocaust.


    Lotte Effinger, die Tochter Pauls kann in den Zehner Jahren studieren und wird dann eine erfolgreiche (Film)schauspielerin, an ihr wie an anderen weiblichen Romanpersonen wird das erstarkende Selbstbewusstsein der Frauen gezeigt, die doch immer wieder mit dem Chauvinismus des zunächst preußischen Militarismus, dann aber auch der zum Teil bereits ins Nationalpathetische überdriftenden Jugendbewegung konfrontiert werden.

    Schließlich erleben wir Leser die grausame Demontierung und Verdrehung aller Leistungen der deutschen Juden mit, und ein großer Teil des noch lebenden Romanpersonals wird schließlich deportiert. Doch gibt es auch Fluchten sowie den Staat Israel, dessen damaligen zionistischen Bestrebungen aber auch kritisch beleuchtet werden.


    Diese Kritik erfolgt aber nie auktorial und fast nie im Erzählerkommentar, sondern die Charakterisierung der Personen und ihrer Einstellungen zeigt sich überwiegend in den Dialogen und der detailreichen Schilderung ihrer Umgebung. So wird uns auch das Interieur und die Mode jener Zeiten nebenbei vor Augen geführt.


    Trotz des Umfangs und der hohen Komplexität wird einem hier auf keiner Seite langweilig und keine hätte weggekürzt werden dürfen. Ich kann diesem Roman und seiner Autorin nur wünschen, dass er endlich in unserem literarischen Bewusstssein ankommt und eine breite Rezeption erfährt. Uns entginge sonst nicht nur ein großartiges Stück deutscher Literatur, sondern auch ein sehr wichtiger Beitrag zur deutsch-jüdischen Geschichte.



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    Gerade lese ich "Effingers" von Gabriele Tergit und bin sehr angetan. Die vor kurzem wiederentdeckte Journalistin und Schriftstellerin Elise Hirschfeld, verh.Reifenberg, (1894 bis 1982) veröffentlichte unter dem Pseudonym Gabriele Tergit diesen Roman in den Fünfziger Jahren und fand nur wenig Beachtung, obwohl das Werk von der Presse gelobt wurde.
    Das lag wohl auch am Stoff: Tergit schrieb einen Zeitroman über eine jüdische Familie von den Siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis in die Vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Effingers und Oppners sind eine Bank- und Fabrikantenfamilie und spiegeln das Leben des assimilierten Judentums im Berlin jener Zeit wieder. Vielleicht hatten die Menschen in den Fünfzigern, als die Aufarbeitung des Holocaust gerade erst begann, wenig Lust, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Und so ist ihnen ein großartiger Roman entgangen.
    Tergit lässt ihr Personal reden und denken, ohne je in den Erzählerkommentar zu verfallen. Dadurch wird der Leser mit einem vielfältigen Chor von Stimmen aus dem jüdischen Handels- und Bildungsmilieu konfrontiert, die sich mit den Ereignissen der Zeit, dem Lebensgefühl der Belle Epoque, des Jugendstils und im Weiteren ( so weit bin ich noch nicht) wohl auch mit den darauffolgenden Ereignissen auseinandersetzen. DIe Effingers, die in die Familie der Oppners, der Bankiers, einheiraten, sind zwei Brüder, die im Berlin der 1880er eine Schraubenfabrik gründen und später eine Autofabrik betreiben. Durch die Sichtweise des jüngeren Bruders Paul, eines echten Selfmademans, erfährt man auch einiges über die technischen Entwicklungen jener Zeit und die Zukunftseuphorie, die durch die zahlreichen Entwicklungen und Erfindungen zum Tragen kam. Gleichzeitig aber bedrängt das autoritäre Regime der neu gekürten Preußenkaiser, der Militarismus und wieder aufkommende Antisemitismus die freiheitlichen Bestrebungen des Bürgertums. Nun befinde ich mich gerade in den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts und inmitten einer müden Jugend, die keine Lust mehr zum kaufmännischen Treiben ihrer Väter hat, aber gleichzeitig auch keinen eigenen Sinn findet.

    Ein toller dicker Roman von mehr als 800 Seiten, der sich sehr lohnt.


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    Nun, das beruhigt mich. Vielen Dank, sandhofer für deine Antwort und auch für die Arbeit, die ja dennoch immer wieder mal besteht. Auch wenn hier nicht immer so viel los ist, ist dieses Forum doch mein Dreh- und Angelpunkt für Kontakte zu Menschen, die auch Klassiker oder gehobene Literatur im Allgemeinen lieben. Die meisten anderen Foren machen das nur so nebenher und meist (soweit ich andere Foren kenne) weniger qualitativ hochwertig.


    Ein Hoch auf die Nutzer*innen hier, muss auch mal sein!!:laola:

    Mit viel Vergnügen habe ich Peter Ustinovs "Der alte Mann und Mr.Smith" zu Ende gelesen. Gott und Teufel auf Erden zu Besuch, um den Stand der Schöpfung live zu erleben: in Washington und dann um die ganze Erde verfolgt vom FBI. Geschliffene Dialoge auch noch in der Übersetzung und ein großes Vergnügen vorallem für diejenigen, die das Zeitkolorit der Endachtziger, Anfangneunziger voll mitbekommen haben.

    Oates hat eine ganze Reihe von Gothic Novels, auch extra in der Literaturszene so ausgewiesen, geschrieben, unter anderem "Die Schwestern von Bloodsmoor", die ich neulich gelesen habe und auch der frühere Roman "Bellefleur" gehört dazu. Sie beherrscht die Fantasy-Elemente recht gut und verleiht ihren Geschichten damit einen düsteren Glanz.

    b.a.t., Den Llosa habe ich 2016 gelesen, ein durchaus beeindruckendes Buch wie auch viele andere des Autoren.
    Habe meinen zweiten Nestroy beendet: "Einen Jux will er sich machen" dreht sich um den Ausbruch eines braven Handelskommiß aus seinem öden Alltag und welche atemberaubenden Verwicklungen sich daraus ergeben. Hübsche satirische Gesänge unterbrechen die etwas klamaukige Handlung. Auch hier hatte sich Nestroy die Rolle des Kommiß auf seinen wohl beachtlichen Komödientalent-Leib geschrieben.

    Ich unterbreche jetzt meine Nestroy -Lektüre mit Peter Ustinovs satirischem Roman von 1990: Der alte Mann und Mister Smith, in dem Gott und der Teufel im Gewand alter Männer Washington besuchen.

    Herzlichen Dank für das lange Zitat und den spannenden Link.

    Ja, ich denke, dass man sich erstmal des Genres gewiss werden und dieses schätzen muss,und vor diesem Hintergrund kann man dann Nestroys Genialität besser beurteilen. Das ZItat mit der eingeseiften Gemütlichkeit passt auch sehr gut zu der Stelle, die ich im vorherigen Post genannt hatte: die Schlussszene mit den glücklich arbeitenden Familienvätern: Wenn sich der affirmativ bestätigte Spießbürger dabei genüsslich über den Bierbauch streicht, bekommt er vielleicht doch am Rande mit, dass hier doch auch ein kleiner Dolch im Gewande steckt.

    Den "Lumpazivagabundus" (1833) habe ich inzwischen beendet, und meine Meinung hat sich nicht sehr verändert: Er ist mir zu klamaukig und mit allzu viel Sangespossen durchsetzt, ist auch ganz klar mit dem saufenden Schuster Knieriem dem Schauspieler Nestroy zu sehr als Paraderolle auf die Brust geschrieben, um als Lesedrama voll seine Wirkung entfalten zu können. Nachdem ich zuerst die Abschlussszene mit den zu hundert Prozent bekehrten drei liederlichen Handwerkergesellen ganz grausam fand, ist mir Schnellmerker dann im Nachhinein aufgegangen, dass sie eine schön gemeine Hyperbel darstellt: Alle drei Handwerker werden inmitten ihrer Familien im Aufriss eines Wohn- und Geschäftshauses gezeigt, wie sie mit je einer Hand ;-) am Werkzeug, an der Wiege und am Kinn ihres schönen jungen Frauchens ehrlich und fleißig für ihren Lebensunterhalt und die Prosperität der Gesellschaft arbeiten.

    Habe jetzt mit der Posse "Einen Jux will er sich machen" begonnen, die 1842 uraufgeführt wurde, also neun Jahre nach dem "Lumpazivagabundus". Auch wenn nach Kindler demnächst der Klamauk auch hier über mich hereinbrechen wird, so ist die gesellschaftskritische Satire in den ersten Szenen deutlich stärker spürbar und nimmt zunächst die Kaufmannsszene unter Beschuss. Bekomme langsam Spaß an Nestroyscher Komik.

    Ich hab's auch nicht ernst genommen, breche aber immer wieder gerne eine Lanze für diese oft als verschmuddelt und sozialökonomisch problematisch dargestellte Region. Das Verschmuddelte ist inzwischen nicht mehr als in anderen Großstädten, die anderen Probleme haben wir noch, aber es wird immer besser. Und tatsächlich haben wir hier tolle Museen und andere Orte von kunsthistorischem Interesse.

    Aber nun genug off topic. Ich wende mich wieder dem Nestroy zu.

    Da gab es Probleme mit dem Speichern, sorry! Hier nochmal der Beitrag:


    Ruhrpott-Theater bekomm ich so gut wie gar nicht mit :)) Dachte dort wäre Theater hauptsächlich in den Stadien :))

    Klaro, wir leben hier nur dem Fußball! (Dem aber auch ...)


    Tatsächlich haben wir hier eine reichhaltige Theater-Musik- und alternative Kulturszene, die sich mit Berlin und Wien sehr gut messen kann und deren Szene an Vielfalt durchaus übertrifft. Mit 5,1 Mio. Einwohnern, 11 kreisfreien Städten und vier Kreisen gehören wir zu den größten Ballungszentren Europas. Sorry, kleine Anwandlung von Lokalpatriotismus.

    Ich bin von Geburt kein Ruhri, sondern erst in meinen Endzwanzigern hierher gezogen, würde aber unter anderem gerade wegen des riesengroßen kulturellen Angebots hier freiwillig nicht mehr wegziehen.

    b.a.t. , ich finde die Komödie bisher doch arg zopfig und auch nicht sonderlich originell, hatte aber bisher nur Zeit, ein paar Seiten zu lesen.
    Was die Zeiten angeht, zu denen Nestroy gespielt wurde: Ich habe hinten im Buch ein Theaterprogramm vom "Zerrissenen" aus dem Jahr 1977 gefunden. Ich verfolge die Theaterwelt nicht gerade eifrig, kann mich aber nicht erinnern, dass Nestroy in den letzten Jahren hier in der Nähe (im östlichen Ruhrgebiet) aufgeführt wurde.