Beiträge von riff-raff

    Hallo Georg!


    Möchte dir bloss mitteilen, dass ich mich voraussichtlich am 17. Dezember der Lesegruppe zu Albert Camus anschliesse. Ich wäre dann frühesten Ende Januar wieder "frei". - Wer weiss, vielleicht haben sich bis dann noch weitere Interessenten für "Sofies Welt" gemeldet...


    Liebe Grüsse


    riff-raff

    Hallo zusammen!


    Wie sagt man so schön: Tot geglaubte leben länger... - Es gibt mich tatsächlich noch (Gruss an Sandhofer :winken: ) und - ja, Georg, ich bin immer noch an einer Leserunde zu "Sofies Welt" interessiert.
    Gibt es sonst noch Leute, die sich auf kurzweilige Art und Weise auf das Abenteuer Philosophie einlassen möchten? Meldet euch doch!


    Herzliche Grüsse


    riff-raff

    Hallo, zusammen!
    Hallo, nimue!


    Zitat von "nimue"

    ich bin nun seit einigen Tagen schon mit dem Buch fertig und bin überrascht, wie wenig es mir nach dem doch interessanten Anfang letzten Endes gefallen hat. Einerseits bin ich froh, auch diesen Klassiker bewältigt zu haben, andererseits empfand ich die Sprache und die Geschichte selbst als zu konfus und hölzern.


    Du sprichst mir aus der Seele, nimue... Während des Lesens hätte ich das Buch manchmal am Liebsten in eine Ecke geschmissen und vergessen. Jetzt bin ich froh bis zum Schluss ausgeharrt zu haben, aber gefallen hat mir das Buch nicht. Wie du, finde ich die Geschichte sehr konstruiert und an den Haaren herbeigezogen; diese ganzen verwickelten Verwandschaftbeziehungen... :sauer:
    Ich finde, das Buch hat sich überlebt. Vielleicht entsprach es bei seinem Erscheinen dem damaligen Unterhaltungs- und Publikumsgeschmack, aber es fällt mir schwer zu sehen, was es einem heutigen Leser noch zu bieten hat.


    Zitat

    Sehr fragwürdig finde ich immer noch, dass Medardus alles vergeben wird, nur weil er ein bißchen Buße getan hat (wie denn nur?)


    Das sehe ich etwas anders, irgendwie finde ich den Gedanken tröstlich, dass es nichts gibt, was einem bei aufrichtiger Reue und Busse nicht verziehen werden kann. Die Betonung liegt aber auf dem Wörtchen "aufrichtig"; wie leicht es ist, sich in dieser Beziehung selbst was vorzumachen, das erfährt ja Medardus an sich selbst.
    Dass der Roman "moralisch fragwürdig" sei, wie du dich ausdrückst,... - nun ja, eigentlich erwarte ich von einem Buch keine Moralpredigt, aber dass die Kinder für die Verbrechen ihrer Eltern büssen müssen oder wie sehr die rein körperlose und platonische Liebe der sinnlichen vorgezogen und verherrlicht wird...:
    "Es gibt Höheres als irdische Lust, die meistens nur Verderben bereitet dem leichtsinnigen, blödsinnigen Menschen, und das ist jene höchste Sonnenzeit, wenn fern von dem Gedanken frevelicher Begier, die Geliebte wie ein Himmelsstrahl, alles Höhere, alles, was aus dem Reich der Liebe segensvoll herabkommt auf den armen Menschen, in deiner Brust entzündet."
    Bei solch 'gedrechselten' Passagen hatte ich echt Mühe meinen Unmut zurück zu halten.


    Gruss


    riff-raff


    P. S.: Finde es ebenfalls schade, nimue, dass du dich aus dem Forum zurückziehen willst, aber wer weiss, vielleicht ist das nur eine momentane Phase und du meldest dich irgendwann wieder zurück. :winken:

    Hallo nimue!


    Scheint, als sei ich bei meiner Besprechung des 4. Kapitels im 1. Band etwas voreilig gewesen. Ich habe ja mit der Hypothese geendet, Medardus und Graf Viktorin seien ein und dieselbe Person. Wenn man aber liest, was der Leibarzt im 2. Band weiter erzählt, wird klar, dass alles wesentlich einfacher und logischer ist...


    Der Leibarzt zu Medardus/Leonardus:


    "Ist es Ihnen dabei nicht völlig klar worden, dass Francesko verbrecherisch die Italienerin liebte? dass er es war, der vor dem Prinzen in die Brautkammer schlich, und den Prinzen niederstiess? - Viktorin ist die Frucht jener frevelichen Untat. - Er und Medardus sind Söhne eines Vaters." (S. 234)


    Medardus und Graf Viktorin sind also Halbbrüder, sie haben denselben Vater, aber verschiedene Mütter. Viktorin wurde mit der italienischen Prinzessin gezeugt (die in der Dunkelheit Francesko fälschlicherweise für ihren Ehemann hielt) und Medardus zu einem späteren Zeitpunkt mit einer weiteren Frau (dieselbe, die uns zu Beginn des Romans begegnet und zusammen mit dem kleinen Franz/Medardus auf Wallfahrt geht).


    Gruss


    riff-raff

    Hallo nimue!


    Zitat von "nimue"

    Hallo riff-raff,


    tut mir leid, aber ich kann mich erst wieder am Freitag oder Samstag melden, da ich gerade erst nach Hause gekommen bin (keinen Nerv mehr zum Schreiben) und ich morgen und evtl. übermorgen auf Dienstreise bin. Aber Medardus läuft uns ja nicht weg!


    Kein Problem... Bis dann!


    Gruss


    riff-raff

    Hallo zusammen!


    Ich bin jetzt ebenfalls mit dem ersten Band durch und muss sagen, das letzte Kapitel (Kapitel IV) hat es echt in sich, vor allem die zweite Hälfte. Ich musste das Ganze drei Mal lesen ehe ich einigermassen den Durchblick hatte. Medardus befindet sich ja am Hofe des Fürsten Alexander, wo er hofft mit dessen Frau in Kontakt zu kommen, welches die Schwester der Äbtissin ist. Aber aus unerklärlichen Gründen scheint die Fürstin tiefes Misstrauen ihm gegenüber zu empfinden, so dass Medardus sich ihr nie richtig zu nähern vermag. Als er diesen Umstand dem Leibarzt des Fürsten mitteilt, gibt ihm dieser ein Miniaturbild in die Hand mit der Aufforderung, es sich genau anzusehen. „Ich tat es, und erstaunte nicht wenig, als ich in den Zügen des Mannes, den das Bild darstellte, ganz die meinigen erkannte.“ Es handelt sich dabei um das Porträt eines gewissen Francesko. „„Und eben diese Ähnlichkeit“, sagte er [der Leibarzt]: „ist es, welche die Fürstin erschreckt und beunruhigt, sooft Sie in ihre Nähe kommen, denn Ihr Gesicht erneuert das Andenken einer entsetzlichen Begebenheit, die vor mehreren Jahren den Hof traf, wie zerstörender Schlag.““ Damit beginnt der Leibarzt Medardus eine Geschichte zu erzählen, die ich mir folgendermassen aufgeschlüsselt habe...


    Auftretende Personen:


    - Fürst Alexander
    - Fürstin (Ehefrau Alexanders)
    - ältere Schwester der Fürstin


    Anlässlich der Vermählung des Fürstenpaars treten hinzu:


    - ein Prinz (Bruder des Fürsten)
    - Francesko
    - ein Maler


    Zwischen dem Prinzen und der jungvermählten Fürstin (der Frau seines Bruders, seine Schwägerin also) kommt es zu einer geheimen Liebschaft, ebenso zwischen Francesko und der älteren Schwester der Fürstin. Das währt so lange bis auftritt:


    - eine italienische Prinzessin


    Sowohl der Prinz (Bruder des Fürsten) als auch Francesko wenden jetzt die Aufmerksamkeit von ihrem bisherigen Liebesobjekt ab und richten sie stattdessen auf die italienische Prinzessin. Wobei Francesko den Kürzeren zieht: Es kommt zur Vermählung zwischen dem Prinzen und der ital. Prinzessin. In der Hochzeitsnacht findet man den Prinzen tot vor dem ehelichen Schlafgemach. Erstochen. Nach der Aussage einer Zimmerzofe fällt der Verdacht schnell auf den Maler, der aber wie vom Erdboden verschluckt und nicht mehr auffindbar ist.


    Nach seinem fehlgeschlagenen amourösen Seitensprung hat sich Francesko wieder der älteren Schwester der Fürstin zugewandt. Die beiden beschliessen zu heiraten. Aber noch vor dem Ja-Wort, schon in der Kirche, erblickt Francesko plötzlich den Maler, wie er an einer Säule lehnt und ihn anklagend anstarrt. Nachdem Francesko vergeblich versucht hat den Maler zu erstechen, erleidet er einen Nervenzusammenbruch und verschwindet anschliessend genauso spurlos wie der geheimnisvolle Maler. Die um ihre Hochzeit gebrachte Schwester der Fürstin, „im Innersten zerrissen von den schrecklichen Begebenheiten, die in so kurzer Zeit auf sie eindrangen“, entscheidet sich ins Kloster zu gehen und wird Äbtissin des Zisterzienserklosters in ***. Die verwitwete ital. Prinzessin hingegen, hat inzwischen einen Sohn geboren und ist im Kindbett gestorben.


    Am Ende der Erzählung des Leibarztes muss Medardus erschüttert feststellen, dass er eben dieser Sohn der italienischen Prinzessin ist. Und der Vater? Der Vater ist Francesko... Wie das? Nun, da gibt es im Bericht des Leibarztes eben eine Stelle, über die ich mehrmals hinweggelesen habe, ohne zu bemerken, dass es gerade diese Stelle ist, welche die Lösung des Problems enthält. Vor der Ermordung des Prinzen, am Abend der Hochzeit zwischen ihm und der ital. Prinzessin, spielt sich nämlich eine unscheinbare aber folgenschwere Begebenheit ab, die der Leibarzt mit folgendenden Worten berichtet:


    „Nach der Erzählung der Gemahlin des unglücklichen Prinzen, war er, gleich nachdem sie die Kammerfrauen entfernt, hastig ohne Licht in das Zimmer getreten, hatte alle Lichter schnell ausgelöscht, war wohl eine halbe Stunde bei ihr geblieben und hatte sich dann wieder entfernt; erst einige Minuten darauf geschah der Mord.“ (S. 190/1)


    Erst nach mehrmaligem Lesen habe ich realisiert, dass dieser „er“, der „hastig [und] ohne Licht [!] in das Zimmer“ der „Gemahlin“ tritt und alle Lichter schnell auslöscht [!], nicht der Ehemann, sondern sein abgeblitzter Rivale Francesko ist... Im Schutze der Dunkelheit holt sich Francesko das, was ihm nicht zusteht: Er vereinigt sich mit der ital. Prinzessin. Als er dann aus dem Zimmer tritt stösst er auf den rechtmässigen Ehemann, den Prinzen, und ersticht ihn.


    Aus dieser erschlichenen Hochzeitsnacht geht Medardus hervor ("Klar stand es vor meiner Seele, Francesko war mein Vater..." S. 194), er ist folglich der Sohn Franceskos und der ital. Prinzessin. Jetzt wissen wir also endlich, was es mit dieser „Todsünde“ des Vaters auf sich, von der gleich zu Beginn des Buches gesprochen wird. Weiter weiss der Leibarzt von diesem Sohn nur noch zu berichten, dass er, „die Frucht einer frevelichen, verruchten Tat [...] in entfernten Landen unter dem Namen des Grafen Viktorin erzogen“ wurde.


    Das wirft natürlich wieder Fragen auf, bisher sind wir ja davon ausgegangen, dass Graf Viktorin jener Fremde war, der, am Rande eines Abgrund schlafend, in denselben hinabgestürzt ist. Wenn Viktorin in Wirklichkeit aber Medardus ist, wer ist denn da eigentlich ums Leben gekommen?... Ziemlich verwirrend das Ganze...


    Dieses vierte Kapitel war für mich echt eine Lektion in Sachen Lesen.


    Liebe Grüsse


    riff-raff

    Hallo zusammen!


    Zitat von "nimue"

    Es ist für mich nur logisch, dass er der sexuellen Obsession zu Aurelie erliegt, denn sie ist im Buch der Inbegriff der Unschuld und hat etwas engelsgleiches an sich. Ist Medardus tatsächlich vom Teufel besessen, so muss er diese Unschuld zerstören, denn sie ist sein größter Widersacher.


    Für diesen deinen interessanten Aspekt sprechen auch gewisse Stellen im Text. Dafür, dass Medardus auf Aureliens Verderben aus ist, z. B. die folgende:


    „Meine Bemühungen brachten mich nicht weiter; statt in Aurelien das verderbliche Feuer zu entzünden, das sie der Verführung preisgeben sollte, wurde nur qualvoller und verzehrender die Glut, die in meinem Innern brannte. – Rasend vor Schmerz und Wollust, brütete ich über Pläne zu Aureliens Verderben [...]“ (Erster Band, zweiter Abschnitt, S. 91)


    Und dafür, dass Aurelie unter dem schirmenden Schutz einer himmlischen Macht steht:


    „Oft kam es mir in den Sinn, durch einen wohlberechneten Gewaltstreich, dem Aurelie erliegen sollte, meine Qual zu enden, aber sowie ich Aurelien erblickte, war es mir, als stehe ein Engel neben ihr, sie schirmend und schützend und Trotz bietend der Macht des Feindes.“ (Erster Band, zweiter Abschnitt, S.91)


    Gruss


    riff-raff

    Hallo, nimnue! Hallo, Dyke!


    Ich möchte nochmals auf den zweiten Abschnitt des ersten Bandes („Der Eintritt in die Welt“) zu sprechen kommen... Nimnue, du hast mit Recht auf die idealisierende, beinahe „kitschige“ Naturbeschreibung im ersten Absatz hingewiesen; auf einer Erhöhung stehend schaut Medardus auf das unter ihm liegende Kloster, das er soeben im Begriff ist zu verlassen. Luft, Sönne, Vögel, die frommen Gesänge der Mönche,... alles trägt zu einem Bild vollkommener Harmonie bei, die Medardus nichtsdestotrotz hinter sich zu lassen gedenkt, um sich ins Unbekannte der Welt zu begeben. Diese äussere Harmonie findet Entsprechung in Medardus Seelenzustand: Er versucht sich das Bild der Frau vor Augen zu führen, deren Liebesgeständnis die Brunst und das wilde Verlangen entfacht haben, die schützenden Klostermauern zu verlassen „aber ihr Bild, war wie von fremder unbekannter Macht verwischt [...] je mehr ich trachtete, die Erscheinung im Geiste festzuhalten, desto mehr zerran sie in Nebel“ (S. 58/9). Rückblickend erscheinen ihm auch all die anderen sonderbaren Erlebnisse im Klosters wie blosse Einbildungen und Illusionen: „Immer vertrauter werdend mit der Idee nur geträumt zu haben, konnte ich mich kaum des Lachens über mich selbst erwehren [...]" (S. 59). Wie befreit schreitet er aus, bereitwillig den Auftrag seines Priors erfüllend, der ihn bis nach Rom bringen soll. Der Zufall, das Schicksal, das Verhängnis – man mag es nennen, wie immer man will – setzt erst wieder ein, als er erneut einen Zug aus der Elixier-Flasche tut: „Es war hoher Mittag, die Sonne brannte auf mein unbedecktes Haupt, ich lechzte vor Durst [...] und konnte nicht widerstehen, einen Zug aus der Korbflasche zu tun [...].“ Unmittelbar darauf stösst er auf Viktorin, der hart am Rande eines Abgrundes sitzend eingenickt ist. Als Medardus ihn zu wecken versucht, erschrickt dieser so, dass er in den Abgrund stürzt und stirbt. Fortan wird Medardus Viktorins Rolle übernehmen...


    Nicht nur, dass Medardus Viktorin bis aufs Haar gleicht, nein, er trägt auch noch die Mönchskutte, eben jene Verkleidung mit der sich Viktorin ins Schloss des Barons von F. einschleichen wollte, um seiner Geliebten, Euphemie, der Frau des Barons, nahe zu sein. Ich habe mich gefragt, ob Hoffmann hier nicht ein Bisschen zu dick aufträgt; dass sich zwei Menschen äusserlich so sehr gleichen sollen, dass nicht einmal die eigene Geliebte den Betrug bemerkt, na ja... Amphitryon lässt grüssen... – Wobei mir noch der Gedanke kommt, dass Leser des 19. Jahrhunderts an solch grosszügig aufgetischten Zufällen weniger Anstoss nahmen als heutige Leser. Das Ganze hat was von Trivialliteratur, deren Hoffmann sich hier anscheinend genüsslich bedient (möchte ihm schliesslich nichts unterstellen...).


    Am Schloss des Barons wird Medardus in eine seltsam schizophrene Rolle gedrängt: Während Reinhold, der Freund des Barons, in ihm unschwer den Mönchen Medardus wiedererkennt, den er schon mal predigen gesehen hat, hält ihn Euphemie weiterhin für ihren Geliebten Viktorin. Ein Zwiespalt, den Medardus/Hoffmann pointiert zur Sprache bringt: „Ich bin das, was ich scheine, und scheine das nicht, was ich bin, mir selbst ein unerklärliche Rätsel, bin ich entzweit mit meinem Ich!“ (S. 76)


    Natürlich trifft er auf dem Schloss, Zufall über Zufall – der Leser ahnt es schon – seine Heilige Rosalia (sprich: Aurelie) wieder. Während ausführlich beschrieben wird, wie der Donnerschlag dieses unverhofften Zusammentreffen Medardus beinahe aus seiner Viktorin-Rolle kippt, bleiben Aurelies Reaktionen angesichts des Geliebten (dem sie schliesslich im Beichtstuhl ihre Liebe offenbart hat) völlig aussen vor und finden mit keinem Wort Erwähnung, was ich reichlich seltsam fand.



    Liebe Grüsse


    riff-raff


    P. S.: Die Seitenangaben beziehen sich auf die dtv-Ausgabe, 3. Auflage Juli 2001.

    Hallo zusammen!
    Hallo, nimue!


    Zitat von "nimue"

    Hast Du die Elixiere denn bereits gelesen? Oder wie kannst Du die Parallele ziehen?


    Nein, ich habe die Elixiere noch nie vorher gelesen - meine Beobachtungen stützen sich allein auf das erste Kapitel. Gegen Ende desselben fasst Medardus ja den Plan, das Kloster zu verlassen:


    Endlich stand es fest in meiner Seele, meiner Qual durch die Flucht aus dem Kloster ein Ende zu machen. Denn nur die Befreiung von den Klostergelübden schien mir nötig zu sein, um das Weib in meinen Armen zu sehen und die Begierde zu stillen, die in mir brannte. (S. 54)


    Einzig dem Prior Leonardus ist es zu verdanken, dass Medardus die Klostermauern nicht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, sondern auf ehrenhaftere Weise hinter sich lässt: mit einem vorgeblichen (?) Rom-Auftrag versehen lässt er ihn in die Welt hinaus ziehen.


    Beides, sowohl Medardus' Eintritt ins Kloster wie auch sein Austritt (auch wenn es ja Dank Prior Leonardus kein wirklicher Austritt ist...) hatten meiner Meinung nach mit dem Sexualtrieb zu tun.


    Gruss


    riff-raff

    Hallo zusammen!
    Hallo, nimue!


    Zitat von "nimue"

    Man merkt meiner Meinung nach bereits sehr früh Medardus' geistige Verwirrung:


    Was ist für die Liebe der Raum, die Zeit! - Lebt sie nicht im Gedanken und kennt der denn ein Maß? - Aber finstre Gestalten steigen auf, und immer dichter und dichter sich zusammendrängend, immer enger und enger mich einschließend, versperren sie die Aussicht und befangen meinen Sinn mit den Drangsalen der Gegenwart, dass selbst die Sehnsucht, welche mich mit namenlosem wonnevollem Schmerz erfüllte, nun zu tötender heilloser Qual wird. (Kapitel 1, Seite 19)


    Du darfst nicht übersehen, welcher Medardus hier eigentlich spricht; meiner Meinung nach ist es nämlich nicht der "junge", sondern der "alte" Medardus, der hier beim - rückblickenden - Abfassen seiner Beichte vor sich hin philosophiert. Tatsächlich fängt der von dir zitierte Absatz mit den Worten an: Wie umfängt mich noch wie ein seliger Traum die Erinnerung an jene glückliche Jugendzeit!


    Weiter schreibst du:

    Zitat

    Das Elixier ist für mich allerdings weder Auslöser, noch Verstärker, denn die Ansätze der geistigen Verwirrung sind gegeben (vielleicht durch "Erbsünde"?) und ich denke, dass sich sein Wesen mit der Zeit in die gleiche Richtung begeben hätte. Doch der Glaube kann Berge versetzen und obwohl ein Mönch ihn über die "Echtheit" der Reliquien aufgeklärt hat, bin ich der Meinung, dass Medardus fest an deren übersinnliche Wirkung glaubt.


    Das ist ein faszinierender Gedanke... Gehe ich recht in der Annahme, wenn ich daraus folgere, dass du dir die "Wirkung" des Elixiers als eine Art Placebo-Effekt erklärst? Auch ich habe darüber nachgedacht und bin zu folgender Grundsatz-Frage gekommen: Gibt es den Teufel oder gibt es ihn nicht? Dabei spielt es keine Rolle, ob ich daran glaube oder ob E. T. A. Hoffmann daran glaubte oder nicht - es geht allein um die Frage, ist der Teufel im vorliegenden Roman nur eine Chiffre, ein Symbol oder müssen wir ihn uns als eine reale Figur der Handlung vorstellen, genau so real wie Medardus, der Prior Leonardus oder die Fürstin/Äbtissin? Ich selbst habe mich für zweiteres entschieden. Unter anderem auch wegen der geheimnisvollen Sache mit dem Reliquienschrank-Schlüssel...


    Wie du dich erinnerst, hat Medardus diesen Schlüssel extra vom Schlüsselbund genommen und in einer Schublade seines Zimmers versteckt um gar nicht erst in Versuch zu kommen, ihn zu benutzen...


    Da fiel mir der kleine Schlüssel in die Hände, den ich damals, um jeder Versuchung zu entgehen, vom Bunde löste, und doch hatte ich ohne ihn [...] den Schrank aufgeschlossen? - Ich untersuchte meinen Schlüsselbund, und siehe ein unbekannter Schlüssel, mit dem ich [...] den Schrank geöffnet, ohne in der Zerstreuung darauf zu merken, hatte sich zu den übrigen gefunden. (S. 48)


    Dieser zweite "unbekannte Schlüssel" existiert, er ist keine blosse Einbildung Medardus'. Woher kommt er? Irgendjemand hat ihn an seinen Schlüsselbund befestigt. Einer, der wollte, dass Medardus vom Elixier trinkt... - Tut mir leid, aber ich für meinen Teil finde keine plausiblere Erklärung, als dass es der Teufel selbst getan hat. Würde mich brennend interessieren, wie ihr euch die ganze Sache erklärt...


    Langer Rede kurzer Sinn: Wenn ich davon ausgehe, dass der Teufel im Roman tatsächlich existiert, dann gibt es auch keinen Grund an der Wirkung des Elixiers zu zweifeln.



    Zitat

    Ich hatte diese Szene anders interpretiert. Nach dieser "entblößten Brust" ist Medardus verwirrt - wie wohl jeder junge Mann diesen Alters ;-)


    Doch die Einkleidung findet erst mit der Enttäuschung statt: Nämlich als besagte Tochter des Konzertmeisters sich darüber angeblich amüsiert, wie er ihren Handschuh verzückt an seine Nase presst. Er flieht in seine Kammer, will sich zum Fenster hinausstürzen, ist ganz theatralischer "Teenager". Erst danach fasst er den Entschluß, sich mit Leib und Seele Gott zu verschreiben.


    Du hast natürlich Recht... - man kann eben nie aufmerksam genug lesen. Danke, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast. :winken:


    Liebe Grüsse


    riff-raff

    Hallo zusammen!


    Zitat von "nimue"

    Hallihallo?


    Hat eigentlich schon jemand von euch angefangen?


    Ja, soeben habe ich das erste Kapitel (Die Jahre der Kindheit und das Klosterleben) beendet. Mir ist dabei eine Parallele aufgefallen zwischen Medardus Motivation ins Kloster einzutreten und seinem späteren Verlangen – nach Genuss des Elixiers – wieder davon loszukommen. In beiden Fällen spielt der Geschlechtstrieb eine Rolle... Medardus Berufung zum Geistlichen steht zwar schon von Kindesbeinen an fest, die „Einkleidung“ findet dann aber doch hastig und übereilt statt und ist eng mit seiner erwachenden Sexualität gekoppelt: Der zufällige Anblick der „beinahe ganz entblössten Brust“ der Tochter des Konzertmeisters hat eine solche Flut von neuen, verwirrenden und erschreckenden Gefühlen in dem Jüngling hochgeschwemmt, dass er um sein Seelenheil bangt. Einzig die Flucht hinter Klostermauern verspricht, die verlorene Gemütsruhe (Unschuld?) wiederzufinden. Mit Erfolg wie es zunächst scheint:


    Das Verhältnis der Brüder untereinander, die innere Einrichtung rücksichts der Andachtübungen und der ganzen Lebensweise im Kloster, bewährte sich ganz in der Art, wie sie mir bei dem ersten Blick erschienen. Die gemütliche Ruhe, die in allem herrschte, goss den himmlischen Frieden in meine Seele, wie er mich, gleich einem seligen Traum aus der ersten Zeit meiner frühesten Kinderjahre [...] umschwebte.


    Diese Weltflucht lässt sich als eine Art Regression lesen, als Versuch die eigene Kindheit künstlich zu verlängern um so den Ansprüchen und Anforderungen des Erwachsenwerdens aus dem Weg zu gehen. Medardus Plan geht so lange gut, bis er vom Elixier trinkt und die verdrängte Sexualität sich mit Macht wieder zurück meldet. Eine Unbekannte gesteht ihm in der Beichte ihre Liebe und plötzlich bricht das so lange Unterdrückte wieder auf:


    Wie im tötenden Krampf zuckten alle meine Nerven, ich war ausser mir selbst, ein niegekanntes Gefühl zerriss meine Brust, sie sehen, sie an mich drücken – vergehen vor Wonne und Qual, eine Minute dieser Seligkeit für ewige Marter der Hölle! [...] Da verwünschte ich mein Gelübde, mein Dasein! – Hinaus in die Welt wollte ich, und nicht rasten, bis ich sie gefunden, sie erkaufen mit dem Heil meiner Seele.


    Die Wirkung des Elixiers scheint also nicht in einer grundlegenden Veränderung von Medardus Charakter oder Wesen zu bestehen, vielmehr bestärkt und befördert der Trank die von Medardus verdrängten und unbewussten Charaktereigenschaften. Das Gleiche lässt sich zum Beispiel auch für Medardus Eitelkeit sagen. Medardus war schon vorher Gefallsüchtig („Jedesmal nahm ich mir vor, mit den neuerworbenen Kenntnissen recht vor ihr [der Fürstin / Äbtissin] zu leuchten....“) aber erst nach Einnahme des Elixiers steigert sich diese seine Eitelkeit ins Ungebührliche. Die Predigt vor versammelten Gemeinde degeneriert somit zur blossen Selbstinszenierung wie die Fürstin und Äbtissin, die ihn schon seit Kindertagen kennt, untrüglich feststellt und in einem Billet an ihn auch formuliert:


    Der stolze Prunk Deiner Rede, Deine sichtliche Anstrengung , nur recht viel Auffallendes, Glänzendes zu sagen, hat mir bewiesen, dass Du, statt die Gemeinde zu belehren und zu frommen Betrachtungen zu entzünden, nur nach dem Beifall, nach der wertlosen Bewunderung der weltlich gesinnten Menge trachtest.


    Das Elixier scheint somit die Funktion eines Katalysators zu übernehmen, der Medardus unterdrückte, negative und verdrängte Charaktereigenschaften und Triebe verstärkt und ans Licht befördert.


    Gruss


    riff-raff

    Hallo zusammen!


    Zitat von "Jana"

    Ich freue mich aber schon auf ein neues Projekt.


    Ohne die Diskussion um "Thérèse Raquin" für gestorben zu erklären - es würde mich schon interessieren, wie eure weitere Pläne aussehen. Selbst starte ich dieses Wochenende mit meiner zweiten Leserunde: "Die Elixiere des Teufels" von E. T. A. Hoffmann. Welches Buch steht bei als nächstes auf dem Programm?...


    Und bedanken möchte ich mich auch noch... - Das war meine erste Leserunde und sie hat sich für mich als äusserst bereichernd und unterhaltsam erwiesen; ein ganz neues Lesevergnügen... Danke!


    Liebe Grüsse


    riff-raff

    Hallo, ihr Lieben!


    Entschuldigt, wenn ich mich jetzt längere Zeit nicht zu Wort gemeldet habe, aber was "Thérèse Raquin" angeht ist bei mir so ziemlich die Luft draussen. Was aber nicht heissen soll, dass ich eure interessante Diskussion nicht eifrig - und mit Gewinn - mitverfolge; ich bewundere, wie ihr immer wieder neue Aspekte und Interpretationsschichten zutage fördert.


    Liebe Grüsse


    riff-raff

    Hallo zusammen!


    Hubert war so lieb, uns auf die verschiedenen Verfilmungen von Zolas Stoff hinzuweisen. Auf der Internet-Movie-Database (http://www.imdb.com/) habe ich jetzt gesehen, dass uns für kommendes Jahr eine erneute Verfilmung ins Haus bevorsteht. Es soll sich um eine Französich-Tschechisch-Amerikanische-Koproduktion handeln unter der Leitung eines gewissen Charlie Stratton. Allfällige Besetzungsnamen werden leider nicht genannt, der Drehbeginn soll aber noch diesen August erfolgen.


    Irgendwie würde mich eine filmische Umsetzung des Stoffes schon interessieren, wenn auch... - Ihr kennt vielleicht den Witz von den beiden Ziegen, die gemeinsam ein Drehbuch fressen... Worauf die eine: "Mmh, das Buch hat mir aber irgendwie besser geschmeckt..."


    Liebe Grüsse


    riff-raff

    Hallo zusammen!
    Hallo Hubert!


    Zitat von "Hubert"

    wenn ich mich recht erinnere, warst es doch gerade Du, der mal Thérèse als Opfer und nicht als Täter bezeichnete. Insofern denke ich, dass es gut war, dass Zola penetrant darauf hingewiesen hat: die beiden sind Mörder!


    Mein Mitgefühl ist eben grenzenlos... :smile: Selbst im schlechtesten Menschen suche ich noch das Gute, in der verwerflichsten Tat noch nach einer Entschuldigung. Und das nicht etwa, weil ich mich für einen besonders guten Menschen halte - im Gegenteil... "Nihil humani a me alienum puto." ("Ich glaube, nichts menschliches ist mir fremd.") Gerade auch im Verbrecher erkenne ich mich wieder... Vielleicht nicht die besten Voraussetzungen, wenn es darum geht zu richten - aber das sollen ruhig die anderen. Und den ersten Stein werfen auch.



    Liebe Grüsse


    riff-raff

    Hallo zusammen!


    Zitat von "Steffi"

    Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich von diesem letzten Viertel des Buches halten soll - es hat mir nicht so gut gefallen wie der Anfang, da es sich immer nur um Schuld/Rache usw. dreht. Auch die Schlußszene war mir dann doch zu romantisch ...


    Mir ist es ähnlich ergangen. Der zweite Teil des Buches fällt, meiner Meinung nach, gegenüber dem ersten deutlich ab. Streckenweise fand ich es sogar langweilig und habe mich gefragte, ob Zola tatsächlich bis zum Schluss mit dieser seiner "Mordhysterie" so weiterfahren würde.


    Ist sonst noch jemandem aufgefallen, wie oft Zola, wenn er von Laurent und Thérèse spricht, das Wort "Mörder" gebraucht? Bestimmt drei Dutzend mal im Laufe des ganzen Romans... - Aber sie sind doch Mörder, wird man mir jetzt entgegen halten - ja, schon, aber dieses ständige penetrante darauf hinweisen hat mich seltsam gestört. Hatte Zola Angst, wir könnten für die Beiden ansonsten Mitleid oder sonst irgendwelche anteilnehmende Gefühle aufbringen? Das es nicht dazu kommt, dafür hat er ja schon selbst gesorgt... Überhaupt ist mir der ganze Roman ziemlich moralisch erschienen; zwei Menschen verstossen gegen ethisch-gesellschaftliche Regeln - Ehebruch, Mord - und die Strafe dafür folgt auf dem Fusse: Angst, Halluzinationen, Paranoia und schlussendlich Selbstmord. Nicht nur Madame Raquin, auch der Leser, darf sich entspannt zurücklehnen im sicheren Gewissen, dass das Böse wiedermal seiner gerechten und zwangsläufigen Bestrafung entgegen geführt worden ist.


    Liebe Grüsse


    riff-raff

    Hallo!


    Zitat von "Steffi"

    [...] werden die Hauptpersonen immer mehr dem Druck ausgesetzt - mich erinnert das stark und intensiv an die Schauerromane oder E.A.Poe.


    Auch ich musste oft an E. A. Poe denken... In mehrerer seiner Kurzgeschichten tauchen Mörder auf, die glauben, das perfekte Verbrechen begangen zu haben, niemand würde sie als Täter je in Betracht ziehen und dann gehen sie hin und verraten sich selbst, weil sie dem seelischen Druck nicht standhalten können. Ein gutes Beispiel dafür ist "The Tell-Tale Heart" (dt.: "Das verräterische Herz"). Einen Unterschied zu Zola sehe ich eigentlich nur dahingehend, dass das Motiv bei Poes Figuren meist irrational ist, während in "Thérèse Raquin" der Mord das Ergebnis kühler Kalkulation und Berechnung darstellt; die daraus resultierenden Folgen hingegen fallen recht ähnlich aus.


    Da Poe als der bedeutendste Vertreter der amerikanischen Romantik gilt, bringt mich das auf eine Frage von Jana zurück:


    Zitat von "Jana"

    Wo finden sich die naturalistischen Elemente in dem Roman, wo gibt es noch romantische oder ?realistische? Elemente?


    Ein naturalistischer Roman muss ja nicht notgedrungen ein Verbrechen zum Inhalt haben, aber da es in "Thérèse Raquin" um Mord geht und hauptsächlich um die daraus resultierenden Folgen - "einer Art Mordhysterie" wie Zola das bezeichnet (Kap. XXII, Reclam S. 166) -, ... könnte man diese Beschäftigung mit der Nachtseite menschlicher Leidenschaften eventuell als "romantisch" bezeichnen? Ich denke da vor allem an die deutsche Spätromantik, hier gab es ja eine negativ-nihilistische, sogenannte 'schwarze' Romantik, welche Themen wie Wahnsinn, Paranoia, Verbrechenszwang usw. behandelte (vor allem E. T. A. Hoffmann). Die Geschichten sind natürlich nicht so in der Wirklichkeit verwurzelt wie bei Zola, oft spielen auch phantastische Elemente eine Rolle, aber... - ich weiss nicht, ist bloss so ein Gedanke...


    Gruss


    riff-raff


    P.S.: Hallo, Hubert!
    Wieso nennst Du dich „riff-raff“, wenn Du einen so schönen Namen wie Raffaele hast? Wärst Du mir sehr böse, wenn ich dich in Zukunft mit Deinem echten Namen anreden würde? - Nein, natürlich nicht... :smile: Ist mir übrigens erst später aufgefallen, dass viele in diesem Forum hier unter ihrem echten Namen schreiben, da hätte ich mir den Nick echt sparen können... Aber da es nun mal so gelaufen ist, denke ich, ich bleib dabei...