Hallo zusammen!
Nachdem ich jetzt schon lange keinen Goethe mehr gelesen habe, hatte ich anfangs etwas Mühe mit der Sprache, vor allem der Sprache, die Eduard und Charlotte untereinander sprechen. Das kommt mir so affektiert, so künstlich vor. Haben Ehepartner wirklich je so miteinander geredet?
Auch erscheint mir der Roman manchmal allzu sehr transparent, will sagen, vorhersehbar. Wenn auf den ersten Seiten Charlotte und Eduard z.B. in der Mooshütte beieinander sitzen und folgender Dialog fällt:
"Für uns beide doch geräumig genug," versetzte Charlotte.
"Nun freilich," sagte Eduard, "für einen Dritten ist auch wohl noch Platz."
"Warum nicht?", versetzte Charlotte, "und auch für ein Viertes..."
Man braucht kein Sherlock Holmes zu sein, um zu erkennen, dass hier auf den Hauptmann und Ottilie und die sich somit anbahnende Viererkonstellation angespielt wird.
Oder im vierten Kapitel, wenn die Männer Charlotte die Definition für den chemischen Begriff "Wahlverwandtschaft" erklären:
[Der Hauptmann:] "Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich ebenso zu einem D verhält; bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung: A wird sich zu D, C zu B wenden, ohne dass man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem andern zuerst wieder verbunden habe."
[Etwas früher im Text:] "Hier ist eine Trennung, eine neue Zusammensetzung entstanden, und man glaubt sich nunmehr berechtigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaft anzuwenden, weil es wirklich aussieht, als wenn ein Verhältnis dem andern vorgezogen, eins vor dem andern erwählt würde."
Vermute ich zuviel, wenn ich annehme, das genau das mit den vier Hauptfiguren des Romans geschehen wird? Das bestehende Bindungen gelöst und neue eingegangen werden?
Dieses Gefühl, dass der Roman etwas zu sehr konstruiert wirkt, macht sich gleich schon am Anfang bemerkbar, wenn bereits im allerersten Satz die vermittelnde Instanz eines allwissenden Erzählers zwischengeschaltet wird:
Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter - ...
Ich weiss ja nicht, wie es euch ergeht, aber für mich klingt das so, als wolle Goethe explizit darauf hinweisen, dass wir es hier mit Fiktion, also etwas Erdachtem, einem Gedankenspiel und nicht mit Wirklichkeit zu tun haben.
Interessant auch, wie im Diskurs über Chemie und Wahlverwandtschaften die "leblose" Materie geradezu beseelt aufgefasst wird:
Man muss diese tot scheinenden und doch zur Tätigkeit innerlich immer bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen, mit Teilnahme schauen, wie sie einander suchen, sich anziehen, ergreifen, zerstören, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten: dann traut man ihnen erst ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Verstand zu...
Übrigens hatte ich keine Ahnung, dass das Wort "Wahlverwandtschaft" aus der Chemie stammt. Ich hatte geglaubt es sei ein von Goethe erfundenes Kunstwort, weswegen mich dieser Titel immer schon fasziniert hat. Ich dachte es handle sich um eine Art Widerspruch in sich, denn normalerweise wählt man sich seine Verwandten ja nicht selbst... – Na ja, jetzt bin ich schlauer.... :zwinker:
Gruss
riff-raff