Beiträge von finsbury

    Ein altes Taschenbuch meines Vaters von 1959 beinhaltet drei Theaterstücke des österreichischen Volksdichters Johann Nepomuk Nestroy (1801-1862). Zumindest das TItelstück, "Der böse Geist Lumpazivagabundus", der sich noch an die Tradition der Wiener Zauberstücke anschließt, aber schnell sehr irdisch und satirisch wird, werde ich lesen, vielleicht auch noch die beiden anderen Stücke. Das biografische Vorwort war schon mal sehr interessant. Es gibt einen EInblick in die nachmozartische Wiener Theaterwelt und zeigt den umtriebigen Nestroy als Komödiendichter, vor allem aber auch genialen Schauspieler und erfolgreichen Geschäftsmann.

    Ach soo .. . Aber du hast schon Recht. So ab dem Teil, wo sich der Bräutigam Plettenberg einmischt, wird es ein bisschen spießig, weil dessen Bräutigamsgefühle nicht verletzt werden sollen. Die Figur ist sowieso etwas widersprüchlich, und vielleicht ist es symptomatisch, dass der Briefroman mit Plettenbergs Beitrag abbricht.

    Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) ist heute vor allem noch für seine Sturm und Drang - Dramen "Der Hofmeister" und "Die Soldaten" bekannt. Er hat aber auch einiges an Prosa, Lyrik und Sachtexten verfasst.

    Ich las jetzt sein kurzes Romanfragment "Der Waldbruder", das Schiller posthum 1797 in seiner Zeitschrift "Die Horen" veröffentlichte. Das Manuskript stammt aber schon von 1776.


    Im "Waldbruder" persifliert Lenz recht gekonnt Goethes Werther, indem er einen jungen Mann mit dem angenommenen Namen Herz (sic!), einen unehelichen Sohn der Zarin Katharina, selbstmitleidig in Liebesweh um eine unerfüllte Liebe versinken lässt. Herz lernt seine Geliebte - eine bereits verlobte Gräfin - durch einen Briefwechsel mit seiner Zimmerwirtin kennen und verliebt sich in ihren Charakter, wie er sich in den Briefen spiegelt. Als er erkennt, dass sich diese Liebe nicht erfüllen kann, flüchtet er in die Einsamkeit des Odenwaldes, um ganz seinem Liebesweh zu leben. So romantisch, so unspektakulär. Interessant wird das Ganze dadurch, dass das Geschehen sich in einem Briefwechsel verschiedener Personen spiegelt, die direkt mit Herz, aber auch untereinander korrespondieren.
    Die Hauptrolle spielt dabei Herzens älterer Freund Rothe, der Goethe nachgebildet ist und der diesen als augenzwinkernden Intriganten und Epikuräer ausweist. Die munteren Kommentare zu Herzens Herzeleid machen dem Leser Spaß. Das Fragment ist leider nur einige dreißig Seiten dick, ganz plötzlich verliert Lenz die Lust zum Weiterschreiben, warum, das erläutert der Kommentar in meiner Ausgabe nicht. Ein nettes kleines Stück Prosa mit einigen funkelnden Passagen.

    Ich habe vor Jahren die Version gelesen, die Schiller in seinen Horen gebracht hat. Weisst Du zufälligerweise, ob und (falls) wie sehr Schiller daran herumgedoktert hat? Ich fand den ersten Teil (Jahrgang 1797, 4. Stück) ganz interessant, den zweiten (1797/5) dann ziemlich belanglos unzusammenhängend - als hätte Lenz den Faden verloren.

    In meiner (Hanser-) Ausgabe von Lenz' Werken in einem Band steht Folgendes zur Textgeschichte in den Anmerkungen:

    Der Druck des unvollendeten Romans in den Horen geht zurück auf ein Manuskript in Goethes Besitz, das dieser wohl vor Lenzens Abreise aus Weimar im November 1776 von ihm erhalten hatte und das er Schiller auf dessen im Brief vom17. Januar 1797 geäußerten Wunsch hin am 1. Februar zukommen ließ.


    Über irgendwelche Eingriffe Schillers in den Text habe ich nichts gefunden. Meine Ausgabe enthält allerdings nur die ersten vier Stücke - endend mit einem Brief von Herzens Rivalen Plettenberg. Vielleicht hat ja tatsächlich Schiller ein fünftes Stück dazu gedichtet.


    Mir hat das Werkchen ganz gut gefallen, es ist an vielen Stellen schön ironisch und nimmt auch Goethe selbst in seinem Alter Ego Rothe mit seiner doch oft epikureischen Lebensweise ganz gut auf den Arm.

    Ich habe jetzt ein Romanfragment von Jakob Michael Reinhold Lenz begonnen "Der Waldbruder" - eine Art Werther-Persiflage, in der Goethe selbst verschlüsselt als Briefpartner "Rothe" des unglücklich verliebten und deshalb in die Einsamkeit des Waldes gezogenen "Waldbruders" mit dem treffenden Nachnamen "Herz" auftritt. Ganz interessant zu lesen.

    Seit gestern Morgen bin ich auch durch mit dem Roman, bei Gelegenheit werde ich noch die ursprüngliche Variante der beiden letzten Kapitel lesen, will mir jetzt aber nicht den Leseeindruck dadurch verwirren.
    Nachdem ich das Nachwort vollständig zur Kenntnis genommen habe, ist mir erst aufgefallen, wie viele Anspielungen ich überlesen habe. Meine Lektüre Dostojevskijs und Tolstojs liegt leider schon sehr lange zurück. Obwohl wir "Die Dämonen" vor ziemlich genau zehn Jahen hier in einer Leserunde gelesen haben, ist mir schon wieder soviel entfallen, dass ich Zusammenhänge nicht erkannt habe, die das Nachwort aufführt. Insofern war es durchaus erhellend.

    Das letzte Drittel des Romans hat mir am besten gefallen. Es zeigt zum einen mehr die Auswirkungen des Bürgerkrieges auf die einzelnen und die Familie, zum anderen schärft es gerade dadurch den Blick auf die einzelnen Charaktere.
    Die letzten beiden Kapitel sind ein rauschhafter Höllenritt durch wirklich Geschehenes und Delirien, es werden viele Dinge verschlüsselt und erst später klar, wie Nikolkas Auftritt als Bolschewist, und man meint manchmal durch ein Hieronymus Bosch- oder Goya-Gemälde zu streifen, so farbig und intensiv sind die Szenen herausgearbeitet.
    Die beiden Schlusskapitel in der Ur-Fassung sollen ja wohl Netze spinnen zu den beiden geplanten Folgebänden, die es dann nie gab. Deshalb will ich jetzt erstmal das furiose Ende der erschienenen Fassung sacken lassen.

    Auch ich danke euch für die interessante Leserunde, klaus und b.a.t. und dir letzterem für deine Anregung, diesen Roman zu lesen. Bisher haben mich alle Werke Bulgakovs, die ich gelesen habe, beeindruckt, wobei dieses das am schwierigsten zu lesende war, weil mir der geschichtliche Hintergrund und die zum Verständnis der vielen literarischen Anspielungen nötige Sicherheit in den russischen Klassikern fehlten.

    Was mich auf jeden Fall erstaunt, ist, dass mich ein Herr Putin und die häßliche Fratze, die er der Welt zur Zeit von Russland präsentiert, nicht davon abhält, mich mit russischer (oder russischsprachiger) Literatur zu befassen. Zumal viele der Schätze, die da noch warten, ja von Dissidenten stammt. So war es mit der deutschen Literatur auch einmal.

    Es wäre auch zu schade, wenn man sich von so einem Machtmenschen und seinen Verbrechen an der Menschlichkeit davon abhalten ließe, die kulturellen Leistungen der Russen aus dem Blick zu verlieren. Sie gehörten, gehören und werden wieder zu dem Konzert europäischer kultureller Leistungen gehören. Wir verurteilen doch nicht einen Dostojevskij, Tolstoj, Samjatin oder Bulgakow oder all die anderen sowie all die vielen Russen, die ebenfalls unter diesen Zeiten leiden, bloß ein größenwahnsinniger Diktator und seine fetten Maden ihre perversen Machtspielchen treiben.

    Tja, ihr beiden seid mir sehr vorausgeeilt. Ich bin erst vor zwei Stunden von den Osterreisetagen zurückgekehrt, wo sowohl für das Lesen als auch das Schreiben kaum Zeit blieb. Und viele Tippfehler von dem Schreiben auf dem Tablet musste ich gerade erstmal korrigieren.

    Inzwischen bin ich genau vor der langen Rückblende, die wohl Turbins Verletzung erklärt und von der du, klaus, oben schreibst.

    Nach den ganzen Kampfszenen und verwirrenden Militär"possen" bin ich jetzt ganz froh gewesen, zusammen mit den Turbins und ihrem sehr aufmunternden Überraschungsbesuch Lariossik wieder in der gemütlichen, leicht schäbigen Wohnung zu sein. Trotz Turbins Fieberfantasienist es gut, dem Kriegsgeschehen für einen Moment entkommen zu sein und sich im übersichtlichen Familienkreis zu bewegen. Und wie Bulgakow hier wieder schildert! Er kann wirklich gut Atmosphäre erzeugen, welcher Art auch immer. Lariossik mit seiner Tollpatschigkeit ist eine Art Buffo-Figur, die ein wenig die Ängste der Geschwister um ihren älteren Bruder ablenkt. Er fühlt sich hier sicher und wohl, ein starker Kontrast zu dem im Wundfieber liegenden Alexej. Und mit seinen Ungeschicklichkeiten verschafft er einiges Ungemach, wie Nikolkas Handverletzung, wird aber dennoch als ein Zugewinn, auch von den Geschwistern, empfunden.

    Ich bin gespannt, welche Einsichten die Rückblende jetzt bringt.

    Direkt gegenüber der Uni gab (und gibt es wohl noch) es ein "modernes Antiquariat" vom Platzhirsch Bouvier (im Volksmund "Billig-Bouvier" genannt, ich hab in Bonn studiert). Da wurden so ein, zweimal im Monat LKW-weise Bücher angeliefert, tonnenweise Suhrkamp- etc. Remittenden, aber auch immer wieder große Lieferungen an DDR-Klassiker-Ausgaben. Ein Paradies!

    Wie nett! Das habe ich gerade erst gelesen, als ich auf diesen älteren Thread gestoßen bin, der mir seinerzeit entgangen ist.

    Die Grundlagen meiner Büchersammlung wurden ebenfalls im gleichen Etablissement gelegt, weil ich auch in Bonn studiert habe. Auch ich habe in den leinengebundenen günstigen Aufbau- Ausgaben geschwelgt, die dort zuhauf angeboten wurden und viele von diesen habe und benutze ich heute noch. Es gab damals in den Siebzigern / Anfang Achtzigern auch viele Klassiker im ominösen Manfred Pawlak- Verlag, davon habe ich z.B. noch einige Bände Dostojevskij und die Märchen des Musäus.Diese Ausgaben hatten wenigstens einen halbwegs vernünftigen Anmerkungsteil im Gegensatz zu vielen heutigen Billigklassikerausgaben.

    Carl Zuckmayer erwähnt Lernet- Holenia in seiner Autobiografie mehrfach und zitiert auch ein sehr berührendes Gedicht von ihm. Leider bin ich unterwegs, kann daher die Stelle nicht suchen, hole ich aber zu Hause nach.

    Sehr modern, aber noch mehr verwirrend ist auch der ständige Wechsel der Zeitebene: Wir bewegen uns immer bis zur Nacht des vierzehnten auf den fünfzehnten Dezember, aber es wird häufig zurückgeblendet und das zusamen mit den immer neuen Figuren und Militäreinheiten gestaltet die Lektüre wirklich herausfordernd.

    Ich bin jetzt auch im zweiten Teil angelangt, wo anscheinend zunächst mal die Perspektive zu den Petljurow- Angehörigen wechselt.

    Mir gefällt Bulgakows Szeneriebeschreibung sehr: Der nächtliche Glanz des alten Gymnasiums als Militärquartier, die unheimliche Dunklheit des Terrassenparks setzt sich auch in meinen Augen zu einem expressionistischen Film, mehr als zu einem Theaterstück, zusammen. Aber dem Inhalt zu folgen ist nicht einfach, da hast du Recht, klaus.

    Und nicht nur, weil der Autor die Kenntnis de verwickelten politischen und militärischen Verhältnisse voraussetzt, sondern auch, weil er die Leser, zusammen mit seinen Romanfiguren, absichtlich verwirrt, wie an der Schlussszene des ersten Teils deutlich wird, als der Oberst verkündet, die Division habe sich aufzulösen, ohne dies zu erklären und erst nach Studzinskis empörtem Versuch, eine Verhaftung zu veranlassen, mit der Wahrheit herausrückt. Und wer jetzt eigentlich die drei waren, die in dem dunklen Park gewartet haben, ist mir nicht klar geworden.

    Nun noch eine kurze Fortsetzung zu meinen Leseeindrücken: Tatsächlich lichtet sich der politische Nebel und man durchschaut so manches, wobei viele Dinge bisher auch verborgen bleiben, z.B dass die deutsche Besatzungsarmee dieses Hetman-Amt geschaffen und mit einer ihr zusagenden Lokalgröße, der die alten Strukturen verkörpert.

    Interessant sind auch die expressionistischen Elemente in der Schilderung und die ständige Hyperbel z.B. bei der Beschreibung der STADT. Warum schreibt der Autor nie Kiew und das Wort groß? Die Stadt wird dadurch zur Zentralmetapher.

    Ja, aber manchmal muss man ja auch auf inhaltliche Fakten verweisen, um den Überbau zu verstehen. Wir haben jedenfalls kein Problem hier damit.
    Ich bin heute Nacht bis S. 90, Beginn Kapitel 6 gekommen. Auch mich hat der Traum Alexejs zum Lachen gereizt, mit diesem Gottesbild hätte ich auch weniger Probleme als mit dem kirchlich vorgeschriebenen. Und ansonsten gilt in diesem Himmel für Jeden Glücklichwerden nach eigener Fasson: Der Soldat führt sein Soldatenleben weiter - hoffentlich ohne Krieg aber mit Tross und Frauen.

    Kann jetzt gerade nicht weiterschreiben Reisevorbereitungen ...

    Ich lese die gleiche Ausgabe wie b.a.t. und muss deshalb auch viel surfen: Bei speziellen Fragen können wir uns ja dann an dich wenden, klaus.
    Ich wäre übrigens auch nicht dabei, wenn es nicht "Die weiße Garde" geworden wäre, weil ich Bulgakows "Meister ..." und die "Teufeliaden" vor nicht allzu vielen Jahren gelesen habe.

    Bulgakows ironischer Ton ist schon immer sehr schön und auch das Interieur beschreibt er sehr liebevoll. Mir hat die Schilderung des Vermieters, sowohl mit seiner Verstecktaktik als auch der genervten Reaktion auf die Sause bei den Turbins viel Spaß gemacht. Ich muss heute und morgen recht viel erledigen, danach fahren wir auf Verwandtenbesuch und dann noch ein paar Tage zum Erholen, hoffe ich komme aber auch weiterhin voran und kann entsprechend posten. Nach dem ersten Schock über die vielen, mir zunächst unverständlichen politischen Anspielungen bin ich jetzt sehr froh, dass wir diesen interessanten Roman zusammen lesen. Ich bin auf S. 62 der Luchterhand-Ausgabe-

    Talberg ist eindeutig ein Hetman.

    Myschlajewski und die Turbins sind ebenso Hetmans und fürchten die Erstürmung der Stadt durch die Petljura.

    Alexej Turbin, der Arzt ist wohl Bulgakow sehr ähnlich.


    Die Bolschewiken sind noch nicht so weit vorgedrungen, die kämpfen noch in Russland.

    zunächst mal vielen Dank für die erhellende Zusammenstellung. Aber die Turbins lehnen Talbergs Hetman- Abzeichen ab, anscheinend trauen sie dem Skoropadski nicht (Kap. 2 als Talberg eintrifft).

    Ja, ein komplizierter, unübersichtlicher Anfang. Ich habe mir gerade erstmal ein Hörspiel ergoogelt und gehört, das von Kiew 1918 handelt und das mir etwas mehr Aufschluss über die ganze Situation damals gegeben hat, die übrigens wohl bis heute ihre Auswirkungen hat und auch in den jetzigen Krieg hineinreicht.
    Ich finde die politischen Zugehörigkeiten sehr schwierig zu verstehen. Alle sind bis jetzt einig in ihrer Ablehnung Petljuras, aber ansonsten verstehe ich nicht, wer wozu gehört. Der Mann Jelenas, Hauptmann Talberg arbeitet bei irgendeinem Generalstab, des Hetmans vielleicht? Der älteste Sohn, Alexej, ist im Sommer, kurz vor dem Tod der Mutter, aus dem Krieg heimgekehrt, als Angehöriger noch der zaristischen oder schon der Roten Armee? Der Jüngste, Nikolka, trägt die Unteroffiziersabzeichen eines Infanteriebataillons, und der halb erfrorene Leutnant und Hausfreund Myschlajewski kämpft unter irgendeinem Obersten, der seine Leute im Stich lässt, aber gegen wen?

    Schön wird die Wohnung und die Atmosphäre dort geschildert, man kann sich dort sofort hineinfühlen, und die Krakeleien auf den Ofenfliesen spiegeln die unübersichtlichen politischen Verhältnisse und auch die Verwirrungen, die diese anscheinend nicht nur beim Leser, sondern auch in den Hirnen der jungen Bewohner anrichten.