Beiträge von finsbury

    Hugo von Hofmannsthal: Jedermann (UA Berlin 1911)


    Dieses durch die Salzburger Festspiele weltberühmt gewordene Drama (Aufführung vor dem Dom seit 1920) des Wiener Schriftstellers Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) trägt den Untertitel „Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ und ist die sehr freie Nachdichtung eines englischen Dramas aus dem 16. Jahrhundert, wobei sich der Autor noch einige andere Anregungen aus einem Hans Sachs-Drama und anderen unterschiedlichen europäischen Schauspielen vergangener Jahrhunderte geholt hat.


    Zum Inhalt
    Im Vorspiel spricht Gott, der von den Menschen und ihrer Nichtachtung des Glaubens und seiner Gebote erzürnt ist , mit dem Tod und fordert ihn auf, Jedermann (sic!) vor sein göttliches Gericht zu bringen.


    Dieser, der reiche Bürger Jedermann hat seine Freunde, Verwandten und Geliebte „Buhlschaft“ zu einem Bankett mit Musik und Gesang eingeladen. Vorher begegnet er noch einem armen Nachbarn und seiner Mutter. Dabei wird klar, dass er kein Herz für die Armen hat und die Vorwürfe seiner Mutter, dass er kein gottgefälliges Leben führe und die Ewigkeit bedenken solle, auf die leichte Schulter nimmt. Während des Banketts überkommen ihn merkwürdig Ahnungen, die seine Geliebte und die Trinkgenossen nicht nachvollziehen können. Doch plötzlich erscheint der Tod, kündigt ihm sein Ende und das göttliche Gericht an. Der verzweifelte Jedermann sucht unter seinen Gefährten jemanden, der ihn auf diesem letzten Gang begleitet. Aber alle wenden sich schaudernd ab und flüchten. Allein gelassen und vom Tod mit einem kleinen Aufschub bedacht, beschließt der zum Tode Verurteilte, wenigstens seine irdischen Güter mit ins Grab zu nehmen, wird aber von Mammon, der seiner Geldtruhe entsteigt, ausgelacht, denn dies alles bleibt im Diesseits, ist für immer verloren . Verzweifelt und nun völlig allein wird Jedermann von einer weiblichen Allegorie angesprochen, seinen Werken. Da er kaum etwas Gutes vollbracht hat, ist sie entsprechend schwach. Als aber Jedermann endlich Anzeichen von Reue und Einsicht zeigt, begleiten sie und ihre Schwester Glauben Jedermann zum Grab. Dort wartet der Teufel auf ihn, wird aber durch die beiden Allegorien abgewiesen. Jedermann habe zum wahren Glauben zurückgefunden und sei gerettet.


    Stil und meine Meinung

    Das Drama ist im archaisierenden Stil eines Mysterienspiels verfasst und meist in Knittelversen gereimt. Hofmannsthal wollte damit seinen Mitmenschen grundlegende Werte in ihrer abendländischen Tradition vermitteln.


    Ich kann mir vorstellen, dass das Stück vor der historischen Kulisse des Doms in Salzburg großen Eindruck erweckt, als Lesedrama hat es mich nicht überzeugt. Es wirkt auf mich künstlich archaisierend, und wenn die Literaturkritik dem Drama auch eine gültige überzeitliche Aussage über das falsche menschliche Streben attestiert, finde ich es doch sehr stark religiös gebunden und auch am Ende die Rettung der Seele von Jedermann als viel zu einfach erzielt. Das ist mein erster Text von Hofmannsthal und ich hoffe, mit den anderen mehr anfangen zu können.

    Wow, Proust im Original! Ich ziehe den nicht vorhandenen Hut vor dir, b.a.t. Ich habe die sieben Bände auf Deutsch zu Anfang der Neunziger gelesen, die ersten vier Bände sehr genossen und durch die drei letzten habe ich mich wirklich durchgequält, und das jetzt auch noch auf Französisch!


    Ich bin gegen Kürzungen bei großen Werken, aber ich kann dich gut verstehen. Mir ist - wie oben beschrieben - auch einiges auf den Wecker gegangen. Jedes Mal, wenn Ulrich anhebt, die Welt zu erklären, habe ich mir - nach dem ersten Teil des ersten Buches - da war's ja noch neu - gedacht, ach nö, nicht schon wieder, weil die Grundtendenz -versehnen mit einigen schönen satirischen Spitzen gegen die jeweiligen Gesprächspartner, ja immer die gleiche ist, wenn Musil es auch versteht, seine Gedanken meisterhaft zu sezieren.

    Danke für eure Hinweise zur Editionsgeschichte, @ b a.t. und @ sandhofer. Damit muss ich mich noch befassen. Gibt es dazu eine einschlägige Darstellung? Ich dachte, da die beiden ersten Bücher zu Musils Lebzeiten erschienen, seien die Ergebnisse des Lektorats auch von ihm genehmigt worden.

    Ich habe nicht ganz verstanden, wie du deinen Beitrag meinst, @b a.t.. Stellst du dir eine gekürzte Ausgabe vor?

    Nun habe ich mein Leseprojekt abgeschlossen. Es war eine zur Hälfte mühsame, zur Hälfte sehr bereichernde Lektüre. Missfallen haben mir die langen, sich wiederholenden Tiraden Ulrichs über sein Lebensthema Moral und die Unmöglichkeit, Richtlinien für das Leben zu finden. Bewundernd habe ich den Schliff der Musil'schen Sprache und die hohe Kunst genossen, mit der er Satire betreibt. In den satirischen Kapiteln hatte ich auch den meisten Lesespaß. Insbesondere wenn der Name General Stumm von Bordwehr in der Kapitelüberschrift oder irgendwann zwischendurch auftauchte, konnte ich sicher sein, dass ich viel Lesespaß haben würde. Der Roman hat sich gelohnt, war aber auch eine gewaltige Aufgabe.

    In Kapitel 37 wird aus einer Äußerung Feuermauls über den Publizisten Meseritscher, dass dieser die Dinge aneinanderreihe, anstatt sie in Bezüge zu setzen, der Begriff der Idiotie entwickelt, der auktoriale Erzähler kommentiert hier, dass bei allen geistigen Anstrengungen des Einzelnen, die Menschheit als Ganzes oder in ihrer Ausformung als Gesellschaft nur in der Lage sei, die komplexen Dinge aneinanderzureihen und daher niemals über ein komplexes Denken verfügen würde. Dieser Gedanke prägt dann die Betrachtung der Gespräche im weiteren Verlauf der Aktionssitzung, ob es nun um Unterbau und Überbau geht, also die Basis der Gefühle und den geistigen Überbau oder Ulrichs Bonmot, dass „der Gesunde alle Geisteskrankheiten hat und der Geisteskranke nur eine“.

    All dies stimmt darin überein, dass eine Menge von Menschen niemals eine durchgeistigte gemeinsame Linie entwickeln kann und schon der einzelne darin überfordert ist, seinen Unter- und Überbau sinnvoll und lebenserweiternd überein zu bringen, wenn ich das richtig verstanden habe.


    Das letzte Kapitel 38 schließlich treibt Ulrich und Agathe, die sich nun wieder gefunden haben und ihre gegenseitige Anziehungskraft wieder spüren, auf der Suche nach einem abgeschiedenen Plätzchen in die Küche, wo die schwangere und unglückliche Rachel und der den Ereignissen naiv gegenüberstehende Soliman auf Anweisungen zur Versorgung der Gäste warten. Ulrich erläutert Agathe ein weiteres Mal seine Vorstellungen von Moral und einem moralischen Leben, während Agathe ihm von ihrer Begegnung mit dem „guten“ Menschen Lindner vom Nachmittag berichten möchte. Den kann Ulrich aber nicht leiden und spricht ihm das Gutsein ab. Da stürmt General Stumm auf der Suche nach Ulrich in die Küche, und später kommen noch die anderen Protagonisten, Leinsdorf, Diotima, Tuzzi und Arnheim dazu, sodass wir ein Abschlusstableau der Hauptfiguren für die Beendigung des zweiten Buches vor uns haben. Stumm bringt die Nachricht mit, dass nun die pazifistischen und nationalen Kräfte in Gestalt von Feuermaul und Hans Sepp zu einem gemeinsamen Entschluss gekommen seien, dass man sich nur dafür töten lassen dürfe, woran man glaube, aber jeder, der andere Menschen für seine eigenen Ideen in den Tod schicke, ein Mörder sei. In der Auseinandersetzung darüber, wie man diesen Entschluss möglichst verbergen könne, ist Ulrich wieder ganz mit seinen Formulierungskünsten beschäftigt und merkt nicht, dass seine enttäuschte Schwester, die den Moment der Anziehung auf diese Weise zerredet sieht, das Haus verlässt.




    Damit endet der zu Lebzeiten von Musil veröffentlichte Teil des Romans.

    Kapitel 36 schildert weiter den Verlauf der Aktionssitzung und lenkt den Fokus auf Ulrich, Tuzzi, Professor Schwung, die Familie Fischl und natürlich Stumm von Bordwehr. Alle wollen wissen, was es mit der merkwürdigen Kombination von Arnheim, hohen Militärs einerseits und den Pazifisten Feuermaul und Drangsal eigentlich hat. Geschickt lotst Ulrich den General in die Erklärposition, der zwei Strömungen hier wie auch sonst in der Öffentlichkeit ausmacht: den Glauben an das Gute im Menschen mit allen seinen Ausprägungen wie z.B. den Pazifismus sowie der gegenteiligen Position der strengen Überwachung des Menschen zu seinem eigenen Besten durch eine gebildete Schicht leitender Persönlichkeiten. Beides könne aber als zwei Seiten einer Medaille gesehen werden, und dass es dabei auch um ganz handfeste Interessenskoalitionen wie Arnheims Engagement für die galizischen Ölfelder und die damit in Verbindung gebrachte Finanzierung einer neuen Artillerie für Kakanien gehe, sei doch auch ganz passend. In diesem Kapitel entsteht so eine Art Massentableau, fast alle wichtigen Personen des Romans –außer Walter und Clarisse – befinden sich am gleichen Ort.

    Immer wenn der General Stumm auftaucht, kann man sich auf ein humorvoll-satirisches Kapitel freuen. So ist er zu meiner Lieblingsgestalt in diesem Roman geworden. Kapitel 32 führt also den General überraschend und in voller Paradeuniform in Ulrichs Heim, zu dem Agathe noch nicht zurückgekehrt ist. Der General hatte sich auf Ulrichs Anfrage bereit erklärt, einen Besuch in der psychiatrischen Anstalt, die auch Moosbrugger beherbergt, zu arrangieren, und nun kurzfristig eine Einladung für die allernächste Stunde erhalten, obwohl er eigentlich bereits in Galaausstattung für die Audienz bei seinem Chef auf dem Sprung ist. Stumm teilt Ulrich mit, dass er ihn unbedingt über neue Entwicklungen hinsichtlich der Parallelaktion unterrichten müsse, bei deren Planung demnächst etwas geschehen müsse. Die beiden holen die aufgeregte Clarisse und ihren Bruder Siegmund ab und werden nach Ausgabe von weißen Arztmänteln (die sich Stumm über seine Galauniform und –sporen zieht und dementsprechend aussieht) über eine weitläufige Anlage geführt und dabei mit verschiedenen Abteilungen von Geisteskranken konfrontiert. Während der General trotzdem versucht, Ulrich über die kommende Sitzung zu informieren, fühlt sich Clarisse aufs höchste gereizt, kommt sich vor wie „zwischen Philosophie und Ehebruch“. Aber wenn sie auch heimlich denkt, dass die Ärzte die Patienten falsch behandeln, muss sie dennoch unangenehme Erlebnisse auf sich nehmen, als sie ihrerseits Kontakt aufnehmen will. Auch hier begegnet ihr ein Exhibitionist, der sich vor ihr entblößt, andererseits kann sie einen feindseligen Mörder eine freundliche gesellschaftliche Phrase entlocken. Aber bevor sie endlich zu Moosbrugger vordringen, wird der sie führende Arzt zu einem wichtigen Fall abberufen.

    In den folgenden Kapiteln, beginnend mit Kapitel 34 befinden wir uns wieder vor und auf einer Sitzung im Hause Tuzzis und Diotimas. Letztere hat ja eigentlich das Interesse daran verloren, seit sie sich mit den Sexualwissenschaften und der Paartherapie beschäftigt, wird aber von Leinsdorf dringend dazu aufgefordert, eine weitere Sitzung zu veranstalten und dazu auch die pazifistisch gesinnte Frau Professor Drangsal und ihren Schützling, den Dichter Feuermaul einzuladen.

    Kapitel 35 beginnt mit einem ungewöhnlichen Stilmittel. Der auktoriale Erzähler kommentiert seinen eigenen Stil, denn er schwenkt aus der persönlichen Perspektive seiner Figuren auf ein unverbindliches „man“ um, bezeichnet diesen Kunstgriff selbst als Litotes, also als abschwächendes und daher distanzierendes Mittel, um die versammelte Gesellschaft von außen zu betrachten. Mit einem Augenzwinkern kehrt er aber dann wieder zur persönlichen Sichtweise zurück, um das „man“ durch die distanzierende Sichtweise von Regierungsrat Meseritscher zu ersetzen, der sich als Sohn eines Kneipierpaares aus dem Böhmischen zum Gesellschaftsreporter und Zeitungsgründer in der Hauptstadt aufgeschwungen hat, indem er raffiniert sein Presseorgan für Regierungsmitteilungen zur Verfügung stellt, die lanciert, aber nicht mit der Regierung in Verbindung gebracht werden sollen und auf ebensolche Weise Personen der Gesellschaft und Ereignisse schildert, ohne ihnen auf die Füße zu treten und neue gesellschaftliche Aufsteiger erstmal aus den Augen der Presse heraushält. So beschließt er auch, Feuermaul nicht zu beachten, weil er versteht, dass Leinsdorf diesen für gefährlich hält.

    Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick (1931)


    Dieses berühmte Drama von Carl Zuckmayer (1896-1977) trägt den Untertitel „Ein deutsches Märchen in drei Akten“ und behandelt den Husarenstreich eines verzweifelten Ex-Häftlings. Vorbild ist die wahre Geschichte um Wilhelm Voigt, die sich 1906 zutrug.

    Inhalt:

    Wilhelm Voigt wird nach 15 Monaten wieder mal aus dem Berliner Gefängnis Plötzensee entlassen, in das er einst wegen eigentlich lässlicher Jugendsünden gekommen war, für die er 15 Jahre absitzen musste. Danach hatte er in Böhmen in der Schuhindustrie gearbeitet, wollte aber in die Heimat zurück und hatte, weil er keinen Pass bekam, einen solchen gefälscht, deshalb die 15 Monate. Nun möchte er aufgrund einer Entlassempfehlung der Gefängnisverwaltung eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, ohne die er keine Arbeit findet. Die Polizeibehörde, die für die Ausgabe der Aufenthaltsgenehmigung verantwortlich ist, argumentiert aber andersherum, ohne Arbeit keine Genehmigung. Voigt ist verzweifelt und begeht mit einem Gefängniskumpel einen Einbruch in die Polizeiwache, bei dem er erwischt wird und wieder für Jahre in den Bau wandert. Parallel zu Voigts Geschichte verfolgen wir die Stationen einer Hauptmannsuniform von der Anfertigung über verschiedene Eigentümer bis hin zu einem Trödel“juden“. In diesen Szenen werden uns verschiedene Personen der preußisch-berlinischen Gesellschaft auf volkstümliche Weise vorgeführt, von den Offizieren über die Schneiderei, den Bürgermeister von Köpenick als Offizier der Reserve bis hin zu einem öffentlichen Ball für die mittlere Gesellschaftsschicht. Als Voigt nach sechs Jahren wieder aus dem Gefängnis kommt, findet er zunächst Unterschlupf bei seiner Schwester und deren Mann, wird aber auch aus deren Stadtteil ausgewiesen, weil er wieder keine Aufenthaltserlaubnis bekommt. Im Gefängnis hatte Voigt intensiv das Dienstverhalten von Offizieren und Mannschaft beobachten können, weil der Gefängnisdirektor aus Neigung und zur Disziplinierung preußische Militärgeschichte und Exerzieren lehrte. So kommt es, dass Voigt eines Tages in der Uniform, die zuvor durch die Szenen der ersten beiden Akte gewandert war und die er nun beim Trödler erstanden hatte, und mit einem Gefreiten und zehn Soldaten, eine Militärwache, die er kurz entschlossen abkommandiert hat, im Rathaus von Köpenick erscheint, dieses umstellt, den Bürgermeister und Schatzmeister verhaftet sowie die Stadtkasse beschlagnahmt. Dann requiriert er noch zwei Kutschen: Die eine schickt er mit den Verhafteten und eskortiert von den Soldaten ins Polizeipräsidium von Berlin, die andere Kutsche nutzt er zur Flucht mit der Stadtkasse.

    Dieses Husarenstück wird von der Presse und der städtischen Bevölkerung gefeiert und selbst die ermittelnden Beamten bewundern den Coup.

    Später stellt er sich selbst, denn eigentlich wollte Voigt nur die Utensilien besorgen, die er für die Anfertigung eines Passes gebraucht hätte, um aus Preußen ausreisen zu können. Leider aber ist das Rathaus von Köpenick keine passführende Behörde. Er wird im Präsidium mit großer Anteilnahme empfangen und bekommt selbst einen Lachanfall, als er sich zum ersten Mal in der Uniform im Spiegel sieht. Damit endet das Stück.

    Gestaltung und meine Meinung:

    Das Stück ist in drei Akte und insgesamt 21 Szenen aufgeteilt: Erst im Laufe der Szenen wird der Zusammenhang zwischen den Uniformszenen und der Voigt-Handlung klar. Wie Zuckmayer es dabei schafft, einen Querschnitt der urbanen preußischen Gesellschaft rund um Berlin auf entlarvende und dennoch amüsante Weise darzustellen, ist schon ziemlich brillant. Vor allem wenn man dazu die anrührenden, aber niemals kitschig-rührenden Szenen mit Voigt nimmt, der ja ehrlich und arbeitsam sein will, aber aus Gründen verwaltungstechnischer Ignoranz nicht kann, wird deutlich, dass Zuckmayer einer der besten Dramatiker des 20. Jahrhunderts ist. Lesen lohnt sich, denn bei einer Aufführung bekommt man wohl weniger von all den Zwischentönen mit, wobei das Stück natürlich ein Selbstzünder für jede Bühne ist, allerdings wohl heute mit einigen Kürzungen, denn an die vier Stunden würde eine komplette Aufführung wohl dauern.

    Kapitel 31 begleitet Agathe auf ihrem Weg aus Wien ins umliegende Hügelland. Ihr Wunsch, möglichst viel Distanz zwischen sich und Ulrich zu bringen, weil sie sich von ihm zutiefst verletzt fühlt, verändert sich immer mehr zu dem Wunsch, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sowohl Hagauers Brief als auch Ulrichs unempathische Reaktion darauf, seine Kritik an ihrem Verhalten, vor allem dass er sich nicht um sie als Person kümmert, sondern alles ins Allgemeine zieht, haben sie tief erschüttert und ihr Selbstbewusstsein auf Null zurückgefahren. Auf einer Anhöhe sinkt sie am Grab eines Dichters nieder und kommt dabei aber langsam zu sich, als sie ein Herr anspricht. Dieser vermutet, dass sie sich in einer tiefen persönlichen Krise befindet und versucht, ihr Halt zu geben, indem er sie von sich selbst ab- und zu einem tätigen, wertvollen Leben hinlenken will. Das erregt Agathes Widerspruchsgeist und unterstützt ihre wieder erwachende Lebenslust. Sie wehrt sich dagegen, von diesem Herrn Lindner, Gymnasiallehrer und Witwer mit einem Sohn, gedeutet zu werden, hat aber Spaß an der Auseinandersetzung mit ihm. Sie gibt sich als Ulrichs Schwester und Hagauers Gattin zu erkennen; Beide kennt Lindner, sieht sie aber eher als geistige Gegner, da er eine konservative Gesinnung mit entsprechendem Lebensstil pflegt. Agathe lädt ihn zu sich ein, als er das nicht annehmen will, kündigt sie ihm an, ihn zu besuchen, was er skandalös findet. Agathe aber besteht darauf und fühlt sich durch diese Begegnung erfrischt und getröstet.

    Das ist eine schöne Anekdote, Zefira. Genau am Anfang dieser Szene bin ich gerade. Bisher hatte ich dieses wichtige Drama weder gelesen noch den Film mit Rühmann gesehen. Zuckmayer habe ich ja erst vor zwei Jahren mit seiner Autobiografie für mich entdeckt. Das war mal eine gelungene Entdeckung! Bisher hat mir alles gut gefallen und zum Teil wirklich betroffen, obwohl oder gerade weil der Autor es versteht, auch die schlimmsten Umstände mit humorvollen und satirischen Lichtern aufzuhellen.

    "Der Hauptmann von Köpenick" von Carl Zuckmayer amüsiert und erschreckt mich gerade. Amüsiert, weil Zuckmayer in unnachahmlicher Weise - volkstümlich im besten Sinne - seine Charaktere ausstaffiert und in witzigen Dialogen aufeinander loslässt, erschreckt, weil dieses Drama die Unmenschlichkeit der preußischen Verwaltung, von der noch so einiges auch bei uns noch übrig ist, drastisch herausstellt.

    Kapitel 29 bringt wieder Agathes Mann, Professor Hagauer, ins Spiel. Nach einer ganzen Weile, in der er durch berufliche, wissenschaftliche und gesellschaftliche Obliegenheiten abgelenkt gewesen ist, fällt ihm auf, dass seine Gattin eine viel zu lange Zeit von zu Hause wegbleibt. Er schickt Agathe Karten, um sie darauf hinzuweisen und den Grund zu erfragen, bekommt aber keine Antwort. Stattdessen erhält er nach einiger Zeit (wohl als Agathe zu Ulrich gezogen ist) von seinem Schwager einen Brief, in dem dieser ihm mitteilt, dass seine Frau nicht zu ihm zurückkehren würde und die Scheidung wolle. Hagauer schreibt empört zurück, erhält aber nur wieder einen Brief gleichen Inhalts. Nun schickt er seiner Frau einen Brief, in dem er ihr mitteilt, dass er sie für nicht ganz zurechnungsfähig hält, weil sie das Leben mit ihm, der keinen Fehler bei sich finden kann, ablehnt und fordert sie auf, zu ihm zurückzukehren, wobei er am Ende auch auf die Verantwortung gegenüber dem gemeinsamen väterlichen Erbe anspielt.


    Dies veranlasst in Kapitel 30 Agathe, Ulrich den Brief zu zeigen. Sie fühlt sich tief getroffen von Hagauers Beschreibung ihrer geistigen Situation und ist geneigt, ihm zuzustimmen. Anstatt dass Ulrich sie nun tröstet und dagegen argumentiert, stimmt er in Teilen Hagauers Argumentation zu, indem er sie auf die Testamentsfälschung – von der der Schwager ja wohl noch nichts weiß – bezieht. Wie immer verallgemeinert Ulrich seine Unterstellung als typisch für ein Zeitalter, das einen Umbruch moralischen Denkens zu bewältigen hätte, aber gerade diese Abstraktion stößt Agathe eher ab, als hilfreich zu sein. Wie man nun die Fälschung vor Hagauer rechtfertigen könne, was eigentlich das Ziel des Gespräches war, wird nicht konkretisiert, und schließlich verlässt Agathe entnervt und am Boden zerstört das Haus, ohne Ulrich ihr Ziel zu nennen.

    General Stumm besucht Ulrich im 27. Kapitel, und damit ist Agathe für die Gesellschaft entdeckt. Ulrich beschreibt, eher satirisch gemeint, sein Verhältnis zu seiner Schwester als das siamesischer Zwillinge und Stumm macht diesen Begriff zum Schlagwort für die beiden. Agathe kommt aufgrund ihrer Schönheit, Anmut und sicheren Etikette in der Gesellschaft gut an und wird auch von Diotima nach deren anfänglicher Irritation aufgrund ihres überraschenden Auftauchens bald gefördert. Ulrichs Schwester dagegen betrachtet Diotima ganz wohlwollend distanziert: „Sie bestaunte Diotima mit der gleichen Arglosigkeit, wie sie eine riesige Elektrizitätsanlage bestaunt hätte, in deren unverständliches Geschäft, Licht zu verbreiten, man sich nicht einmengt.“ Ist das nicht wieder herrlich treffend ausgedrückt?!


    Kapitel 28 zeigt Ulrichs Villa, die von ihrer Aufteilung her nicht für zwei Personen, die unterschiedlichen Geschlechts, aber kein Ehepaar sind, geeignet ist, so dass sich Ulrich, auch durch das Fehlen einer Kammerzofe, ständig mit den weiblichen Gegenständen und schmückenden Accessoires konfrontiert sieht und seine Schwester in verschiedenen Stadien des Ankleidens begleitet. Für ihn selbst erstaunlich ist ihm dieser Umgang mit Tand und modischen „Notwendigkeiten“ aber nicht lästig, sondern erfreut ihn sogar. Beide kreisen immer noch darum, was sie eigentlich für ein Verhältnis zueinander haben, dass es Liebe ist, ist ihnen klar, aber wie diese sich entfalten soll, nicht. Die Geschwister reagieren darauf unterschiedlich, Ulrich wieder durch analysierendes Hinterfragen, Agathe durch Abwarten und kleine Bemerkungen oder Gesten. Der Bruder will für sie einen neuen, besseren Mann als Hagauer suchen, aber fühlt sich entschieden befremdet dadurch, wie sicher Agathe sich auf dem Markt der Partnerwahl bewegt und wie gut sie dort ankommt.