Beiträge von Evelyne Marti

    Hallo zusammen


    Als Thomas Mann diese Novelle schrieb, gelang ihm diese derart fließend und leicht, dass er selbst davon fasziniert war.


    Interessant ist, dass diese Geschichte dort beginnt, wo die meisten Erzählungen enden. Ein Mann ist lebenssatt. Er hat keine Wünsche mehr, er erntete bereits alle Früchte seiner Arbeit. Er hat alles gesagt, was zu sagen war. Dieses Leben hatte seine Aufgabe erfüllt, er war bereit für etwas Neues, einen Übergang in ein anderes Leben. Er wollte Veränderung.


    Als meine Großmutter väterlicherseits noch lebte und schon gegen die Hundert zuging, fragte ich sie, ob sie die 100 noch erreichen wolle. "Nein", war ihre Antwort, obwohl sie gesund war und keinen Grund hatte, sich über irgendwelche Beschwerden zu beklagen. Auch lebten noch alle ihre Kinder. Sie sehnte sich nicht nach einem vermissten Toten, freute sich auch nicht auf ein himmlisches Jenseits oder dergleichen. Sie hörte nicht mehr so viel, sodass ihre Tochter, bei welcher sie lebte, auch nicht weiter nerven konnte. Sie war auch noch voll bei Verstande, schrieb mir sogar Briefe. Doch spürte sie, dass ihre Zeit gekommen war. Sie starb denn auch wirklich vor der 100.


    Als mein Vater starb, beobachtete ich im Jahr davor eine ähnliche Entwicklung bei ihm. Er veränderte sich, wollte wie Aschenbach in den Süden, als wäre es die letzte Gelegenheit, diesen Traum zu verwirklichen. Gleichzeitig beschäftigte er sich das erste Mal richtig mit dem Tod, sodass sein plötzlicher Tod wie die logische Folge daraus erschien. Ich denke, der Mensch spürt intuitiv seinen Tod. Bei einer schleichenden Krankheit wie der von Aschenbach ist dies noch wahrscheinlicher. Es ist ja oft so, dass der Körper schon vorher entsprechende Signale erhält, bei meiner Großmutter war es das Alter, bei meinem Vater der Herzinfarkt neun Jahre davor. Die Todesursache war ein plötzlicher Herzschlag, doch signalisierte sein Körper ihm ungesunde Werte, wie auch der Arzt bestätigte. Das Bewusstsein verdrängt diese Signale, doch werden sie wirksam in der Wahrnehmung. Der gefühlte Tod projiziert sich in der wahrgenommen Landschaft, in den Menschen, welche ihm wie Todesengel begegnen. Sie alle werden zu Symbolträgern der intuitiv wahrgenommen Botschaft des Unbewussten: Du wirst sterben ...

    Das ist ja der Sinn und Grund, warum wir im Klassikerforum diese Materialienthreads führen:


    Einerseits finden wir hier alle sachdienlichen Hinweise schön gebüschelt und gebündelt; andererseits kann natürlich, wer will, sie auch einfach ignorieren. ;)


    Hi Sandhofer


    Ich war ja eine Weile nicht mehr hier und vergaß diese Aufteilung. Deshalb hab ich mich hier gewundert, so gar nichts zum 1. Kapitel zu lesen. Noch mehr wunderte ich mich aber, als ich wieder im eigentlichen Leserundenthread landete und die Beiträge von hier fehlten. :breitgrins:


    Ich habe bis jetzt auch nur die ersten beiden Kapitel gelesen und muß mich an den Stil erst noch gewöhnen. Da gibt es immer wieder Sätze, die ich zwei- oder dreimal lesen kann und sie trotzdem nicht verstehe.
    Soweit wie ich es bis jetzt verstanden habe, ist Aschenbach ein Schriftsteller mit einem Ziel vor Augen, etwas, das er in seinem Leben erreichen will. Aber es kostet ihn sehr viel Mühe und vor allem Disziplin. Das Schreiben fällt ihm nicht leicht, sondern ist harte Arbeit, zu der er sich jeden Tag auf's neue zwingt. Schön fand ich den Satz, wo ein Beobachter Aschenbach charakterisiert und den Vergleich mit der Faust und der 'bequem von der Lehne des Sessels hängenden Hand' bringt.
    Und jetzt wurde durch diesen Fremden irgendwie die Reiselust in ihm geweckt. Ich sehe darin eine Flucht vor diesem Leben im Zwang, das er sich selbst auferlegt hat, auch wenn er es vor sich selbst anders begründet.
    Na ja, das sind zumindest meine laienhaften Ansichten zu den ersten zwei Kapiteln. Mit der ganzen Todessymbolik kenne ich mich ehrlich gesagt nicht so aus.


    Hallo Picco


    Der Protagonist war bereit zu sterben. Er hatte sich "ausgeschrieben". Sein Lebenswerk war vollendet. Was nun folgte, war der Abschied von dieser Welt. Der Rothaarige repräsentiert aus meiner Sicht die Bedrohlichkeit des Todes, während der Junge den Erlösungsaspekt symbolisiert, den reinen Engel und Seelenführer, während der Protagonist, den unendlichen Meereshorizont vor Augen, dahinscheidet.


    Hallo zusammen


    Ich finde, Thomas Mann gelingt es in seiner Novelle Tod in Venedig, die Wahrnehmung des herannahenden Todes auf natürliche Weise anzudeuten. Er übertreibt nicht wie die Phantastische Literatur, sondern bleibt immer auf der realen Ebene. Das gefällt mir besonders gut.


    Ich gehe noch weiter: Thomas Mann schilderte die besagten Todesmotive (Natur, der Rothaarige, Venedig) wahrscheinlich aufgrund realer Erfahrungen. Als mein Vater starb, wirkte der Sommer auf mich auch surreal, "falsch" und "kalt". Diese Beschreibungen widerspiegeln sogar sehr genau meine Wahrnehmung von damals. Thomas Mann verlor auch Menschen, welche ihm viel bedeuteten. Die Reise nach Venedig und das Motiv des Jungen basieren ja ebenso auf realen Erlebnissen. Ich denke, Thomas Mann hat in den allermeisten Fällen reale Personen und Geschehnisse verarbeitet, abgesehen von bestimmten Kunstgriffen und -figuren wie der Rothaarige, Motiv des Teufels, vrgl. dazu auch den Doktor Faustus.

    Das ist mir auch aufgefallen. Man muß ja bloß auf die Wikipedia-Seite zum diesem Buch schauen und schon bekommt man alles fertig serviert und analysiert. Vielleicht hätten wir zum Thema "Dekadenz" doch eine andere Erzählung von Thomas Mann auswählen sollen...


    Aber einige hier in der Leserunde kennen die Erzählung, glaube ich, noch nicht. Warten wir einfach mal ab, was sich ergibt.


    Viele Grüße
    thopas


    Hi Thopas


    Ich denke, die Erzählung ist ergiebiger, als auf Anhieb ersichtlich, denn die wirklichen Perlen sind ja in der Novelle selbst zu finden und nicht in deren Interpretationen.


    Hi Thomas


    Ja, wäre schade, wenn es eine reine Sekundärzitatsammlung würde. Mich interessiert viel mehr die Leserezeption, was ihr dazu denkt und nicht, was x oder y dazu geschrieben hat.

    Hallo zusammen


    Ich schlage vor, wir wenden uns erstmal dem 1. Kapitel zu. Sekundärliteratur kann man ja immer noch an den passenden Stellen einflechten. Mich interessiert vor allem die Werkimmanenz und unsere literarischen, geisteswissenschaftlichen und empirischen Assoziationen zum Werk.

    Hallo zusammen


    Als Kind hatte ich auch so ein Lieblingsbuch, schon damals antiquarisch, ein Bibel-Kommentar in alter Schrift und mit Radierungen. Deshalb lernte ich die alte Druckschrift sehr schnell, fand sie damals auch viel interessanter als die langweilige moderne Druckschrift. In der Familie konnte nur ich diese Schrift lesen, also eine Art Geheimschrift. Und Kinder stehen ja bekanntlich auf Geheimschriften. Ich hab diesen bebilderten Bibelkommentar immer noch, unversehrt, war übrigens auch das Lieblingsbuch meines Vaters in seiner Jugend.


    Hallo Thomas und Imrahil


    Als Kind fand ich einmal die alte Bibel meines Großvaters. Da waren auch Bleistiftnotizen im Buchdeckel, sogar sehr geheimnisvolle in Stenographie. Ich hätte sooo gern gewusst, was er da geschrieben hatte. Leider hat meine Mutter die Bibel verloren, sodass dies ein ewiges Geheimnis bleiben wird. Auf der anderen Seite: Vielleicht stand da etwas völlig Unwichtiges und verdient nicht diesen Nimbus des Mysteriösen, den die Bibel dadurch erhielt. Ich muss ja nicht alle Familienlegenden zerstören, hab schon die größte entlarvt.


    Hallo Gronauer


    Irgendwie machst Du mir Lust, respektlos zu sein. [Blockierte Grafik: http://www.mysmilie.de/smilies/frech/2/img/016.gif]


    Aber ich kann Dich verstehen: Als ich meine ersten Bücher zum Lektorieren erhielt und die Exemplare so neu und perfekt aussahen, scheute ich mich auch, derart grob reinzupfuschen. Mein Respekt galt ganz dem gedruckten Papier und dessen vollendeter Form. Doch als ich die ersten Fehler entdeckte, war mein Respekt verflogen und am Ende war das Papier vollgekritzelt mit meinen Lektoratszeichen, bis ich kaum mehr Platz fand. Und als ich merkte, dass meine Arbeitgeber sich freuen, wenn da besonders viel korrigiert wird, und leere Seiten nicht gern sehen, hält mich nichts mehr! :breitgrins:


    Igitt, roter Nagellack ist wirklich hässlich auf Büchern! Da kann ich Dich echt verstehen. Ich persönlich benutze weißen oder transparenten Nagellack und trockne sie gut aus, sodass ich damit keine Probleme habe. Aber vielleicht kannst Du ja Nagellackentferner verwenden.


    Oder dann nimm schwarzen Nagellack, ginge dann als Druckstreifen durch! :breitgrins:


    Ich unterstreiche in Büchern, die ich privat lese, eigentlich nie was. Grund: Ich kann mir ziemlich gut merken, welche Passage etwa wo zu finden ist, bzw. mache mir für besonders interessante Stellen einen Zettel rein. Unterstreichen ist mir viel zu anstrengend. :zwinker:


    Habe ich auch mal versucht, bis mir die Zettel rausfielen. :breitgrins:

    Hallo zusammen


    Das Reinschreiben in Bücher ist mein Beruf, alles mit Füller, damit die Markierungen sichtbar sind. Tintenlöscher oder Tipp-Ex gehören gegebenenfalls auch dazu, wenn ich meine Korrekturen beim Lektorat ändern muss. Bleistift setze ich dort ein, wo ich nur für mich bestimmte Markierungen setze. Diese radiere ich später weg. Mit meinen eigenen Arbeitsbüchern verfahre ich ähnlich, während ich fremde Bücher natürlich unangetastet lasse. Bücher, welche schön bleiben sollen, bearbeite ich nur mit Bleistift und Gummi. Textmarker setze ich seit meiner Schulzeit nicht mehr ein, ebenso wenig Farbstifte.

    Hallo zusammen


    Ich bevorzuge auch Hochliteratur, doch war es schon immer so, dass die gefeierten Klassiker von übermorgen in ihrer Zeit nicht gewürdigt wurden. Daran ändert sich wohl nichts, wie ich feststelle. Dabei werden gerade diejenigen Autoren zu Vorreitern, welche keinen Deut auf "konservierende" Wertungen geben. Ich liebe die Klassiker und empfinde sie oft als zeitlos aktuell. Aber keiner ihrer Autoren hat sich gefragt, was die Kritiker dazu sagen werden, ob es ihnen genehm sein wird oder nicht. Wenn doch, wären sie sich trotzdem treu geblieben. Hätten sie auf ihre Kritiker gehört, tja, dann wäre wohl einiges an Papier gespart worden und wir wären um viele literarische Kostbarkeiten ärmer. Aber wenn man sich eh nur auf drei Autoren beschränkt, ist das sicher kein Problem. :zwinker:


    Was ich nun gerade in der Literatur nicht verstehe, ist, dass es Leser gibt, die so felsenfest von ihrer eigenen Meinung überzeugt sind, als ob sie für die Qualität einen wissenschaftlichen Beweis erbringen könnten.
    Ich habe bis jetzt noch keine Maßstäbe gefunden, die ich anlegen könnte, um 100%ig zu wissen, dass es sich beim Gelesenen um hochwertige Literatur handelt. Natürlich weiß ich, wie sich Trivialliteratur liest, aber bei Autoren, die alle Nobelpreisträger sind, derartig unterschiedliche Beurteilungen vorzufinden, das irritiert mich sehr.


    Wenn ich sandhofers Beitrag richtig interpretiert habe, muss man auch damit rechnen, dass nichts bleibt, wie es war, nicht einmal in der Liebe zur Literatur. Zumindest könnte es passieren, dass ich meinen so heißgeliebten Günter mit 70 Jahren überhaupt nicht mehr lesen mag, dafür aber als Jelinek-Verehrerin nach Mürzzuschlag pilgere.


    Hallo Madeleine


    Ich für meinen Teil mag Günter Grass´ Erzählstil. Auch Thomas Mann kann ich immer noch sehr viel abgewinnnen. Sein Erzählstil liegt mir sehr nahe. Das heißt nicht, dass ich nicht auch Schwächen in seinen Werken vorfinde, das gehört zu jedem Autor dazu. Diese Schwächen resultieren aber oft aus den Stärken oder sind stofflich vorprogrammiert.


    Marcel Reich-Ranicki erklärte einmal, Dorfgeschichten seien langweilig. Mit diesem Pauschalurteil hat er eine gesamte Erzählrichtung verurteilt. Klar hat eine Dorfgeschichte ein anderes Flair als eine Stadtgeschichte, Stadt- und Landgeschichten zu vergleichen, ist, als würde man Äpfel und Birnen vergleichen. Ich denke, viele Kritiker legen auf diese Weise falsche Maßstäbe an, sie werden den Geschichten in ihrer Intension und Gattungszugehörigkeit nicht gerecht.


    Den Autoren wird von sich aufplusternden Kritikern immer wieder der klassische Erzählstil "verboten". Trotzalledem entwickelt sich die heutige Literatur in Richtung Wahrnehmungsliteratur, wo die modernen Erzählelemente mit den klassischen verknüpft werden. Diese selbstherrlichen Kritiker sind derart unwichtig und lächerlich in ihren Forderungen. Es geht ihnen nur darum, sich selbst wichtig zu machen. Verrisse verkaufen sich eben besser und es tut einfach gut, sich mächtig zu fühlen und Schriftsteller herabzusetzen. Da spielt auch viel Neid eine Rolle, denn sie könnten nie so schreiben. Sie sind die Boulvardpresse der Literaturszene mit all ihren Eitelkeiten. Literaturwissenschaftliche Begründungen sucht man vergeblich, es ist nur geschmäcklerisches Getue von Leuten, welche ihre Liebe für die Literatur verloren haben. Denn wer Literatur liebt, liebt auch deren Vielfalt und ist bereit, sich auf Autoren und deren Stil einzulassen, und will sie nicht in eine kanonische Konserve quetschen, denn gerade damit wären sie konventionell und gewöhnlich.