Beiträge von Evelyne Marti

    Hi Madeleine


    Ja, für mich ist es der Jugendwahn, der Aschenbach in den Tod trieb. Er war bereit für den Tod, weil er sich nicht mehr jung fühlte. Er sehnte sich nach seiner verlorenen Jugend zurück, verkörpert in Tadzio, doch sie blieb letztlich unerreichbar für ihn, ein Traum. Erst im Tod werden sie gleich. Ich komme zu dieser Deutung aufgrund kongruenter Parallelhandlungen von Tadzio und Aschenbach. Dieses literarische Stilmittel wird für gewöhnlich eingesetzt, um anzudeuten, dass zwei Figuren in Wirklichkeit Aspekte einer Person sind. Meine Kurzgeschichte Verwehter Sandstaub basiert auf demselben literarischen Prinzip.


    Aschenbach war bereits infiziert, Tadzio konnte es ebenfalls sein. Die Familie wurde ja von Aschenbach nicht vorgewarnt und die Touristen wurden ansonsten in Unwissenheit gehalten von den Einheimischen.

    Hallo zusammen


    Viele Suizidgefährdete sind hin und her gerissen zwischen Todessehnsucht und Lebenswillen. Das ist ein sehr unlogischer Vorgang. Aschenbach konnte seine Jugend nicht wiedererlangen bzw. kein neues Leben anfangen, also tötete er es (Tadzio) und damit sich selbst. Tadzio starb logischerweise ebenso an der Cholera, denn er blieb ja da und war ein kränkliches Kind.


    Hi Thomas


    Könnte man meinen, doch weiß ich aus meinem persönlichen Umfeld einen ganz ähnlichen Fall, wo jemand Gift einnahm und es im nächsten Moment bereute. Aschenbach war zu diesem Zeitpunkt sicher auch nicht mehr ganz bei vollem Verstande, sondern verwirrt.

    Hallo zusammen


    Das 5. Kapitel ist sehr beeindruckend. In diesem Kapitel wird deutlich, wie sehr Aschenbach und Tadzio zusammengehören: Tadzio IST die verlorene Jugend Aschenbachs, noch mehr: Tadzio IST Aschenbachs Leben, das dieser zu verlieren droht. Deshalb sind sie am Meereshorizont vereint. Tadzio schreitet ihm voraus, Aschenbachs Leben geht in eine andere Ebene über. Der Kampf Tadzios entspricht dem Todeskampf Aschenbachs.


    In diesem Kapitel wird auch verständlich, weshalb Thomas Mann einen 14-jährigen Jungen als Liebesziel wählte und nicht einen erwachsenen Jüngling. Nur so konnte er Aschenbachs Liebe zu dem Jungen in gleicher Weise tabuisieren wie es der Verlust der Jugend für das Alter bedeutet. Der Tod selbst ist wohl der größte Tabu-Bruch überhaupt. Deshalb musste der Kontrast genug groß sein, um denselben Widerspruch im Leser auszulösen wie der Tod.


    Ich las einmal im Internet einen Thread, wo sich User über Liebespaare mit großem Altersunterschied mokierten. Das sei ja eklig etc., wobei die angeblich eklige Person in diesem Fall vierzig war und das Paar siebzehn Jahre Unterschied aufwies. Da habe ich mich wirklich alt gefühlt. Sex im Alter finden ja auch viele Junge ekelhaft. Doch die Alten fühlen sich gar nicht so alt und eklig, wie die Jungen es von ihnen verlangen. Ich denke, das ist auch heute noch ein großes Tabu-Thema.


    Verwirrte Alte rufen oft wieder nach ihrer schon längst toten Mutter, als wären sie selbst noch Jugendliche oder Kinder. Die Gegenwart ist längst vergessen, die Vergangenheit umso lebendiger. Gerade Aschenbach zeigt diese Symptome der Verwirrtheit, welche in den Kapiteln davor angedeutet wurde im wirren Durcheinander der Stadt, dem Gepäckswirrwarr, eine sich steigernde Wahrnehmungsverfremdung, immer wieder der Eindruck, sich in einem Traum zu befinden. Das alles mutet wie ein Fiebertraum an, die Wahrnehmung eines Sterbenden. Aschenbach will Tadzio nicht aus den Augen verlieren, er hängt an ihm, an seinem geliebten Leben ...


    Er war wohl doch nicht ganz bereit für den Tod.


    Hi Thomas


    Jetzt muss ich etwas grinsen, weil ich dann wohl auch so eine Berufsjugendliche bin. Ich meine: Meine Großmutter wurde fast hundert und wenn ich ihre Gene haben sollte, kann ich mich bis sechzig noch locker jung nennen. :breitgrins:


    Meine 73-jährige Mutter sieht viel jünger aus, als sie ist. Frauen in ihrem Alter sehen teilweise so alt aus wie meine fast hundertjährige Großmutter und das nur, weil sie nicht wissen, was Haarfarbe, Gesichtspflege und Mode ist. Ich denke, solche Dinge sind nicht der Jugend vorbehalten, ebenso wenig Jeans, die nun wirklich schon zu jeder Garderobe gehört, vom Baby bis zur Oma. Da ist wirklich nichts dabei. Klar sollte es etwas abgestimmt sein auf das Alter, weil es sonst zu sehr nach Teeny aussieht, aber in der heutigen Zeit ist es nicht mehr ungewöhnlich, auch mit sechzig sexy und begehrenswert auszusehen. Ich würde mir da nie etwas vorschreiben lassen, dann doch eher als würdelos gelten wollen.


    Alt werden wollen will man doch nur in dem Sinne, nicht jung zu sterben. Wer ehrlich ist, will nicht alt sein. Das nehme ich keinem ab. Vor allem aber ist es nicht wirklich toll, im Altersheim zu enden und sich von launischen PflegerInnen herumschubsen zu lassen. Gute PflegerInnen können diese Zustände nicht verhindern, denn auch sie sind dazu angehalten, die Leute möglichst schnell zu waschen etc. Da bleibt sehr wenig Zeit für ein eingehendes Gespräch. Das müssen sie dann schon nach Arbeitsende dazugeben, was auch nicht immer möglich ist.


    Ich hab meinem Neffen eingeschärft, dass ich als Tote gut aussehen will. Für mich ist das Würde. Ich will nicht wie eine vertrocknete Leiche aussehen, sondern lebendig in Erinnerung behalten werden, als Persönlichkeit.

    Hallo zusammen


    In Kapitel 4 steht die Liebe Aschenbachs zu Tadzio im Vordergrund. Thomas Mann spricht von einem Knaben, nicht von einem Jüngling. Er beschreibt den Jungen in seiner aufblühenden Pubertät. Noch ist er ganz Kind und gerade das macht den Zauber aus. Ein Kind, das sich seiner aufkeimenden sinnlichen Reize in keinster Weise bewusst ist. Sicherlich kommt hier die homophile Sicht des Autors zum Tragen, doch betrachtet er den Jungen nicht als voll geschlechtsreifen Jüngling, sondern eben doch als "Knaben", den Aschenbach nie ansprechen wird. Das Tabu ist vorhanden und wirksam. Damit setzt Thomas Mann selbst das Schutzalter fest und respektiert es.


    Vor ein paar Jahren schrieb ich hier in einem anderen Tod-in-Venedig-Thread Folgendes dazu:

    Thomas Mann gelang bei seiner Novelle Tod in Venedig eine ganz besondere Atmosphäre, geprägt von einer todhaften Jenseitigkeit und schicksalhaften Fügung.


    Wie wir Menschen alle dem Tod entgegensehen, so auch der Protagonist in dieser Novelle: Entsprechend den alten Jenseits-Mythen fährt er mit dem Schiff in das seinen Tod ankündigende Venedig über, wobei der Junge Tadzio das Motiv des göttlichen Kindes, des Engelführers verkörpert, ein schönes tiefes Sinnbild und die mythischen Motive gut umgesetzt.


    Ich finde, diese Novelle wird noch weitgehend verkannt in seiner wahren Bedeutung und Intension. Das liegt nur an Tadzio und die m. M. n. falschen Spekulationen um diese Kunstfigur. Literarisch gesehen musste es dem unschuldig-göttlichen-Kind-Motiv entsprechend ein Junge sein, in Wirklichkeit jedoch übertrug Th. Mann seine Vernarrtheit in einen bereits volljährigen Schweizer Kellner auf ihn, ist also alles halb so wild.


    Zu erwähnen ist vielleicht noch, dass Th.Mann tatsächlich in Venedig einen dermaßen faszinierend schönen Jungen beobachtet hatte und so entstanden die Stoff-Übertragungsverschmelzungen, wie so oft bei Th.Mann.

    Hallo zusammen


    Die Szenen mit Tadzio erinnern mich stark an meinen Neffen und meine Nichte. Bei beiden Kindern erlebten wir dasselbe: Immer wieder wurden wir von Fremden angesprochen, welche die Kinder bezaubernd fanden. Meine kleine Nichte sähe wie eine dieser schönen lockigen Sammlerpuppen aus, womit sie nicht ganz Unrecht haben. Wenn mein Neffe seine Mutter im Altersheim, wo sie arbeitete, besuchte, war ihm die Begeisterung der Alten sicher. Im Alter leben all die schönen Jugenderinnerungen wieder auf und bei Verwirrtheit oder Demenz leben sie wieder ganz in ihrer Kindheit.


    Was ich im Gespräch mit Alten auch feststellte, ist ihre eigene Herabsetzung. Eine alte Italienerin glaubte, sie dürfe keins ihrer Enkel küssen, sonst übertrage sie ihnen Krankheit und Tod. Meine 73-jährige Mutter spricht manchmal auch so, als wäre sie nun weniger wert, jetzt, wo sie alt sei. Als würde man sie nicht mehr ernst nehmen, wenn man nicht derselben Ansicht ist. Die Kinder sind erwachsen, die Eltern verlieren ihre dominierende Position und fühlen sich damit entwürdigt und abgeschoben. Da wächst eine neue Generation heran, die Enkelkinder, welche ihnen womöglich ähnlich sehen. Diese wenden sich dankbar den Großeltern zu, welche mehr Zeit haben als die arbeitenden Eltern. Und die Alten, welche sich selbst dem Tode nahe fühlen, genießen jeden Augenblick mit ihren anhänglichen, lustig hopsenden, süßen Enkelkindern.


    Auf diese Weise schließt sich der Kreis. Nicht von ungefähr ähneln sich die faltigen Gesichter von Neugeborenem und Greis.


    Ich denke, dieses psychisch-biologische Programm wird auch bei Aschenbach wirksam.

    Hallo zusammen


    Aschenbachs Entwürdigung hat m. A. n. sehr viel mit dem Alter zu tun. Es ist sehr schwer für alte Menschen, wenn sie merken, wie die Jugend sie nicht mehr für voll nimmt, weil sie für alles mehr Zeit brauchen. Die Entwürdigung ist das Altwerden an sich. Man sagt, im Tod werden alle gleich. Doch ist es schon im Alter so. Gerade wenn jemand eine höhere Stellung einnimmt in der Gesellschaft und dann auf einmal nichts mehr gilt im Alter, er als senil abgetan wird, weil er nur noch mit zittriger Hand schreiben kann, er kaum mehr Kraft aufbringt, sich hochgestochen zu äußern, tut es besonders weh. Deshalb die Angst vor dem Alter und das Festhalten an der Jugend und damit am Leben an sich, wie deplatziert es auch wirken mag. Angst ist nie würdevoll. Aschenbach verliert seine Würde vor der Welt, aber er ist ehrlich zu sich selbst und steht zu seinen Gefühlen. Als er stirbt, kann er endlich loslassen.


    Ein würdevoll Sterbender legt sich hin und stirbt gefälligst, bitte ohne dieses Ich-will-nochmal-jung-sein-Gezicke! :breitgrins:


    Hallo zusammen
    Hi Thopas


    Aschenbach suchte den "Ort seiner Bestimmung", deshalb änderte er seine Reiseroute. Er wünschte "über Nacht" das "märchenhaft Abweichende", das Paradies, die Andere Welt, die Schönheit des Todes. Doch vergaß er dabei die Schattenseiten des Sterbens, "als zeige die Welt eine leichte, doch nicht zu hemmende Neigung, sich ins Sonderbare und Fratzenhafte zu entstellen". Die Schiffsfahrt nach Venedig erinnert in vielerlei Hinsicht an das literarische Sagenmotiv der Totenüberfahrt ans jenseitige Ufer, wo im Volksglauben die Andere Welt begann. Venedig repräsentierte gerade auch im Volksglauben einen Jenseitsort, was wiederum die Sagen von den versunkenen Städten anklingen lässt. Venedig soll ja immer mehr versinken. Das Meer selbst gehörte bereits der jenseitigen Welt an. Der Fahrer der Totenbarke war denn auch folgerichtig ein Konzessionsloser, ein Jenseitiger.


    Interessant ist übrigens, wie authentisch Thomas Mann Venedig beschrieb. Er war ja wirklich da. Eine TV-Dokumentation über Venedig führte mir dies besonders deutlich vor Augen. Venedig ist die Stadt der Alten, die Jugend ist längst ausgeflogen und hat sich anderweitig Arbeit gesucht. Überspitzt ausgedrückt ist Venedig demzufolge ein Elefantenfriedhof. Bekanntlich ziehen viele im Alter in den Süden, als suchten sie dort ihre letzte Ruhestätte, in letzter Konsequenz gedacht.


    Nur so nebenbei: In meiner Kurzgeschichte Flusspfade spielen die literarischen Motive der Todesbarke und Totenüberfahrt auch eine Rolle. Die Geschichte basiert auf realen Erlebnissen.

    Nein, ich hoffe jedesfalls nicht, denn Thomas Mann war in der Tat niemals pädophil.


    Bei Aschenbach spricht man von Päderastie (Knabenliebe), die Liebe eines älteren Herrn zu einen schon geschlechtsreifen Jungen.


    Liebe Grüße
    mombour


    Hi mombour


    Der Junge war 14 Jahre alt oder jünger, d. h. juristisch noch minderjährig. Deshalb passt in diesem Zusammenhang schon eher Pädophilie.


    Doch denke ich auch nicht, dass Thomas Mann mit Aschenbach einen Pädophilen darstellte.

    Danke, Evelyne, daß du das nochmal deutlich gemacht hast. Ich denke da wahrscheinlich zu stark aus unserer Zeit heraus, nämlich daß ein einmal kränkelndes Kind später als Erwachsener dann kerngesund sein kann. Ich kenne durchaus Leute, die als Kind kränklich waren, später dann aber topfit und gesund. Aber die Medizin ist heute natürlich um einiges weiter. Da verliert man dann durchaus aus den Augen, daß kränkelnde Menschen früher meist ein Leben lang krank waren und immer den Tod vor Augen hatten.


    Aschenbach wirkt ja nur deshalb so fit, weil er sich ständig geißelt und weil er ziemlich "powert" (auf gut deutsch gesagt), um alles das schreiben zu können, was in ihm steckt. Wenn er jetzt nichts mehr zu sagen hat, läßt diese Kraft nach, die ihn antreibt, und er wird wieder der kränkliche Junge von damals.


    Viele Grüße
    thopas


    Hallo zusammen
    Hi Thopas


    Ja, das habe ich auch beobachtet. Gerade kränkliche Kinder wirken später recht vital und lebenskräftig, als wollten sie sich zur Gesundheit zwingen, war auch bei meinem Vater und bei meinem Onkel so. Kaum Arztbesuche. Doch das täuscht und hat wohl eher mit der Lebenseinstellung zu tun. Die Krankheitssignale wollen nicht mehr wahrgenommen werden. Mein Vater schien sehr kräftig, war oft draußen in freier Natur, braungebrannt, ein kerngesunder Mann. Doch gerade deshalb überschätzte er sich, glaubte, auch als Raucher alt werden zu können, nahm die Warnungen der Ärzte nicht ernst, auch nach dem Herzinfarkt nicht wirklich. Einen Tag vor seinem Todestag renovierte er das Vereinshaus seines Fischervereins und feierte abends noch 1. August bis spät in die Nacht. Am nächsten Tag arbeitete er in brütender Hitze in seinem Büro. Das war zu viel für ihn. Dann noch eine schlechte Nachricht, welche ihn aufregte. Als er die typischen Herzinfarkt-Symptome bekam, wollte er keinen Notarzt, auch da hörte er nicht auf seinen Körper. Nun ja, der Notarzt kam so oder so zu spät.


    Aschenbach war ja auch jemand, der sich zur Gesundheit zwang. Trotzdem fühlte er sich zu dem kränklichen Jungen hingezogen, dem er keine große Lebenserwartung zuschrieb, womit er seine eigene Lebenserwartung mitbezeichnete, war er doch selbst ein kränkliches Kind gewesen. In Kapitel 3 sieht er Spiegelbilder seiner selbst, sich als alten Mann, der seine Jugend nicht loslassen will, und sich als kränklichen Jungen, dem kein Alter beschieden war, die ewige Jugend.


    Thomas Mann wird immer wieder Pädophilie zugeschrieben, doch denke ich, dass in dieser prüden Zeit, wo sich die Erwachsenen auch in der Ehe siezten, die Liebe zu Kindern immer irgendwie verdächtig wirkte. Gerade die Novelle Tod in Venedig soll ein Indiz für seine angebliche Pädophilie sein. Doch die Beschreibungen des Jungen, die liebevolle Art, wie er die Unschuld und Anmut des Jungen darstellt, kann ich sehr gut nachvollziehen. Kinder sind wirklich so bezaubernd. Meine kleine Nichte, gerade 1-jährig, trägt auch so hübsche Locken. Sie hat wunderschöne aquamarinblaue Augen und sitzt auf meinem Arm wie ein Buddha, völlig zufrieden und eins mit sich und der Welt. Auf einmal grinst sie mich an, packt mich kichernd an den Haaren und beißt mir ins Gesicht mit ihren ersten Zähnchen. Auch mein Neffe ist ein anhänglicher Junge, der es versteht, mich mit seinem kecken Lachen um den kleinen Finger zu wickeln. Es macht Spaß, ihn zu necken und aufzuziehen. Und natürlich umarme ich ihn auch herzhaft. Solche Dinge waren damals verdächtig. Das tat man nicht. Kinder waren kleine Erwachsene. Meine Mutter wurde nie von ihren Eltern geherzt. Als mein Vater uns umarmte und auf den Schoß nahm, sahen seine Schwestern ihn schräg an, als täte er etwas Verbotenes.


    Da Thomas Mann homosexuelle Neigungen aufwies, lag natürlich der Verdacht der Pädophilie nahe. Ich hab auch schon Texte von Pädophilen gelesen im Internet. Ihre Schilderungen bewegen sich zuerst auch in dieser allgemeinen Kinderliebe, doch verfallen sie unbemerkt in sexuell motivierte Perspektiven. Zugegeben, bei Thomas Mann gibt es Anklänge in diese Richtung. Doch scheint sich Thomas Mann dieser Gefahr bewusst gewesen zu sein. Deshalb auch die Beschreibung des Alten, der sich mit seiner Jugendverkleidung lächerlich machte. Pädophile schreiben immer sehr ichbezogen von Kindern, sie erkennen nicht wirklich das Kind in seiner eigenen Persönlichkeit.

    Was ich nur nicht ganz verstehe, warum "schleichende Krankheit" bei Aschenbach? Ich dachte immer, er infiziert sich in Venedig mit der Cholera und stirbt daran. Er mag ja vorher schon gewußt haben, daß er nicht mehr lange lebt, aber er war ja nicht wirklich physisch krank? Oder habe ich da was falsch verstanden?


    Viele Grüße
    thopas


    Hi Thopas


    Das mit der Cholera stimmt schon, aber die Anfälligkeit für Krankheiten war durch seine Kindheit bedingt (Kapitel 2). Gerade deshalb hätte er sich vorsehen sollen, was er nicht tat, weil er bereit war für den Tod und er im Grunde schon vorher seinen Sterbeprozess antrat. In diesem Sinne ist der Mensch an sich ein von Kind an Sterbender. Gerade in früheren Zeiten war die Allgegenwart des Todes viel mehr präsent, die Sterblichkeit war höher.

    Hallo zusammen


    Da ihr alle schon das 2. Kapitel beendet habt, will ich mal aufholen.


    Ich persönlich finde einen guten Zugang zum 2. Kapitel, denn es hat eine Menge mit mir selbst zu tun. "Heroismus der Schwäche" nennt es Thomas Mann. Wie Aschenbach nahm sich Thomas Mann 2-3 Morgenstunden zum eigentlichen Schreiben, während er am Nachmittag recherchierte und sich sonstigen Verpflichtungen hingab. Wenn ich neben meinen Pflichten kaum Zeit finde für Literarisches, denke ich oft an Thomas Manns Arbeitsmethode: Aufgrund der strikten Einhaltung seines Tagesplans schaffte er es "trotzdem", ein umfangreiches Gesamtwerk zu hinterlassen. Viele kleine Schritte führen auch zum Ziel.


    Ein weiterer Aspekt ist die literarische Entwicklung selbst: Thomas Mann bezeichnet es als "Aufstieg zur Würde". Auch wenn er sich hier auf Aschenbach bezieht, glaube ich auch hier Autobiographisches zu erkennen. Thomas Mann zog sich einigen Ärger zu aufgrund seiner literarischen Bezüge zu realen Geschehnissen und Personen. Da wird er sicherlich einiges bereut haben, bei gleichzeitigem Bedauern seiner eigenen Zähmung. Als Mann der Öffentlichkeit musste er Würde bewahren. Bestimmt zensierte er sich da auch selbst, denn es ging um seinen Namen.


    Der dritte Aspekt wäre die Krankheit Gustav Aschenbachs: Schon in seiner Jugend war er ein Fall für den Arzt, ein kränkliches Kind, so sehr, dass ihm der Weg zur Schule nicht mehr zugemutet werden konnte. Das erinnert mich an meinen Vater, er musste auch auf das Gymnasium verzichten, weil er schwer krank wurde und der Schulweg ins Gymnasium zu weit gewesen wäre in seinem geschwächten Zustand. Mein Onkel war aber der eigentliche Kranke mit seiner Tuberkulose, welche in seiner Kindheit auftrat, im jungen Erwachsenenalter klinisch behandelt wurde und in spätem Alter erneut ausbrechend seinen Tod herbeiführte. Dies wiederum erinnert mich an den Roman Der Zauberberg, den Thomas Mann in Anlehnung an seine Novelle Tod in Venedig anschließend schrieb. Tuberkulose war ja früher weit verbreitet.

    Hallo zusammen


    Bei Gelegenheit würde ich gern Heinrich von Kleists Kohlhaas als Leserunde mit euch durchnehmen. Diese Novelle zeigt seine Verwandtschaft zum Drama besonders eindrücklich. Ich liebe diese Novelle für ihren präzisen, kunstvollen Aufbau.

    Hallo Leutz


    Aufgrund ihres kunstvollen Aufbaus mag ich Novellen besonders. Theodor Storms Schimmelreiter ist ein gutes Beispiel, wie sich eine Novelle zu einem Kurzroman ausweitet, ohne ihre novellistischen Züge zu verlieren.


    Muss nicht alles gleichzeitig sein, aber ich würde auch diese Novelle gern mit euch lesen.

    Hallo liebe Klassiker-Leser


    Ich hätte wieder mal Lust, die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff zu lesen, ist jetzt auch schon wieder länger her, hab nicht mehr alles präsent. Ich mag diese Novelle, welche m. M. n. noch längst nicht ausgeschöpft ist.


    Also: Wenn Du Lust hast, melde Dich, würde mich freuen!

    Hallo zusammen


    Die gerade laufende Leserunde Thomas Mann - Tod in Venedig macht mir aufgrund einiger Parallelen Lust auf eine erneute Lesung der Schwarzen Spinne von Jeremias Gotthelf. Diese weltliterarische Novelle steht der besagten novellistischen Erzählung von Thomas Mann in nichts nach, würde sich also lohnen.


    So trage sich also jeder ein, der mitlesen will. :zwinker:


    Ich habe bis jetzt die ersten beiden Kapitel gelesen und war vor allem von der Charakterbeschreibung Aschenbachs fasziniert. Ich konnte mir richtig plastisch vorstellen, wie er im Schweiße seines Angesichts die Zeilen aus seinen Gehirnwindungen presst. :zwinker:


    Ein Punkt, der mir nicht klar geworden ist, ist die Rothaarigkeit des Mannes, den Aschenbach sieht. Dass er ein Todesbote ist, sehe ich ein, auf mich wirkte die gesamte Beschreibung sehr unangenehm und abstoßend, aber warum rothaarig?


    Hallo Telemachos


    Damit greift Thomas Mann ein literarisches Motiv auf, dessen Herkunft im Volksglauben wurzelt: Rotes Haar wurde mit dem Höllenfeuer in Verbindung gebracht. Ein Mensch, der mit dem Teufel im Bunde stand, hatte oft rotes Haar oder dann einen verdächtig rötlichen Stich im nach außen hin unbescholten wirkenden blonden oder braunen Haar. Jeremias Gotthelf verarbeitete solche Sagenmotive besonders eindrücklich in seiner Schwarzen Spinne. Der Teufel besaß einen roten, feurig lohenden Bart. Der Bart fällt bei Thomas Mann weg, trotzdem überlebt der Bart im Wort "Bartlosen", womit m. A. n. auch auf eine nur scheinbare Unbescholtenheit hingewiesen wird. Die Wildheit des Bartes ist augenscheinlich nicht vorhanden, aber in Wirklichkeit eben doch da im roten Haar und in den fletschenden Zähnen. Der Tod scheint gezähmt, doch ist es ja nicht wirklich so. Der Bart wächst nach.


    Hallo Thopas


    Hat man da in der Schule auch Parallelen zu anderen Werken der Weltliteratur untersucht, z. B. die des Rothaarigen mit Jeremias Gotthelfs Figur des ebenfalls rothaarigen Teufels in Die schwarze Spinne? Finde ich interessant, solche literarischen Hinweise.


    Ich persönlich stelle gern eigene Bezüge her, doch finde ich die Sekundärliteratur dazu auch wichtig, schließt sich ja nicht kategorisch aus, wenn der Schwerpunkt der Leserrezeption auf der Primärliteratur bleibt und sich nicht in Sekundär- und damit in gewisser Weise Secondhand-Literatur verliert.