Beiträge von finsbury

    Es sind wieder einige Monate ins Land geflossen, doch der Urlaub bot nun Muße für die Fortsetzung der Lektüre.


    „Die Ahnen“ Band 5 „Die Geschwister“ von Gustav Freytag ist der vorletzte Band des Romanzyklus und wie der erste Band ein Doppelroman, dessen beide Handlungen ca. 70 bis 100 Jahre auseinanderliegen.

    In der ersten Hälfte geht es um den „Rittmeister von Altrosen“ Bernhard König, der in den letzten Jahren des Dreißigjährigen Krieges als Offizier eines Regimentes dient, das, nachdem sein Feldherr, der Herzog von Weimar verstorben ist, den Franzosen zugeschlagen wurde. Damit unzufrieden setzt das Regiment seine bisherigen adeligen Offiziere ab, wählt seine eigenen, wie eben jenen Bernhard König, und sucht sich selbstständig einen neuen Feldherren, zunächst den Bruder des Verstorbenen, der aber ablehnt, dann den deutschen General in schwedischen Diensten, Königsmarck. Bernhard hat eine Schwester, die er im Tross mit sich führt und die aus der Vergangenheit für ihre scheinbar prophetischen Gesichte bekannt ist, die sie im Schlaf hat. Aufgrund dessen kommt sie bei dem Herzog von Sachsen-Gotha unter, wenn dieser auch das Kommando über das Regiment seines verstorbenen Bruders ablehnt. Auf dem Weg zu diesem Herzog treffen die beiden Geschwister auf vor marodierenden Soldaten und Kriegsplünderern geflüchtete Bewohner eines thüringischen Dorfes. Eine der Bewohnerinnen, die mit den Geschwistern in ihr Dorf zurückkehrt, ist Judith, selbst mit ihrem Vater aus dem Erzgebirge vertrieben. Zwischen der heil- und kräuterkundigen Judith und Bernhard entspinnt sich eine Liebesbeziehung, weshalb ein abgewiesener Verehrer Judith der Hexerei beschuldigt. Sie kann in letzter Sekunde durch Bernhard gerettet werden, doch nachdem sie geheiratet und einen Sohn bekommen haben, werden sie durch die Kugeln eines militärischen Konkurrenten Bernhards beide zu den letzten Opfern des Dreißigjährigen Krieges. Das Kind kommt zu der Schwester, die inzwischen einen Pastor im Herrschaftsgebiet von Sachsen-Gotha geheiratet hat.


    Der Enkel dieses Kindes wiederum hat zwei Söhne, die sich mit den harten Sitten und Ungerechtigkeiten des Militärs unter dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm von Preußen und dem Sachsen- und Polenkönig August dem Starken herumschlagen müssen. Der jüngere Sohn August wird aus erzieherischen Gründen vom Vater zum preußischen Militär geschickt, wo er charakterlich geformt werden soll. Allerdings kann der rasch zum „Freikorporal bei Markgraf Albrecht“ Aufgestiegene sich nicht wieder vom preußischen Militär lösen, als sein Vater stirbt und die Mutter ihn zur Verwaltung ihres Gutes braucht, weil der preußische König ihm den Abschied verweigert. Nachdem alle Fürsprachen nichts nützen, versucht es sein groß gewachsener älterer Bruder Friedrich, der die geistliche Laufbahn eingeschlagen hat, der aber bei dem König Begehrlichkeiten für die Verwendung bei seinen langen Kerls weckt. Nur im Tausch ist dieser bereit, August ziehen zu lassen. So kommt es dann auch, aber Friedrich schafft es durch seinen Mut und seine Standhaftigkeit gegenüber dem König, dass er nicht in den aktiven Dienst kommt, sondern zunächst wie sein Vater zum Feldprediger wird und später eine märkische Pfarre bekommt. Natürlich gibt es auch wieder zwei Liebesgeschichten mit reizenden Jungfrauen für die beiden Geschwister, aber sie spielen für das Fortlaufen der Handlung eine untergeordnete Rolle. August schließlich fällt in sächsischen Diensten im Konflikt zwischen Kursachsen-Österreich auf der einen und Preußen auf der anderen Seite 1745 in der Schlacht bei Kesselsdorf. Auch hier nimmt wieder das Geschwister, nämlich der ältere Bruder, Witwe und Kinder bei sich im märkischen Pfarrdorf auf.


    Zunächst finde ich diesen Doppelband von allen bisher gelesenen „Ahnen“-Romanen am schwächsten und am schwierigsten zu lesen, letzteres insbesondere bezogen auf den ersten Band, weil diese ganzen Regiments- und Hoheitskonflikte sehr verwirrend sind und nur für ausgewiesene Militärhistoriker ohne intensive Begleitlektüre verständlich, ersteres weil die ganzen Liebesgeschichten Gartenlaube-Niveau haben und der Kontrast zwischen strammen Kerls beim Militär und züchtigen, frommen Jungfrauen für heutiges Verständnis schwer zu schlucken ist.

    Andererseits habe ich viel über die militärischen Strukturen, politische Überlegungen der Feldherren und die Ungerechtigkeiten der Militärhierarchien mit dem unbedingten Gehorsamsgebot gegenüber Vorgesetzten, insbesondere, wenn sie adelig sind, erfahren. Was mir dabei gut gefallen hat, ist, dass Freytag im ersten Teil die Überlegungen der Feldherren, denen das Regiment des verstorbenen Fürsten angetragen wird, sehr klar und deutlich vermittelt werden und man genau wie die Bedürfnisse der einfachen Soldaten auch durchaus versteht, mit welchen Entscheidungen und deren Konsequenzen sich die Machthaber herumschlagen müssen. Im zweiten Teil fand ich die Willkür der Soldatenkönigs, wenn es darum geht, seinen Besitzstand an militärischem Personal zu wahren, sehr gut und eindrücklich dargestellt, ebenso wie die Willkür Augusts des Starken, der für die Zufriedenstellung seiner Mätresse seinen Leutnant zur Schnecke macht, obwohl der völlig richtig nach Dienstvorschrift gehandelt hatte.


    Fazit also: Die Lektüre hat weniger Vergnügen gemacht als die der vorherigen Bände, aber ich habe einen – wie ich glaube – recht authentischen Einblick in die politischen und militärischen Verhältnisse der beiden dargestellten Zeiträume bekommen. Die kitschigen Verschnörkelungen mit den Liebesgeschichten hätte sich der Autor gerne sparen können.

    Das "Alexandria-Quartett" habe ich 2007 gelesen, als ich auch im Rahmen einer Ägyptenrundreise für zwei Tage in Alexandria war. Die beiden ersten Bände "Justine" und "Balthazar" fand ich recht interessant, durch die beiden letzten bin ich dann nur langsam gekommen. Aber es ist ein faszinierendes Romanexperiment, eine zeitlich sich stark überschneidende Romanhandlung in der Sicht von vier Personen zu spiegeln.

    "Die Forsythe-Saga" - noch in Schwarz-Weiß - habe ich damals im Jugendalter im Fernsehen verschlungen wie heutige Serienjunkies und danach alle Bände, also auch "Moderne Komödie" und "Das Ende vom Lied" zum Teil mehrfach gelesen. Ich mag den Erzählstil Galsworthys bis heute noch sehr gerne. Er steht aber auch sehr in der Tradition der großen Gesellschaftsromane des 19. Jahrhunderts-

    Leibgeber, es gibt noch eine weitere Neuübersetzung von Gerald Durrell, die auch sehr komisch und sehr englisch ist: "Die aberwitzige Reise eines betrunkenen Elefanten", in der älteren Übersetzung bekannt als "Eine Verwandte namens Rosy".


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    Ich tummele mich gerade mal wieder - viel weniger vergnüglich - in Gustav Freytags "Ahnen", im 5. Band "Die Geschwister", wie der erste wieder ein Doppelroman. Der erste Teil spielt am Ende des Dreißigjährigen Krieges, der nächste zur Zeit des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I, beide vorwiegend in der Militärszene. Die Qualität der Bände nimmt von mal zu mal ab, am besten sind die Mittelalterbände bis einschließlich Band 3. Zumindest erfährt man aber immer ziemlich viel über die Geschichtsauffassung des liberalen Bürgertums im 19. Jahrhundert.

    Ich werde wohl auch nicht alles schaffen, obwohl ich mir wenig vorgenommen habe. Jetzt habe ich mit langen Zähnen den fünften "Ahnen"- Roman von Gustav Freytag begonnen: "Die Geschwister". Er spielt am Ende des Dreißigjährigen Krieges in militärischen Kreisen, und ich bin völlig verwirrt, wer zu wem gehört oder gehören will. Der Dreißigjährige Krieg war ja extrem unübersichtlich, was die handelnden Personen und Regimenter angeht, und Freytag tut nichts dazu, dem armen Leser die Sache durch einige Erklärungen leichter zu machen. Mal sehen, ob ich dabei bleibe oder was Leichteres dazwischen schiebe.

    Vielen Dank für die ausführliche Stellungnahme- Das klingt interessant, insbesondere auch darauf bezogen, dass zu Ende des vorvorigen und zu Beginn des letzten Jahrhunderts einige Frauen es doch schon wagten, ein relativ selbstbestimmtes Leben zu führen. Das habe ich auch in den "Effingers" so wahrgenommen. Allerdings mussten sich diese Frauen dann damit zufrieden geben, nur in bestimmten Kreisen verkehren zu können, zumindest vom Rest schräg angesehen zu werden und auch eine materiell nur unzulänglich gesicherte Existenz zu führen, wenn sie nicht von Haus aus etwas an den Füßen hatten. Aber, so wie du es schilderst, lohnt sich sonst die Lektüre nicht unbedingt. Ich habe bisher auch nur die bekannten Schnitzler-Dramen gelesen. Auch da sprang der Funke bei mir nicht so richtig über.

    Von Susanne Röckl habe ich noch nie etwas gehört. Das zeigt, wie aufmerksam ich die zeitgenössische Literaturszene verfolge :confused:.


    Dagegen erfreue ich mich - wieder - an einem richtig schönen Sommerbuch, das ich mir in jugenlichem Alter schon mal aus der Pfarrbücherei meines damaligen Wohnortes entliehen hatte: Gerald Durrell: Meine Familie und andere Tiere.


    Die Erinnerungen des jüngsten Sprößlings der Durrell-Familie sind vor einigen Jahren neu übersetzt worden, wahrscheinlich anknüpfend an die erfolgreiche Verfilmung "The Durrells", die man z.B. bei Magenta streamen konnte.


    Gerald Durrell ist ein Zoologe und Forschungsreisender gewesen, der schon als Kind eine Leidenschaft für Tiere entwickelte. Seine Familie, die verwitwete Mutter und vier Kinder im Alter von zehn (Gerald) bis zu 24 (Larry), zog für fünf Jahre in den Dreißigern des letzten Jahrhunderts auf die Insel Korfu. Die Erinnerungen daran sind sehr humorvoll und auch ein wenig melancholisch.
    Lawrence Durrell, den ältesten Bruder, kennen wir als den Autoren des Alexandria-Quartetts, eines eigenen Korfu-Buches "Schwarze Oliven" und anderer, oft sehr freizügiger Romane. Er war auch mit Henri Miller befreundet.


    Ich bin gerade sehr erfreut über die Wiederaufnahme der Bekanntschaft mit diesem kleinen autobiografischen Funkelstein.

    Die Effingers lesen sich erstaunlich gut und spannend. Ich habe 14 Tage gebraucht, und das während Vollbeschäftigung.
    Garmus habe ich auf Deutsch hier auch noch stehen und werde den Roman wohl auch bald lesen. Wird ja hoch gelobt, und das Thema ist auch sehr interessant. Berichte gerne weiter, wie es dir gefällt.

    Arno Geigers "Es geht uns gut" habe ich inzwischen ausgelesen. Aber ich bin trotz der kunstvollen Technik und des interessanten Zeitraums nicht mit dem Personal warm geworden. Das sind alles so Menschen, die an ihrer Lebenssituation leiden, aber nichts wirklich tun, um sich daraus zu befreien und statt dessen in Anklagen ausbrechen oder sich im Selbstmitleid suhlen. Das kann ich nicht wirklich nachvollziehen und es macht mich ärgerlich, mich durch so viele Seiten voller Gefühle des Scheiterns zu quälen. Es ist ja nicht so, dass diese Personen aus zeitgebundenen Gründen sich nicht hätten befreien können, wie zum Beispiel Menschen in ständischen Gesellschaften.

    Die gebundenen Tergit-Ausgaben sind auch von Schöffling, ebenfalls gut gebunden, ordentlich lesbares Schriftbild, zwar keine Erläuterungen, die durchaus nützlich gewesen wären, aber alle Bände haben gute Nachworte jeweils von Nicole Henneberg.

    Ror Wolf, Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie. Tagebuch 1966–1996. Heute abgeholt und gleich mal reingelesen. Bin begeistert (auch wenn ich mich etwas über den Kommentar wundere, der scheint's auf S. 21 mit Fußnote 49 vergessen hat, dass er praktisch den identischen Text schon einmal in der Fußnote 26 auf S. 14 gebracht hat. Naja.)

    Besser einmal zu viel als zu wenig. Ich wundere mich öfters, wie die Herausgeber einen Text und seine Kommentierungsnotwendigkeit bewerten. Oft findet man ganz einfache Dinge erklärt und dann tauchen plötzlich Zusammenhänge auf, die man nicht ohne sehr spezielles Hintergrundwissen einordnen kann, aber das bleibt unkommentiert.

    Ich lese im Moment den kommentarfreien Roman "Es geht uns gut" von Arno Geiger, wieder mal gut abgehangen (bereits 2007 angeschafft), ein sehr interessanter Familien- und Zeitroman, spielt in Wien zwischen 1938 und 2001 und erzählt in Kapiteln, die jeweils einen Tag als symptomatisch für ein ganzes Jahrzehnt beinhalten, die Geschichte einer gut situierten Familie und ihrer Beziehungen.

    So ganz warm bin ich noch nicht mit dem Erzählstil sowie dem Personal,und einige Anspielungen verstehe ich tatsächlich nicht, vielleicht wäre da Ösi-Spezialwissen nötig.

    Aber lohnenswert ist die Lektüre auf jeden Fall.

    Wenn wir hier jedoch 1000 Leute wären, dann wären aber immer welche davon in München, andere in Hamburg, wieder andere in Berlin und ich aus der Mitte Deutschlands würde (fast) überall hinfahren, wenn ich für den Autor brenne.

    Wenn wir hier tausend Leute wären und diese mehr Freizeit hätten, dann wäre ja vieles hier anders. Ich zum Beispiel interessiere mich sehr für Jonathan Franzen, aber da ich noch arbeite, kann ich nicht mal eben so nach Lübeck reisen. Früher gab es hier im Ruhrgebiet auch mehr hochkarätige Lesungen, da gab es zum Beispiel das Harenberg-Center in Dortmund, dessen Namensgeber ein klassischer Mäzen war und dementsprechend sehr vielversprechende und auch berühmte Leute zu Konzerten und Lesungen geholt hat. Aber gone, gone, gone ... .
    Wenn wir hier im Forum mehr wären, würden auch die einzelnen in ihren Interessenssegmenten mehr Gleichgesinnte finden, aber wir sind eben ein sehr kleiner Kreis.
    Was schade ist, denn in dem Wiener Tamino-Klassikforum, das sich allerdings um Klassische Musik dreht, sind so viele Leute in regem Austausch, dass man da von Renaissance-Musik bis hin zu Zwölfton, von sakralen Chorwerken bis hin zur Operette eine überreiche Auswahl an Themen findet, in denen hochkarätige Laien, aber auch viele Berufsmusiker schreiben. Aber für kanonische Literatur und Belletristik im anspruchsvollen Segment sowie zu hebende Schätze interessieren sich anscheinend weniger Leute. Vielleicht liegt das auch daran, dass es nicht so viele Jobs in diesem Bereich gibt oder Leute mit solchen Jobs schon genügend reale Kontakte für einen intensiven Austausch haben.

    Ich wusste, der Name der Autorin sagt mir etwas. Den "Käsebier" gab's vor kurzem bei der Büchergilde. Ich habe ihn aber nicht gekauft und jetzt ist er offenbar weg. Je nun ...

    Gibt's aber noch in dem Verlag, der auch die Effingers veröffentlicht hat, als Taschenbuch, also nicht so teuer. Habe ich mir gestern organisiert.

    Ich kannte sie auch nicht, habe den Roman vor zwei Jahren zum Geburtstag bekommen und wie bei mir meist, jetzt gut abgehangen gelesen. Sie hat noch einen Roman "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" geschrieben, der wohl zu seiner Zeit ein ziemlicher Erfolg war. Er spielt wohl vorwiegend im Pressemilieu.

    Gabriele Tergit: Effingers – ein grandioser Zeitroman




    Der fast neunhundertseitige Familienroman von Gabriele Tergit (d.i. Elise Hirschmann., verh. Reifenberg, 1894-1982) erschien zum ersten Mal nach langen Schwierigkeiten bei der Verlagssuche stark gekürzt 1951 und wurde zuletzt 2019 bei Schöffling & Co. in der ungekürzten Form wieder aufgelegt.


    Was für ein Roman!

    Die Autorin knüpft explizit an die „Buddenbrooks“ an, und sie braucht den Vergleich keineswegs zu scheuen. Ihr Thema ist die Geschichte zweier assimilierter jüdischer Kaufmannsfamilien zwischen 1878 und 1948. Die spannend erzählte und gleichzeitig sprachlich, motivisch und szenisch kunstvoll und sehr modern anmutende Geschichte um den jüdischen Beitrag zum deutschen Wirtschafts- und Kulturleben und seinen Untergang im Holocaust und dessen Vorbereitern beginnt bei einer Uhrmacherfamilie im fiktiven Kragsheim in Süddeutschland und führt uns mit einer der Hauptpersonen, dem jungen Paul Effinger, nach Berlin, denn in Kragsheim kann er seine unternehmerischen Pläne im konservativen Herzogtum nicht durchsetzen. Paul gründet mit seinem lebenslustigen Bruder Karl zunächst eine Schraubenfabrik, aus der später eine bekannte Autofabrik wird, wie sie der Vater der Autorin auch gegründet und aufgebaut hatte. Tergit baut sehr viele autobiografische Elemente aus ihrer und der Familie ihres Mannes ein, weshalb der Roman sehr authentisch wirkt. Die beiden Brüder heiraten in eine jüdische Bankiersfamilie, die Goldschmidt/Oppners ein, die den zweiten personalen Pfeiler des Romans stellen. Nun erleben wir mit den zahlreichen Mitgliedern dieser Familie (ein vorgesetzter Stammbaum erleichtert die Orientierung) die Gründerzeit, den Abstieg Bismarcks und die chauvinistische Regierungszeit Kaiser Wilhelms Zwo, die Jugendbewegung um die Jahrhundertwende, Jugendstil, Expressionismus, Frauenbewegung, den Ersten Weltkrieg, die schwierigen Jahre der Reparationszahlungen und der Inflation und schließlich das Aufkommen des Nationalsozialismus mit seinem später auch staatlich organisierten Antisemitismus bis hin zum Holocaust.


    Lotte Effinger, die Tochter Pauls kann in den Zehner Jahren studieren und wird dann eine erfolgreiche (Film)schauspielerin, an ihr wie an anderen weiblichen Romanpersonen wird das erstarkende Selbstbewusstsein der Frauen gezeigt, die doch immer wieder mit dem Chauvinismus des zunächst preußischen Militarismus, dann aber auch der zum Teil bereits ins Nationalpathetische überdriftenden Jugendbewegung konfrontiert werden.

    Schließlich erleben wir Leser die grausame Demontierung und Verdrehung aller Leistungen der deutschen Juden mit, und ein großer Teil des noch lebenden Romanpersonals wird schließlich deportiert. Doch gibt es auch Fluchten sowie den Staat Israel, dessen damaligen zionistischen Bestrebungen aber auch kritisch beleuchtet werden.


    Diese Kritik erfolgt aber nie auktorial und fast nie im Erzählerkommentar, sondern die Charakterisierung der Personen und ihrer Einstellungen zeigt sich überwiegend in den Dialogen und der detailreichen Schilderung ihrer Umgebung. So wird uns auch das Interieur und die Mode jener Zeiten nebenbei vor Augen geführt.


    Trotz des Umfangs und der hohen Komplexität wird einem hier auf keiner Seite langweilig und keine hätte weggekürzt werden dürfen. Ich kann diesem Roman und seiner Autorin nur wünschen, dass er endlich in unserem literarischen Bewusstssein ankommt und eine breite Rezeption erfährt. Uns entginge sonst nicht nur ein großartiges Stück deutscher Literatur, sondern auch ein sehr wichtiger Beitrag zur deutsch-jüdischen Geschichte.



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    Gerade lese ich "Effingers" von Gabriele Tergit und bin sehr angetan. Die vor kurzem wiederentdeckte Journalistin und Schriftstellerin Elise Hirschfeld, verh.Reifenberg, (1894 bis 1982) veröffentlichte unter dem Pseudonym Gabriele Tergit diesen Roman in den Fünfziger Jahren und fand nur wenig Beachtung, obwohl das Werk von der Presse gelobt wurde.
    Das lag wohl auch am Stoff: Tergit schrieb einen Zeitroman über eine jüdische Familie von den Siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis in die Vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Effingers und Oppners sind eine Bank- und Fabrikantenfamilie und spiegeln das Leben des assimilierten Judentums im Berlin jener Zeit wieder. Vielleicht hatten die Menschen in den Fünfzigern, als die Aufarbeitung des Holocaust gerade erst begann, wenig Lust, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Und so ist ihnen ein großartiger Roman entgangen.
    Tergit lässt ihr Personal reden und denken, ohne je in den Erzählerkommentar zu verfallen. Dadurch wird der Leser mit einem vielfältigen Chor von Stimmen aus dem jüdischen Handels- und Bildungsmilieu konfrontiert, die sich mit den Ereignissen der Zeit, dem Lebensgefühl der Belle Epoque, des Jugendstils und im Weiteren ( so weit bin ich noch nicht) wohl auch mit den darauffolgenden Ereignissen auseinandersetzen. DIe Effingers, die in die Familie der Oppners, der Bankiers, einheiraten, sind zwei Brüder, die im Berlin der 1880er eine Schraubenfabrik gründen und später eine Autofabrik betreiben. Durch die Sichtweise des jüngeren Bruders Paul, eines echten Selfmademans, erfährt man auch einiges über die technischen Entwicklungen jener Zeit und die Zukunftseuphorie, die durch die zahlreichen Entwicklungen und Erfindungen zum Tragen kam. Gleichzeitig aber bedrängt das autoritäre Regime der neu gekürten Preußenkaiser, der Militarismus und wieder aufkommende Antisemitismus die freiheitlichen Bestrebungen des Bürgertums. Nun befinde ich mich gerade in den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts und inmitten einer müden Jugend, die keine Lust mehr zum kaufmännischen Treiben ihrer Väter hat, aber gleichzeitig auch keinen eigenen Sinn findet.

    Ein toller dicker Roman von mehr als 800 Seiten, der sich sehr lohnt.


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    Nun, das beruhigt mich. Vielen Dank, sandhofer für deine Antwort und auch für die Arbeit, die ja dennoch immer wieder mal besteht. Auch wenn hier nicht immer so viel los ist, ist dieses Forum doch mein Dreh- und Angelpunkt für Kontakte zu Menschen, die auch Klassiker oder gehobene Literatur im Allgemeinen lieben. Die meisten anderen Foren machen das nur so nebenher und meist (soweit ich andere Foren kenne) weniger qualitativ hochwertig.


    Ein Hoch auf die Nutzer*innen hier, muss auch mal sein!!:laola:

    Mit viel Vergnügen habe ich Peter Ustinovs "Der alte Mann und Mr.Smith" zu Ende gelesen. Gott und Teufel auf Erden zu Besuch, um den Stand der Schöpfung live zu erleben: in Washington und dann um die ganze Erde verfolgt vom FBI. Geschliffene Dialoge auch noch in der Übersetzung und ein großes Vergnügen vorallem für diejenigen, die das Zeitkolorit der Endachtziger, Anfangneunziger voll mitbekommen haben.