Hallo zusammen!
Ich bin jetzt ebenfalls mit dem ersten Band durch und muss sagen, das letzte Kapitel (Kapitel IV) hat es echt in sich, vor allem die zweite Hälfte. Ich musste das Ganze drei Mal lesen ehe ich einigermassen den Durchblick hatte. Medardus befindet sich ja am Hofe des Fürsten Alexander, wo er hofft mit dessen Frau in Kontakt zu kommen, welches die Schwester der Äbtissin ist. Aber aus unerklärlichen Gründen scheint die Fürstin tiefes Misstrauen ihm gegenüber zu empfinden, so dass Medardus sich ihr nie richtig zu nähern vermag. Als er diesen Umstand dem Leibarzt des Fürsten mitteilt, gibt ihm dieser ein Miniaturbild in die Hand mit der Aufforderung, es sich genau anzusehen. „Ich tat es, und erstaunte nicht wenig, als ich in den Zügen des Mannes, den das Bild darstellte, ganz die meinigen erkannte.“ Es handelt sich dabei um das Porträt eines gewissen Francesko. „„Und eben diese Ähnlichkeit“, sagte er [der Leibarzt]: „ist es, welche die Fürstin erschreckt und beunruhigt, sooft Sie in ihre Nähe kommen, denn Ihr Gesicht erneuert das Andenken einer entsetzlichen Begebenheit, die vor mehreren Jahren den Hof traf, wie zerstörender Schlag.““ Damit beginnt der Leibarzt Medardus eine Geschichte zu erzählen, die ich mir folgendermassen aufgeschlüsselt habe...
Auftretende Personen:
- Fürst Alexander
- Fürstin (Ehefrau Alexanders)
- ältere Schwester der Fürstin
Anlässlich der Vermählung des Fürstenpaars treten hinzu:
- ein Prinz (Bruder des Fürsten)
- Francesko
- ein Maler
Zwischen dem Prinzen und der jungvermählten Fürstin (der Frau seines Bruders, seine Schwägerin also) kommt es zu einer geheimen Liebschaft, ebenso zwischen Francesko und der älteren Schwester der Fürstin. Das währt so lange bis auftritt:
- eine italienische Prinzessin
Sowohl der Prinz (Bruder des Fürsten) als auch Francesko wenden jetzt die Aufmerksamkeit von ihrem bisherigen Liebesobjekt ab und richten sie stattdessen auf die italienische Prinzessin. Wobei Francesko den Kürzeren zieht: Es kommt zur Vermählung zwischen dem Prinzen und der ital. Prinzessin. In der Hochzeitsnacht findet man den Prinzen tot vor dem ehelichen Schlafgemach. Erstochen. Nach der Aussage einer Zimmerzofe fällt der Verdacht schnell auf den Maler, der aber wie vom Erdboden verschluckt und nicht mehr auffindbar ist.
Nach seinem fehlgeschlagenen amourösen Seitensprung hat sich Francesko wieder der älteren Schwester der Fürstin zugewandt. Die beiden beschliessen zu heiraten. Aber noch vor dem Ja-Wort, schon in der Kirche, erblickt Francesko plötzlich den Maler, wie er an einer Säule lehnt und ihn anklagend anstarrt. Nachdem Francesko vergeblich versucht hat den Maler zu erstechen, erleidet er einen Nervenzusammenbruch und verschwindet anschliessend genauso spurlos wie der geheimnisvolle Maler. Die um ihre Hochzeit gebrachte Schwester der Fürstin, „im Innersten zerrissen von den schrecklichen Begebenheiten, die in so kurzer Zeit auf sie eindrangen“, entscheidet sich ins Kloster zu gehen und wird Äbtissin des Zisterzienserklosters in ***. Die verwitwete ital. Prinzessin hingegen, hat inzwischen einen Sohn geboren und ist im Kindbett gestorben.
Am Ende der Erzählung des Leibarztes muss Medardus erschüttert feststellen, dass er eben dieser Sohn der italienischen Prinzessin ist. Und der Vater? Der Vater ist Francesko... Wie das? Nun, da gibt es im Bericht des Leibarztes eben eine Stelle, über die ich mehrmals hinweggelesen habe, ohne zu bemerken, dass es gerade diese Stelle ist, welche die Lösung des Problems enthält. Vor der Ermordung des Prinzen, am Abend der Hochzeit zwischen ihm und der ital. Prinzessin, spielt sich nämlich eine unscheinbare aber folgenschwere Begebenheit ab, die der Leibarzt mit folgendenden Worten berichtet:
„Nach der Erzählung der Gemahlin des unglücklichen Prinzen, war er, gleich nachdem sie die Kammerfrauen entfernt, hastig ohne Licht in das Zimmer getreten, hatte alle Lichter schnell ausgelöscht, war wohl eine halbe Stunde bei ihr geblieben und hatte sich dann wieder entfernt; erst einige Minuten darauf geschah der Mord.“ (S. 190/1)
Erst nach mehrmaligem Lesen habe ich realisiert, dass dieser „er“, der „hastig [und] ohne Licht [!] in das Zimmer“ der „Gemahlin“ tritt und alle Lichter schnell auslöscht [!], nicht der Ehemann, sondern sein abgeblitzter Rivale Francesko ist... Im Schutze der Dunkelheit holt sich Francesko das, was ihm nicht zusteht: Er vereinigt sich mit der ital. Prinzessin. Als er dann aus dem Zimmer tritt stösst er auf den rechtmässigen Ehemann, den Prinzen, und ersticht ihn.
Aus dieser erschlichenen Hochzeitsnacht geht Medardus hervor ("Klar stand es vor meiner Seele, Francesko war mein Vater..." S. 194), er ist folglich der Sohn Franceskos und der ital. Prinzessin. Jetzt wissen wir also endlich, was es mit dieser „Todsünde“ des Vaters auf sich, von der gleich zu Beginn des Buches gesprochen wird. Weiter weiss der Leibarzt von diesem Sohn nur noch zu berichten, dass er, „die Frucht einer frevelichen, verruchten Tat [...] in entfernten Landen unter dem Namen des Grafen Viktorin erzogen“ wurde.
Das wirft natürlich wieder Fragen auf, bisher sind wir ja davon ausgegangen, dass Graf Viktorin jener Fremde war, der, am Rande eines Abgrund schlafend, in denselben hinabgestürzt ist. Wenn Viktorin in Wirklichkeit aber Medardus ist, wer ist denn da eigentlich ums Leben gekommen?... Ziemlich verwirrend das Ganze...
Dieses vierte Kapitel war für mich echt eine Lektion in Sachen Lesen.
Liebe Grüsse
riff-raff