Beiträge von finsbury

    Kapitel 1.2: Diese unspektakuläre Versöhnung hat mich sehr überrascht, weil sie gerade zu Beginn des Romans kommt. Dramaturgisch betrachtet wäre doch da ein längerer Prozess zu erwarten gewesen...? Da bin ich ja mal gespannt, wie es weitergeht und wozu der Sohn im weiteren Verlauf der Geschichte "gebraucht" wird.

    Der Anfang von Kapitel 1.3 hat mich etwas verwirrt. Schon wieder ein Familientreffen anlässlich Junes Verlobung? Und dann sagen noch die einen zu den anderen, sie hätten sich lange nicht gesehen? Da war ich wohl gestern Abend zu müde zum Lesen und muss das nochmal anschauen...

    Na, da wird noch so viel passieren, dass Galsworthy den jungen Jolyon recht bald mit ins Spiel bringen muss. Er ist schließlich der Gegenspieler von Soames und einer der wichtigsten Protagonisten der Geschichte. Die "Forsyte Saga", also der Romanzyklus, den wir hier miteinander lesen, ohne die Nachfolger, umfasst ja schon locker drei Generationen.

    Ich habe auch nochmal in 1.3. nachgeschaut und kann dich nur bestätigen, Vogelbeere: Mrs. Small -Tante Juley - ist bei beiden Verlobungseinladungen dabei, und es ist immer noch Sommer, so ewig kann es also nicht her sein, dass sie ihren Bruder Swithin nicht gesehen hat. Aber bei den drei alten Schwestern, die bei Timothy wohnen, ist ja anscheinend die Tratsch- und Klatschbörse der Familie, so dass sie vielleicht erwarten, die Geschwister in kürzeren Abständen zu sehen.


    Ich bin mit dem ersten Teil fertig und habe immer noch das Gefühl, als hätte ich das Ganze gestern erst gelesen.


    Galsworthy geht ziemlich hart mit den Forsyte-Männern ins Gericht, was deren Haltung zu den Frauen angeht, insbesondere der James -Soames-Arm des Stammbaums. Zitat aus der Sicht von James, als er Irene und Soames besucht (1.6) über Irene:
    Sie war wirklich ein recht einnehmendes kleines Ding. ; sie hörte einem zu und schien zu verstehen, was man sagte.

    Kein Wunder, dass Irene sich unter diesen Vorzeichen der Verdinglichung als Mrs. Soames Forsyte nicht wohlfühlt. Für Soames ist sie ja auch nur Teil seiner Besitzmasse, und er ist erstaunt, dass sie ihn nicht liebt, da er doch sauber und reich ist und sie (bisher) nicht gewalttätig behandelt.

    Das neue Haus in Robin Hill ist für Soames einerseits eine Möglichkeit, Irene abseits der Fährnisse Londons und ihrer aufmüpfigen Freundin June zu kasernieren, andererseits eine Möglichkeit, seine Wohlhabenheit nach außen hin mit einer kleinen Prise Exklusivität zu repräsentieren. Bosinney spielt raffiniert mit den letzteren Gefühlen, als er Soames seinen modernen Entwurf, der eigentlich nicht zu dessen konservativer Einstellung passt, schmackhaft macht. Der erste Teil endet mit dem Tod und der Beerdigung von Tante Anne, der ältesten Forsyte, und macht daher nun symbolisch Platz für die mittlere Generation, die bis auf Soames und Bosinney bisher wenig in Erscheinung getreten ist.


    Jetzt mache ich langsamer weiter, weil ich nebenher noch eine andere Leserunde habe. Aber die Lektüre macht mir großen Spaß!

    Auch ich habe das Gefühl, als hätte ich das Buch erst gestern zum letzten Mal zugeschlagen. Das erste Kapitel ist sicherlich ein wenig herausfordernd aufgrund des Familiengemäldes mit den charakterisierenden Pinselstrichen, das Galsworthy vor uns entstehen lässt. Du hast Recht, Zefira, wenn du von "einer furchtbar bornierten, dünkelhaften Sippe" sprichst. Das ist ja gerade der Spaß daran, diese Eigenschaften in den kleinen Pinselstrichen wiederzufinden, so wenn James zum Beispiel dem Porzellan die Echtheit streicht oder alle den jungen, mittellosen Architekten neugierig, aber abfällig beäugen. Gegenseitig sind sie auch keineswegs freundlich zueinander, sondern sehen sich wohl als Zusammenschluss gegen die Nicht-Besitzenden dieser Welt, können es aber nicht ausstehen, wenn der eine Bruder erfolgreicher ist als der andere und versetzen einander ständig kleine Nadelstiche.
    Im nächsten Kapitel sehen wir dann aber auch die Menschen hinter den Karikaturen. Der alte, verwaiste Jolyon, der seinen Sohn seit fünfzehn Jahren nicht gesehen hat, weil er sich aus Gründen der Sittlichkeit für seine Enkelin und gegen seinen ehebrechenden Sohn entschieden hat. Ein aufrechtes Denkmal seines gewinnorientierten Lebens, der daran gewöhnt ist, alles mit materiellen Maßstäben zu messen, dem aber die Einsamkeit über dem Kopf zusammenschlägt. Aber er findet am Ende des Kapitels zu seinem Sohn zurück, ganz unspektakulär und nüchtern, wie es für die Kaufmannsfamilie typisch ist.

    "Die Strudlhostiege" gehört auch zu meinen absoluten Lieblingsromanen. In der Sprache kann man sich verlieren.


    Habe gerade für mein Projekt ein Sachbuch ausgelesen, das mir viel Vergnügen und einiges Wissen eingebracht hat:
    Günter Ogger: Die Gründerjahre - Als der Kapitalismus noch jung und verwegen war.


    Das passt auch ganz gut zum Geschlecht der Forsytes, von denen z.B. Soames ja ein wahres Prachtexemplar des Kapitalisten ist.

    Vielen Dank für die Einrichtung der Fäden. Ich freue mich auf Samstag. Grundlage meiner Lektüre ist meine Uralt- Ausgabe aus den 70ern mit der überarbeiteten Übersetzung von Luise Wolf. Laut Eintrag habe ich den Roman 1974 zum ersten und bis jetzt letzten Mal gelesen. Aber einzelne Szenen habe ich damals öfter gelesen.

    Ich denke, es kommt immer darauf an, w i e ein Schriftsteller das tut. Wenn er die spannende Handlung sich nur ausdenkt, um jemanden anderen bloßzustellen und dabei Realität und Fiktion verstrickt, um damit eine angebliche Wahrheit auszudrücken, ist das sicherlich problematisch. Aber man denke an Proust, an Goethes "Römische Elegie", übrehaupt an die Lyrik und an hunderte andere Werke, da hat persönliche Betroffenheit sehr oft auch zu großen und auch künstlerisch gültigen Leistungen geführt.


    Das laute mehrmalige Vorsprechen halte ich auch für eine gute Methode. In meinem früheren Beruf musste ich hin und wieder Vorträge halten, das habe ich immer durch lautes Vorsprechen zu Hause vorbereitet und bin dabei manch einer unglücklichen Wendung noch rechtzeitig auf die Spur gekommen. Das ist aber natürlich fern jedes künstlerischen Anspruchs gewesen :clown:.

    Das ist ein interessantes Gedicht von Gernhardt. Bedenkenswert.
    Ganz schlau bin ich nicht aus Woolfs weißglühendem Schreiben geworden. Ich denke, sie meint damit, dass man zwar den Furor der handelnden Personen darstellen darf, aber dass persönliche Betroffenheit nicht durchschimmern sollte, auch nicht das eigene Geschlecht. Ihrer Meinung nach ist der beste Schriftsteller androgyn, vereinigt also weibliche und männliche Zugänge zu Weltsicht und schöpferischem Akt.
    Was ihren eigenen Gestaltungswillen angeht, so habe ich in meiner Ausgabe dazu ein ganz interessantes biografisches Detail gelesen. Woolfs Haushälterin in ihrem Landsitz Monkhouse war am Anfang ihrer Tätigkeit sehr irritiert. Das Bad lag direkt über der Küche. Wenn Virginia ihr Morgenbad nahm, hörte die Haushälterin immer Stimmen aus dem Badezimmer, als würden dort mehrere Personen miteinander sprechen. Leonard Woolf klärte sie dann auf, seine Frau spreche die Sätze ihrer Romane, die sie in der Nacht verfasst habe, um ihren Klang und ihre Struktur zu prüfen. Man merkt ihren Büchern diesen sehr intensiven Gestaltungsdrang auch an.
    Dennoch wird man heute bestimmt anders darüber denken, wie weit ein Schriftsteller sich auch persönlich in seinen Werken entäußern darf.

    Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein (1929)


    Dieser aus zwei Reden Woolfs an Colleges für Frauen in Cambridge und Oxford entstandene Essay gehört heute zu den Grundlagentexten der feministischen Literatur.


    Inhalt
    Eine nicht eindeutig zuordenbare Ich-„Erzählerin“ wird von einem Frauencollege damit beauftragt, einen Vortrag über „Frauen und Literatur“ zu halten. Sie geht über den Rasen eines der berühmten Colleges in „Oxbridge“ und wird sofort von einem Pedell verwiesen, dass Frauen auf dem Rasen nichts verloren hätten. Bei einem Abendessen dort genießt sie feine Speisen und gute Weine, nimmt teil an einer Gesellschaft selbstbewusster Herren und ihrer dekorativen Damen. Ein weiteres – sehr einfaches - Essen an dem Frauencollege macht ihr die Unterschiede zwischen der traditionsreichen und wohlsituierten Welt der Männercolleges, die durch die Zuwendungen ehemaliger Studenten reich gehalten werden, und den jungen Frauencolleges bewusst, die aufgrund mangelnder Gelder kaum zurande kommen, ihre wissenschaftlichen Belange zu finanzieren und daher erst recht keinen Aufwand für das Wohlleben treiben können.

    Nebenher reflektiert sie, was denn überhaupt in so einen Vortrag über „Frauen und Literatur“ hineingehöre und geht – nach London zurückgekehrt – ins British Museum, um die massenhafte Literatur zum Thema Frau zu sichten, natürlich nur von Männern verfasst. Dabei fällt ihr auf, dass Frauen immer nur in Bezug auf etwas Anderes, am meisten in Bezug auf den Mann, in den Blickwinkel geraten und oft sehr negativ in Hinsicht ihrer geistigen Begabungen und moralischen Festigkeit beurteilt werden.

    Darauf beschließt sie, erst einmal mit den materiellen Bedingungen anzufangen, die eine Frau bräuchte, um literarisch tätig zu werden: 500 Pfund im Jahr und ein Zimmer für sich alleine. Damit wären zwei wesentliche Dinge beseitigt, die Frauen seit Jahrtausenden von schöpferischer Tätigkeit abhielten: finanzielle Abhängigkeit, ja sogar Armut, und die Beschränkung auf den familiären Raum, in dem sie nicht allein ist und jederzeit für häusliche und familiäre Tätigkeiten beansprucht werden können. Selbst Jane Austen noch hatte kein Zimmer für sich und verfasste ihre Romane im Wohnzimmer, jederzeit bereit, die Schriften vor den Eintretenden zu verbergen.

    Die Erzählerin nimmt nun eine fiktive, ebenso talentierte Schwester Shakespeares an, die sie Judith nennt. Judith kann nicht, wie ihr Bruder, die Schule besuchen, darf nicht allein nach London an die Theater gehen, und wenn sie es doch täte, würde sie an den Theatern abgewiesen oder vielleicht von einem lüsternen Agenten sexuell ausgebeutet, so dass ihr schwanger nur der Suizid bliebe.

    Die Reise durch die Zeit geht weiter, über die erste Berufsschriftstellerin im 17. Jahrhundert Aphra Behn zu den im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert veröffentlichenden Dramatikerinnen Joanna Baillie und Mary Russell Mitford bis hin zu den großen Romandichterinnen des 19. Jahrhunderts Jane Austen, den Bront‫es und George Eliot. Aber bei allen diesen Schriftstellerinnen mit Ausnahme von Jane Austen meint die Erzählerin, dass sie trotz eindeutig großer Begabung durch großen Zorn –hervorgerufen durch ihre materiell und sozial demütigende Stellung – in ihren Formulierungen nicht das leisten, was ihr Potential ihnen ermöglichen würde: das „weißglühende“ Schreiben, wie es Shakespeare, aber auch Austen auszeichne.

    Es komme nun für ihre Zuhörerinnen – die Studentinnen - auf Zweierlei an: erstens die historische Situation der Frauen zu untersuchen und ihn unter einem nicht von Männern beeinflussten Blickwinkel darzustellen, zweitens an einer Gesellschaft zu arbeiten, die es Frauen ermöglicht, materiell und sozial auf eigenen Beinen zu stehen, damit sie ungehemmt ihre Talente in alle möglichen Richtungen entfalten können.


    Stil und meine Meinung
    Woolf verfolgt in ihrem Essay eine sehr persönliche, zunächst verwirrende Darstellungsweise. Situativ gebunden nähert sie sich ihrem Thema mäandrierend, und auch die merkwürdige unbestimmte Ich-Erzählerin erleichtert das Verständnis nicht. Sobald sie in die historische Untersuchung der Schriftstellerinnenschicksale geht, wird sie konkreter und ihr Anliegen präziser. Zum Ende hin finde ich allerdings diese verschwurbelte Art, wie sie die Darstellungskunst, ja die Satzkonstruktionen ihrer historischen und zeitgenössischen Schrifstellerinnen-Kolleginnen beurteilt, anstrengend und ungenau. So erklärt sie nicht, warum sie Sätze, zum Beispiel von Charlotte Bronte, „zerbrochen“ findet. Sobald Frauen ihre eigene eingeschränkte Lage in ihren Schriften thematisieren, schwäche das ihre literarische Leistung, hört man heraus. Das kann man aus heutiger Sicht sicher nicht mehr so unterschreiben.

    Insgesamt eine sehr interessante und wichtige Arbeit, aber der impressionistische Stil und die starke persönliche Bindung bis hin zum Bewusstseinsstrom, die ihre Romane so großartig machen, schwächen ein wenig die Argumentation in dem Essay.

    Dieser Roman gehört zwar aufgrund seiner erzählerischer Mängel eigentlich nicht ins Klassikerforum, arrondiert aber den historischen Aspekt meines diesjährigen Projekts sehr schön, weil er sich mit Spionage und dem Wettrüsten der Flotten von Großbritannien und Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs beschäftigt.


    Gerhard Seyfried: Verdammte Deutsche!


    Jetzt lese ich Virginia Woolfs zentralen Essay: Ein Zimmer für sich allein.

    "Des deutschen Spießers Wunderhorn" habe ich hier auch noch in einer schönen antiquarischen Ausgabe liegen. Mal sehen, könnte dieses Jahr sogar in mein Projekt passen, ist aber ein ganz schöner Wälzer. Bisher habe ich den "Golem" und "Das grüne Gesicht" gelesen, wie du oben schreibts, Leibgeber, was für Fans des Unheimlichen, nicht so sehr mein Ding.

    Einen Roman von Gerhard Seyfried, dem Comiczeichner der SIebziger und Achtziger Jahre:
    "Verdammte Deutsche", interessante und historisch gut recherchierte Geschichte über die Spionage-Hysterie bei den Briten gegenüber den Deutschen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Diesen Aspekt der Vorkriegsgeschichte kannte ich bisher noch gar nicht.

    Fräulein Else (1924)


    Die junge Else, Tochter eines spielsüchtigen jüdischen Juristen und seiner naiven Frau, befindet sich mit Tante und Cousin in einem Hotel in den italienischen Alpen. Sie bekommt einen Expressbrief von ihrer Mutter aus Wien, die sie bittet, bei dem auch im Hotel weilenden Freiherrn Dorsday 30 000 Gulden zu erbitten, die sofort an einen Gläubiger des Vaters überwiesen werden sollen, andernfalls lande dieser im Schuldgefängnis. Dieser habe schon einmal dem Vater mit 8000 Gulden aus der Klemme geholfen. Das junge Mädchen, die den ältlichen Lebemann Dorsday äußerst unangenehm findet, grübelt darüber nach, ob sie ihn um das Geld bitten solle, denn sie weiß, dass ihr Vater wegen seiner Spielsucht dauernd in solche Krisen kommt, weswegen er auch niemand anderen mehr um Geld bitten kann. Else, die sich ansonsten darüber Gedanken macht, wen sie attraktiv findet und wie sie ihre Sinne ausleben würde, wenn sie frei wäre, wehrt sich innerlich gegen das Ansinnen der Eltern, bittet den Freiherrn dann aber aus Angst, ihr Vater könne sich das Leben nehmen, doch um das Geld. Dieser, der bereits die früher geliehenen 8000 Gulden verloren hat und weiß, dass er auch den jetzt zu leihenden Betrag nie wiedersehen wird, knüpft die Überweisung an eine Bedingung, die ihm seine Lüsternheit stellt: Er möchte, dass sich ihm Else in der gleichen Nacht um 12 Uhr für eine Viertelstunde nackt präsentiert. Else weist ihn zwar nicht sofort ab, ist aber empört und beschäftigt sich mehrere Stunden damit, wie sie der Situation entkommen könnte. Schließlich beschließt sie, sich öffentlich nackt zu zeigen, um damit der Forderung nachzukommen und den Freiherrn zu beschämen. Sie sucht ihn – nur mit ihrem langen Mantel bekleidet, im Musikzimmer auf und zeigt sich allen dort Versammelten nackt, bekommt einen Lach- und Schreianfall und fällt scheinbar in Ohnmacht. Ihre rasch herbeigerufenen Verwandten lassen sie notdürftig bedeckt auf ihr Zimmer bringen, wo sie sich in einem unbewachten Moment mit Veronal vergiftet, das sie sich schon vor der Aktion bereitgestellt hatte. Kurz nach der Einnahme möchte sie noch gerettet werden, kann sich aber nicht mehr artikulieren und dämmert weg.


    Auch diese Novelle ist – wie „Leutnant Gustl“ - wieder vollständig als innerer Monolog geschrieben, das äußere Geschehen wird ausschließlich zeitgleich aus den Gedanken Elses geschildert. Ihr Bewusstseinsstrom zeigt ein intelligentes und sinnliches junges Mädchen, das sich die Freiheit wünscht, sich ihre(n) Partner selbst zu wählen und das nun durch die Forderungen ihrer Eltern, die sich durchaus denken können, dass der Freiherr so eine große Summe nicht so ohne weiteres hergeben wird, sich verschachert sieht, ohne dass sie das Schicksal ihres Vaters grundsätzlich würde ändern können. Der Leser erlebt die Tragik hautnah mit, wie ein junger Mensch an den Konventionen der Zeit und dem Egoismus seiner Nächsten zerbricht. Eine intensive und sehr berührende Erzählung.


    Spiel im Morgengrauen (1927)


    Leutnant Willi Kasda wird eines Morgens von einem ehemaligen Kameraden, der aufgrund von Spielschulden unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde, aufgesucht. Dieser – inzwischen verheiratet, Vater und oft in finanziellen Nöten – hat mehrfach Gelder aus der Kasse des Büros, wo er jetzt arbeitet, „entliehen“. Nun droht eine Revision und er muss so schnell wie möglich an 1000 Gulden kommen. Er weiß, dass Willi aus armen Verhältnissen stammt, aber einen wohlhabenden Onkel hat. Kasda klärt ihn nun darüber auf, dass er vom Onkel keine Zuwendungen mehr bekommt und dieser auch den Kontakt zu ihm abgebrochen habe. Aber vielleicht – er fahre am Sonntag nach Baden (bei Wien), dort nehme er häufiger an einer Spielerrunde teil - winke ihm ja das Glück und dann könne der Kamerad die 1000 Gulden haben. In Baden gewinnt Willi zuerst mit seinen 120 Gulden, die er noch hat, wird dann immer risikobereiter, hat zwischenzeitlich 5000 Gulden gewonnen und verliert diese dann in der letzten Viertelstunde des Spiels an einen Honorarkonsul aus dubiosen Verhältnissen, der ihm obendrein sein Geld zum Spielen zur Verfügung stellt. So hat Willi innerhalb dieser kurzen Zeit nicht nur sein Geld und seinen Gewinn verspielt, sondern noch 11 000 Gulden Spielschulden gegenüber dem Konsul angehäuft. Dieser nimmt ihn zwar in seiner Kutsche in der Nacht nach Wien mit zurück, besteht aber auf Rückzahlung der Ehrenschuld bis zum Mittag des übernächsten Tages. Andernfalls melde er Willi dem Regiment, was zu seiner Entlassung führen würde. Willi ist verzweifelt und besucht seinen Onkel. Dieser aber hatte inzwischen geheiratet, eine junge Frau, mit der Willi mal eine Liebesnacht gehabt hatte und die danach Prostituierte wurde. Diese Frau hat den Onkel nur unter der Voraussetzung eines Ehevertrags geheiratet, der das Vermögen auf sie überschreibt und ihm nur eine geringe monatliche Rente sowie das Wohnrecht in seinem ehemals eigenen Haus überlässt. Willi besucht darauf diese Frau, die als Geschäftsfrau arbeitet und das Vermögen anlegt und vermehrt. Sie reagiert freundlich, aber zurückhaltend auf seine Bitte und will es sich bis zum Abend überlegen, dann werde sie ihm Nachricht schicken, ob er das Geld haben könne. Abends kommt sie selbst zu ihm in die Kaserne und die beiden verleben noch einmal eine gemeinsame Nacht. Am nächsten Morgen aber gibt sie ihm nur 1000 Gulden, denn er hat ihr nach der ersten Nacht auch 10 Gulden hingelegt als Lohn, obwohl sie sich ihm aus Zuneigung hingegeben hatte. Die 1000 Gulden schickt er durch seinen Burschen zu seinem ehemaligen Kollegen, damit der wenigstens gerettet ist und erschießt sich. Kurz darauf kommt der Onkel mit den restlichen 10 000 Gulden, die ihm seine Frau doch noch gebracht hat.

    Im Gegensatz zu den meisten der hier vorgestellten Geschichten handelt es sich um eine an äußeren Handlungen reiche Erzählung. Aber auch hier schildert Schnitzler, wie ein junger, eigentlich ganz vernünftiger Mensch an einer einzigen Übersprungshandlung scheitert und letzten Endes daran zugrunde geht, dass er selber in der Vergangenheit konventionell gehandelt hat, indem er die junge Frau, ohne nachzudenken, wie eine Hure behandelt hatte. Nun muss er selber sterben, weil die Frau sich scheinbar rächt, die militärischen Konventionen eine Ehrenschuld nicht gestatten und er für sich keinen anderen Ausweg außerhalb des Militärs sieht, dem schon sein Vater und Großvater angehörten.



    Fazit:

    Schnitzler ist ein Erzähler des Scheiterns an einer empathielosen, dünkelhaften Gesellschaft, die den Konventionen eine viel stärkere Bestimmung über das Individuum gestattet als es über sich selbst hat.

    Der blinde Geronimo und sein Bruder (1900)


    Carlo hat in seiner Jugend unabsichtlich seinem kleineren Bruder Geronimo das Augenlicht durch ein Blasrohr genommen. Um dies zu büßen, bricht er seine Lehre ab, besteht darauf, dass sein Bruder das Gitarrenspiel erlernt und begleitet diesen, der dazu recht gut singen kann, beim Betteln in Oberitalien. Sie sind im Spätsommer im Hof eines Gasthauses an einem Alpenpass in Südtirol und betteln bei den vorbeiziehenden Reisenden, die einen Aufenthalt zum Pferdewechsel haben. Ein Reisender wirft in Carlos Dose, der immer das Geld einsammelt, einen Franc, behauptet aber gegenüber Geronimo, als Carlo für einen Moment abgelenkt ist, er habe 20 Francs in Form eines Goldstücks dort hinein geworfen und der Blinde solle aufpassen, dass er nicht betrogen werde. Dann reist er weiter. Geronimo verdächtigt nun seinen Bruder, ihm den Goldtaler unterschlagen zu haben, um ihn zum Beispiel mit der Wirtsmagd durchzubringen. Carlo kann ihn von diesem Verdacht nicht abbringen und ist verzweifelt, weil er nun bemerkt, dass sein ganzes Opfer an Geronimo abprallt und dieser ihm gegenüber schon immer misstrauisch war. So stiehlt er zwei Reisenden, die im Gasthaus übernachten, in der Nacht einen Goldtaler aus der Börse und gibt ihn seinem Bruder am sehr frühen Morgen, nachdem dieser aufgewacht ist. Der aber meint weiterhin, dass Carlo ihm bestimmt schon viel Geld unterschlagen habe und diesen Goldtaler jetzt nur herausrücke, weil Geronimo sich das nicht mehr gefallen lasse. Carlo ist zutiefst enttäuscht, dass der Diebstahl für umsonst war, sorgt aber erstmal dafür, dass beide aus dem Wirtshaus verschwinden, bevor die bestohlenen Reisenden wach werden. Auf dem Weg hinab ins Tal werden sie von einem Gendarmen angehalten, der sie auf die Wache mitnimmt, weil die Benachrichtigung des Diebstahls schon per Telegramm ins Tal gemeldet wurde. Geronimo merkt nun, was sein Bruder um seinetwillen getan hat und entschuldigt sich durch einen Kuss, womit die Geschichte endet.

    Ich fand die Erzählung spannend und gleichzeitig tieftraurig. Die sinnlose Aufopferung des älteren Bruders und die tiefe Gruft zwischen den Geschwistern wird ganz zurückhaltend beschrieben, ohne dass der Autor zu viel auf der Gefühlsorgel spielt. Als am Ende die Verhaftung droht, ist man trotzdem erleichtert, weil das Verhältnis zwischen den Brüdern endlich in Ordnung scheint.


    Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg (1903)


    Schon seit zehn Jahren ist der Freiherr von Leisenbohg in die Sängerin Kläre Hell verliebt und unterstützt ihre Karriere, wo er kann. Er reist ihren Engagements hinterher und ist bei ihren Vorstellungen regelmäßig dabei. Dennoch erhört ihn Kläre nicht, sondern unterhält in diesen Jahren ganz offen Liebesbeziehungen zu den unterschiedlichsten Männern. Die letzten drei Jahre über ist sie mit einem Grafen zusammen, der bei einem Reitunfall so schwer verletzt wird, dass er in ihren Armen stirbt. Kläre setzt nach zwei Monaten ihre Karriere fort, ist aber anscheinend zutiefst traurig über den Tod dieses Geliebten und geht keine neue Beziehung ein. Da erscheint ein stattlicher norwegischer Tenor, Sigurd, der auf Wagner-Rollen spezialisiert ist, sich sehr für sie interessiert und sich auch mit Leisenbohg anfreundet, welcher weiterhin immer in Kläres Nähe weilt. Auch für diesen Kollegen, der für Spirituelles sehr empfänglich ist, scheint die Sängerin nichts zu empfinden, im Gegenteil, in der Nacht, bevor der Norweger abreist, erhört sie endlich Leisenbohg und wird seine Geliebte. Dieser schwebt am nächsten Tag, von der Geliebten heimgekehrt, auf Wolke sieben, muss aber schon am Nachmittag erfahren, dass sie mit unbekanntem Ziel abgereist ist. Unruhig fährt er durch die Welt, bis ihn ein nachgeschickter Brief Sigurds erreicht, der ihn dringend zu sich nach Norwegen bittet. Der Freiherr folgt der Aufforderung und findet einen gealterten Sänger vor, der sich wegen irgendetwas quält. Er vertraut Leisenbohg an, dass er seit dem Tag nach seiner Abreise aus Wien der Geliebte von Kläre war, aber sie verlassen musste, weil sie ihm mitteilte, ihr verstorbener Geliebter habe den ersten Mann, dem sie sich nach seinem Tode hingebe, verflucht, einen frühen Tod zu sterben und in die Hölle zu fahren. Als der Freiherr das hört, bekommt er einen Schlaganfall und stirbt. Sigurd schreibt einen erleichterten Brief an Kläre und bittet sie zu sich.


    Die Pointe dieser Geschichte am Ende ist sehr gelungen, ansonsten hat sie mir nicht so viel gegeben. Ich finde sie auch nicht so stimmungsvoll wie die anderen Erzählungen.

    Lieutenant Gustl (1900)


    Der 25jährige Leutnant Gustl verbringt einen Abend im Oratorienkonzert, weil ihm sein Kamerad dessen Karte überlassen hat. Gustl langweilt sich bei dieser ihm ungewohnten Veranstaltung und hängt seinen Gedanken nach, über das morgige Duell gegen einen jüdischen Anwalt, der eine sehr moderat abwertende Bemerkung über die Offiziersehre gemacht hatte und seine Geliebte Steffi. Nach dem Konzert rempelt er in der Schlange vor der Garderobe aus Eile einen vor ihm Stehenden an und beleidigt ihn. Der aber - der Leutnant erkennt ihn als einen Bäcker, der im gleichen Kaffeehaus verkehrt wie er - greift Gustls Degen , raunt ihm leise zu, er solle sich beruhigen und bezeichnet ihn als „dummer Bub“. Auch droht er ihm, seinen Degen zu zerbrechen und Skandal zu machen, wenn sich Gustl jetzt nicht beruhige, alles so leise, dass es die Umstehenden nicht hören können. Bevor Gustl noch reagieren kann, ist der Bäcker verschwunden. Gustl ist zutiefst betroffen, da er von jemandem in seiner Offiziersehre beleidigt wurde, der nicht satisfaktionsfähig ist und sieht als einzigen Ausweg den Selbstmord, denn der Bäcker könnte ja die Geschichte weiter erzählen, und auch vor sich selbst scheint Gustl mit der Erinnerung nicht leben zu können. Der junge Leutnant begibt sich in den Prater und verbringt dort in Gedanken versunken die Nacht. Am nächsten Morgen will er noch kurz in seinem gewohnten Kaffeehaus frühstücken, bevor er sich auf seinem Zimmer erschießt, seine Waffe liegt dort im Nachtschränkchen. Da erfährt er von dem Kellner, dass den Bäcker gestern Nacht einem Schlaganfall erlegen ist. Erleichtert legt Gustl seine Selbstmordgedanken ad acta und geht zum Alltag über.

    Die Erzählung wird vollständig aus der Innensicht Gustls erzählt – die Einführung des Bewusstseinsstroms in die deutschsprachige Literatur beginnt genau hier, um einiges früher vor den berühmten angelsächsischen Autoren wie Joyce und Woolf, die diese Technik vervollkommnen. Die Selbstmordgedanken des jungen Leutnants und ihre Begründung wirken auf den Leser wie Satire, obwohl Gustls tiefe Betroffenheit überall deutlich wird, wenn er auch immer wieder abschweift. Es ist eine den Niedergang der KuK-Gesellscha
    ft sehr genau erklärende Fallstudie.

    "Die Toten schweigen" hatte ich als Gymnasiastin in einem Lesebuch, ich erinnere mich ganz gut. Besonders an den Begriff "Franz Josefsland", mit dem ich damals nichts anfangen konnte. Ich weiß auch noch, dass mir die Geschichte auch nicht besonders gefiel, ich fand dieses "die Toten schweigen" (das, meine ich mich zu erinnern, der Frau in Gegenwart ihres Ehemannes versehentlich über die Lippen kam) so pompös.

    Lustig, genau die beiden Sachen sind mir auch aufgefallen. Mit Franz-Josef-Land hatte ich bisher die arktische Inselgruppe verbunden, weshalb ich kurzfristig irritiert war. Dass die Frau ausgerechnet diese Phrase, die auch im Titel steht, ausspricht, scheint mir auch eher unwahrscheinlich. Sie kann sich auch etwas weniger hochgestochen verraten.
    Aber insgesamt sind Ehe - und andere Beziehungsgeschichten nicht so mein Genre, weshalb Schnitzler, obwohl er sehr gut erzählt, wohl nicht zu meinen Lieblingsschriftstellern zählen wird.

    Ich habe mir den Band mit Erzählungen von Arthur Schnitzler nun ganz vorgenommen, aus dem ich im letzten Jahr die Novelle "Casanovas Heimkehr" las und vorstellte. Die anderen Erzählungen werde ich in dem Schnitzler-Thread auch kursorisch vorstellen.
    Daneben lese ich weiterhin das Sachbuch "Die Gründerjahre" von Günter Ogger, dessen Zeitraum sich zum Teil mit meinem Projekt überschneidet, aber auch wertvolle Informationen darüber gibt, auf welcher Grundlage die neuen literarischen Strömungen der Achtziger und Neunziger des vorletzten Jahrhunderts entstanden sind.