Juni 2008 - Th. Mann: Der Tod in Venedig


  • Hi Thomas


    Ja, wäre schade, wenn es eine reine Sekundärzitatsammlung würde. Mich interessiert viel mehr die Leserezeption, was ihr dazu denkt und nicht, was x oder y dazu geschrieben hat.

  • Das ist mir auch aufgefallen. Man muß ja bloß auf die Wikipedia-Seite zum diesem Buch schauen und schon bekommt man alles fertig serviert und analysiert. Vielleicht hätten wir zum Thema "Dekadenz" doch eine andere Erzählung von Thomas Mann auswählen sollen...


    Aber einige hier in der Leserunde kennen die Erzählung, glaube ich, noch nicht. Warten wir einfach mal ab, was sich ergibt.


    Viele Grüße
    thopas


    Hi Thopas


    Ich denke, die Erzählung ist ergiebiger, als auf Anhieb ersichtlich, denn die wirklichen Perlen sind ja in der Novelle selbst zu finden und nicht in deren Interpretationen.


  • Hallo zusammen


    Ich finde, Thomas Mann gelingt es in seiner Novelle Tod in Venedig, die Wahrnehmung des herannahenden Todes auf natürliche Weise anzudeuten. Er übertreibt nicht wie die Phantastische Literatur, sondern bleibt immer auf der realen Ebene. Das gefällt mir besonders gut.


    Ich gehe noch weiter: Thomas Mann schilderte die besagten Todesmotive (Natur, der Rothaarige, Venedig) wahrscheinlich aufgrund realer Erfahrungen. Als mein Vater starb, wirkte der Sommer auf mich auch surreal, "falsch" und "kalt". Diese Beschreibungen widerspiegeln sogar sehr genau meine Wahrnehmung von damals. Thomas Mann verlor auch Menschen, welche ihm viel bedeuteten. Die Reise nach Venedig und das Motiv des Jungen basieren ja ebenso auf realen Erlebnissen. Ich denke, Thomas Mann hat in den allermeisten Fällen reale Personen und Geschehnisse verarbeitet, abgesehen von bestimmten Kunstgriffen und -figuren wie der Rothaarige, Motiv des Teufels, vrgl. dazu auch den Doktor Faustus.

  • Ich habe bis jetzt auch nur die ersten beiden Kapitel gelesen und muß mich an den Stil erst noch gewöhnen. Da gibt es immer wieder Sätze, die ich zwei- oder dreimal lesen kann und sie trotzdem nicht verstehe.
    Soweit wie ich es bis jetzt verstanden habe, ist Aschenbach ein Schriftsteller mit einem Ziel vor Augen, etwas, das er in seinem Leben erreichen will. Aber es kostet ihn sehr viel Mühe und vor allem Disziplin. Das Schreiben fällt ihm nicht leicht, sondern ist harte Arbeit, zu der er sich jeden Tag auf's neue zwingt. Schön fand ich den Satz, wo ein Beobachter Aschenbach charakterisiert und den Vergleich mit der Faust und der 'bequem von der Lehne des Sessels hängenden Hand' bringt.
    Und jetzt wurde durch diesen Fremden irgendwie die Reiselust in ihm geweckt. Ich sehe darin eine Flucht vor diesem Leben im Zwang, das er sich selbst auferlegt hat, auch wenn er es vor sich selbst anders begründet.
    Na ja, das sind zumindest meine laienhaften Ansichten zu den ersten zwei Kapiteln. Mit der ganzen Todessymbolik kenne ich mich ehrlich gesagt nicht so aus.

    Das Buch, wenn es zugeklappt daliegt, ist ein gebundenes, schlafendes, harmloses Tierchen, welches keinem etwas zuleide tut. Wer es nicht aufweckt, den gähnt es nicht an. Wer ihm die Nase nicht gerade zwischen die Kiefer steckt, den beißt es auch nicht. <br />Wilhelm Busch


  • Mich interessiert viel mehr die Leserezeption, was ihr dazu denkt und nicht, was x oder y dazu geschrieben hat.



    Ich denke, die Erzählung ist ergiebiger, als auf Anhieb ersichtlich, denn die wirklichen Perlen sind ja in der Novelle selbst zu finden und nicht in deren Interpretationen.


    Hallo Evelyne,


    wenn man die Erzählung schon in der Schule behandelt hat, und dort bekommt man ja sehr viel vorgekaut, ist es gar nicht mehr so einfach, da dann nochmal unbefangen ranzugehen. Da bin ich jetzt sehr neugierig, was sich außerhalb der üblichen "Interpretationspfade" so ergibt.


    Ich denke auch, daß Schriftsteller sich sehr oft an realen Personen orientieren. Das ist mir bei Henry James aufgefallen. In dem von mir schon erwähnten The master (von Colm Tóibín), das auf sämtliche Briefe und Tagebücher etc. zurückgreift, wird erst klar, wie viele von James' Figuren auf reale Personen zurückgehen. Das wird bei Thomas Mann bestimmt auch nicht anders gewesen sein.


    Viele Grüße
    thopas


  • Na ja, das sind zumindest meine laienhaften Ansichten zu den ersten zwei Kapiteln. Mit der ganzen Todessymbolik kenne ich mich ehrlich gesagt nicht so aus.


    Hallo picco,


    die Todessymbolik etc. sind auch nur Dinge, die man in der Schule vom Lehrer vorgekaut und erklärt bekommt. Da ist es vielleicht wirklich nicht schlecht, wenn du hier einen "unverbauten" Blick auf die Erzählung hast. Das bringt dann etwas frischen Wind in die Diskussion :winken:.


    Viele Grüße
    thopas


  • Ich habe bis jetzt auch nur die ersten beiden Kapitel gelesen und muß mich an den Stil erst noch gewöhnen. Da gibt es immer wieder Sätze, die ich zwei- oder dreimal lesen kann und sie trotzdem nicht verstehe.
    Soweit wie ich es bis jetzt verstanden habe, ist Aschenbach ein Schriftsteller mit einem Ziel vor Augen, etwas, das er in seinem Leben erreichen will. Aber es kostet ihn sehr viel Mühe und vor allem Disziplin. Das Schreiben fällt ihm nicht leicht, sondern ist harte Arbeit, zu der er sich jeden Tag auf's neue zwingt. Schön fand ich den Satz, wo ein Beobachter Aschenbach charakterisiert und den Vergleich mit der Faust und der 'bequem von der Lehne des Sessels hängenden Hand' bringt.
    Und jetzt wurde durch diesen Fremden irgendwie die Reiselust in ihm geweckt. Ich sehe darin eine Flucht vor diesem Leben im Zwang, das er sich selbst auferlegt hat, auch wenn er es vor sich selbst anders begründet.
    Na ja, das sind zumindest meine laienhaften Ansichten zu den ersten zwei Kapiteln. Mit der ganzen Todessymbolik kenne ich mich ehrlich gesagt nicht so aus.


    Hallo Picco


    Der Protagonist war bereit zu sterben. Er hatte sich "ausgeschrieben". Sein Lebenswerk war vollendet. Was nun folgte, war der Abschied von dieser Welt. Der Rothaarige repräsentiert aus meiner Sicht die Bedrohlichkeit des Todes, während der Junge den Erlösungsaspekt symbolisiert, den reinen Engel und Seelenführer, während der Protagonist, den unendlichen Meereshorizont vor Augen, dahinscheidet.

  • Hallo, Ihr Lieben!
    Ich bin vollkommen unbelastet an die Novelle herangegangen, wollte keine Todessymbolik erkennen und doch war der Gedanke an einen Todesboten sofort zur Stelle, als ich die Szene mit dem Manne las, den Aschenbach bei seinem Spaziergang trifft. Und auch der schöne Knabe, den er so ausführlich beobachtet, erinnert mich an einen Todesengel.
    In den beiden ersten Kapiteln habe ich die Gedanken des Autors zwar nicht ganz lückenlos nachvollziehen können, aber ich glaube, begriffen zu haben, dass er in jugendlichem Überschwang manches schrieb, was an Takt und Feingefühl fehlen ließ, im Laufe seines Lebens (auch durch sein persönliches Schicksal) aber zu Haltung und Würde fand.
    So ist ihm auch die Figur des Halbschurken zuwider, der sein Weib in die Arme eines Unbärtigen treibt. Versteht Ihr diesen Satz? Wen meint er denn mit dem Unbärtigen?


    Die Beschreibung der Reise, die Ankunft in Venedig, das Getriebe im Hotel, der Aufenthalt am Strand, die Bekleidung der anderen Reisenden und Badegäste, das Meer ohne Sonnenschein, seine dadurch getrübte Stimmung, das alles ruft doch Bilder wie auf der Leinwand hervor. Ich sehe das alles so deutlich vor mir, und was kein Film widergeben kann, ich fühle, was er beschreibt.


    Das macht für mich sein Genie aus, und ich freue mich schon aufs Weiterlesen.


    Liebe Grüße,


    Madeleine

  • Ich schlage vor, wir wenden uns erstmal dem 1. Kapitel zu. Sekundärliteratur kann man ja immer noch an den passenden Stellen einflechten.


    Das ist ja der Sinn und Grund, warum wir im Klassikerforum diese Materialienthreads führen:


    Einerseits finden wir hier alle sachdienlichen Hinweise schön gebüschelt und gebündelt; andererseits kann natürlich, wer will, sie auch einfach ignorieren. ;)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Das ist ja der Sinn und Grund, warum wir im Klassikerforum diese Materialienthreads führen:


    Einerseits finden wir hier alle sachdienlichen Hinweise schön gebüschelt und gebündelt; andererseits kann natürlich, wer will, sie auch einfach ignorieren. ;)


    Hi Sandhofer


    Ich war ja eine Weile nicht mehr hier und vergaß diese Aufteilung. Deshalb hab ich mich hier gewundert, so gar nichts zum 1. Kapitel zu lesen. Noch mehr wunderte ich mich aber, als ich wieder im eigentlichen Leserundenthread landete und die Beiträge von hier fehlten. :breitgrins:

  • Hallo zusammen


    Als Thomas Mann diese Novelle schrieb, gelang ihm diese derart fließend und leicht, dass er selbst davon fasziniert war.


    Interessant ist, dass diese Geschichte dort beginnt, wo die meisten Erzählungen enden. Ein Mann ist lebenssatt. Er hat keine Wünsche mehr, er erntete bereits alle Früchte seiner Arbeit. Er hat alles gesagt, was zu sagen war. Dieses Leben hatte seine Aufgabe erfüllt, er war bereit für etwas Neues, einen Übergang in ein anderes Leben. Er wollte Veränderung.


    Als meine Großmutter väterlicherseits noch lebte und schon gegen die Hundert zuging, fragte ich sie, ob sie die 100 noch erreichen wolle. "Nein", war ihre Antwort, obwohl sie gesund war und keinen Grund hatte, sich über irgendwelche Beschwerden zu beklagen. Auch lebten noch alle ihre Kinder. Sie sehnte sich nicht nach einem vermissten Toten, freute sich auch nicht auf ein himmlisches Jenseits oder dergleichen. Sie hörte nicht mehr so viel, sodass ihre Tochter, bei welcher sie lebte, auch nicht weiter nerven konnte. Sie war auch noch voll bei Verstande, schrieb mir sogar Briefe. Doch spürte sie, dass ihre Zeit gekommen war. Sie starb denn auch wirklich vor der 100.


    Als mein Vater starb, beobachtete ich im Jahr davor eine ähnliche Entwicklung bei ihm. Er veränderte sich, wollte wie Aschenbach in den Süden, als wäre es die letzte Gelegenheit, diesen Traum zu verwirklichen. Gleichzeitig beschäftigte er sich das erste Mal richtig mit dem Tod, sodass sein plötzlicher Tod wie die logische Folge daraus erschien. Ich denke, der Mensch spürt intuitiv seinen Tod. Bei einer schleichenden Krankheit wie der von Aschenbach ist dies noch wahrscheinlicher. Es ist ja oft so, dass der Körper schon vorher entsprechende Signale erhält, bei meiner Großmutter war es das Alter, bei meinem Vater der Herzinfarkt neun Jahre davor. Die Todesursache war ein plötzlicher Herzschlag, doch signalisierte sein Körper ihm ungesunde Werte, wie auch der Arzt bestätigte. Das Bewusstsein verdrängt diese Signale, doch werden sie wirksam in der Wahrnehmung. Der gefühlte Tod projiziert sich in der wahrgenommen Landschaft, in den Menschen, welche ihm wie Todesengel begegnen. Sie alle werden zu Symbolträgern der intuitiv wahrgenommen Botschaft des Unbewussten: Du wirst sterben ...


  • Hallo Thopas


    Hat man da in der Schule auch Parallelen zu anderen Werken der Weltliteratur untersucht, z. B. die des Rothaarigen mit Jeremias Gotthelfs Figur des ebenfalls rothaarigen Teufels in Die schwarze Spinne? Finde ich interessant, solche literarischen Hinweise.


    Ich persönlich stelle gern eigene Bezüge her, doch finde ich die Sekundärliteratur dazu auch wichtig, schließt sich ja nicht kategorisch aus, wenn der Schwerpunkt der Leserrezeption auf der Primärliteratur bleibt und sich nicht in Sekundär- und damit in gewisser Weise Secondhand-Literatur verliert.

  • Ich habe bis jetzt die ersten beiden Kapitel gelesen und war vor allem von der Charakterbeschreibung Aschenbachs fasziniert. Ich konnte mir richtig plastisch vorstellen, wie er im Schweiße seines Angesichts die Zeilen aus seinen Gehirnwindungen presst. :zwinker:


    Ein Punkt, der mir nicht klar geworden ist, ist die Rothaarigkeit des Mannes, den Aschenbach sieht. Dass er ein Todesbote ist, sehe ich ein, auf mich wirkte die gesamte Beschreibung sehr unangenehm und abstoßend, aber warum rothaarig?


  • Ich habe bis jetzt die ersten beiden Kapitel gelesen und war vor allem von der Charakterbeschreibung Aschenbachs fasziniert. Ich konnte mir richtig plastisch vorstellen, wie er im Schweiße seines Angesichts die Zeilen aus seinen Gehirnwindungen presst. :zwinker:


    Ein Punkt, der mir nicht klar geworden ist, ist die Rothaarigkeit des Mannes, den Aschenbach sieht. Dass er ein Todesbote ist, sehe ich ein, auf mich wirkte die gesamte Beschreibung sehr unangenehm und abstoßend, aber warum rothaarig?


    Hallo Telemachos


    Damit greift Thomas Mann ein literarisches Motiv auf, dessen Herkunft im Volksglauben wurzelt: Rotes Haar wurde mit dem Höllenfeuer in Verbindung gebracht. Ein Mensch, der mit dem Teufel im Bunde stand, hatte oft rotes Haar oder dann einen verdächtig rötlichen Stich im nach außen hin unbescholten wirkenden blonden oder braunen Haar. Jeremias Gotthelf verarbeitete solche Sagenmotive besonders eindrücklich in seiner Schwarzen Spinne. Der Teufel besaß einen roten, feurig lohenden Bart. Der Bart fällt bei Thomas Mann weg, trotzdem überlebt der Bart im Wort "Bartlosen", womit m. A. n. auch auf eine nur scheinbare Unbescholtenheit hingewiesen wird. Die Wildheit des Bartes ist augenscheinlich nicht vorhanden, aber in Wirklichkeit eben doch da im roten Haar und in den fletschenden Zähnen. Der Tod scheint gezähmt, doch ist es ja nicht wirklich so. Der Bart wächst nach.


  • Hat man da in der Schule auch Parallelen zu anderen Werken der Weltliteratur untersucht, z. B. die des Rothaarigen mit Jeremias Gotthelfs Figur des ebenfalls rothaarigen Teufels in Die schwarze Spinne? Finde ich interessant, solche literarischen Hinweise.


    Hallo Evelyne,


    nicht, daß ich mich erinnern kann. Aber das muß jetzt nichts heißen, denn es ist immerhin schon 15 Jahre her und meine Deutschhefte habe ich in der Zwischenzeit entsorgt, sodaß ich nicht mehr nachschauen kann. Es ist schon möglich, daß meine Lehrerin damals auch auf die Bedeutung der roten Haare hingewiesen hat. Danke, daß du dieses literarische Motiv hier nochmal so ausführlich erläutert hast, denn ich weiß zwar oft noch, was in der Erzählung bedeutend ist, aber leider nicht mehr genau warum...


    Der Gondoliere, der am Anfang des dritten Kapitels auftaucht, ist ja auch eigentlich blond, es werden allerdings rötliche Brauen erwähnt, also der rötliche Stich im Haar. Außerdem fletscht er ja wieder die Zähne.


    Interessant finde ich die Tatsache, daß Aschenbach, der ja nie aus Begeisterung oder Interesse verreist ist, sondern das Reisen nur als "hygienische Maßregel" gesehen hat, nun plötzlich der Drang zum Reisen überkommt. Aber das hast du ja schon ganz gut erklärt, daß Aschenbach eben alles gesagt hat, was zu sagen war und er jetzt eine Veränderung braucht. Was ich nur nicht ganz verstehe, warum "schleichende Krankheit" bei Aschenbach? Ich dachte immer, er infiziert sich in Venedig mit der Cholera und stirbt daran. Er mag ja vorher schon gewußt haben, daß er nicht mehr lange lebt, aber er war ja nicht wirklich physisch krank? Oder habe ich da was falsch verstanden?


    Viele Grüße
    thopas

  • Hallo zusammen


    Da ihr alle schon das 2. Kapitel beendet habt, will ich mal aufholen.


    Ich persönlich finde einen guten Zugang zum 2. Kapitel, denn es hat eine Menge mit mir selbst zu tun. "Heroismus der Schwäche" nennt es Thomas Mann. Wie Aschenbach nahm sich Thomas Mann 2-3 Morgenstunden zum eigentlichen Schreiben, während er am Nachmittag recherchierte und sich sonstigen Verpflichtungen hingab. Wenn ich neben meinen Pflichten kaum Zeit finde für Literarisches, denke ich oft an Thomas Manns Arbeitsmethode: Aufgrund der strikten Einhaltung seines Tagesplans schaffte er es "trotzdem", ein umfangreiches Gesamtwerk zu hinterlassen. Viele kleine Schritte führen auch zum Ziel.


    Ein weiterer Aspekt ist die literarische Entwicklung selbst: Thomas Mann bezeichnet es als "Aufstieg zur Würde". Auch wenn er sich hier auf Aschenbach bezieht, glaube ich auch hier Autobiographisches zu erkennen. Thomas Mann zog sich einigen Ärger zu aufgrund seiner literarischen Bezüge zu realen Geschehnissen und Personen. Da wird er sicherlich einiges bereut haben, bei gleichzeitigem Bedauern seiner eigenen Zähmung. Als Mann der Öffentlichkeit musste er Würde bewahren. Bestimmt zensierte er sich da auch selbst, denn es ging um seinen Namen.


    Der dritte Aspekt wäre die Krankheit Gustav Aschenbachs: Schon in seiner Jugend war er ein Fall für den Arzt, ein kränkliches Kind, so sehr, dass ihm der Weg zur Schule nicht mehr zugemutet werden konnte. Das erinnert mich an meinen Vater, er musste auch auf das Gymnasium verzichten, weil er schwer krank wurde und der Schulweg ins Gymnasium zu weit gewesen wäre in seinem geschwächten Zustand. Mein Onkel war aber der eigentliche Kranke mit seiner Tuberkulose, welche in seiner Kindheit auftrat, im jungen Erwachsenenalter klinisch behandelt wurde und in spätem Alter erneut ausbrechend seinen Tod herbeiführte. Dies wiederum erinnert mich an den Roman Der Zauberberg, den Thomas Mann in Anlehnung an seine Novelle Tod in Venedig anschließend schrieb. Tuberkulose war ja früher weit verbreitet.

  • Was ich nur nicht ganz verstehe, warum "schleichende Krankheit" bei Aschenbach? Ich dachte immer, er infiziert sich in Venedig mit der Cholera und stirbt daran. Er mag ja vorher schon gewußt haben, daß er nicht mehr lange lebt, aber er war ja nicht wirklich physisch krank? Oder habe ich da was falsch verstanden?


    Viele Grüße
    thopas


    Hi Thopas


    Das mit der Cholera stimmt schon, aber die Anfälligkeit für Krankheiten war durch seine Kindheit bedingt (Kapitel 2). Gerade deshalb hätte er sich vorsehen sollen, was er nicht tat, weil er bereit war für den Tod und er im Grunde schon vorher seinen Sterbeprozess antrat. In diesem Sinne ist der Mensch an sich ein von Kind an Sterbender. Gerade in früheren Zeiten war die Allgegenwart des Todes viel mehr präsent, die Sterblichkeit war höher.


  • Als mein Vater starb, beobachtete ich im Jahr davor eine ähnliche Entwicklung bei ihm. Er veränderte sich, wollte wie Aschenbach in den Süden, als wäre es die letzte Gelegenheit, diesen Traum zu verwirklichen. Gleichzeitig beschäftigte er sich das erste Mal richtig mit dem Tod, sodass sein plötzlicher Tod wie die logische Folge daraus erschien.


    Hallo, Evelyne,


    das sind sehr persönliche Zeilen, die ich mit einem Zitat aus T. Manns "Zauberberg" anreichern möchte: "Götter und Sterbliche haben zuweilen das Schattenreich besucht und den Rückweg gefunden. Aber die Unterirdischen wissen, dass, wer von den Früchten ihres Reiches kostet, ihnen verfallen bleibt."


    Ich denke, auch Aschenbach hat seit der "Begegnung" am Rande des Friedhofs das Schattenreich unwiderruflich betreten ...


    Meine Lektüre stockt zur Zeit leider ein wenig.


    Viele Grüße


    Sir Thomas


  • Hi Thopas


    Das mit der Cholera stimmt schon, aber die Anfälligkeit für Krankheiten war durch seine Kindheit bedingt (Kapitel 2). Gerade deshalb hätte er sich vorsehen sollen, was er nicht tat, weil er bereit war für den Tod und er im Grunde schon vorher seinen Sterbeprozess antrat. In diesem Sinne ist der Mensch an sich ein von Kind an Sterbender. Gerade in früheren Zeiten war die Allgegenwart des Todes viel mehr präsent, die Sterblichkeit war höher.


    Danke, Evelyne, daß du das nochmal deutlich gemacht hast. Ich denke da wahrscheinlich zu stark aus unserer Zeit heraus, nämlich daß ein einmal kränkelndes Kind später als Erwachsener dann kerngesund sein kann. Ich kenne durchaus Leute, die als Kind kränklich waren, später dann aber topfit und gesund. Aber die Medizin ist heute natürlich um einiges weiter. Da verliert man dann durchaus aus den Augen, daß kränkelnde Menschen früher meist ein Leben lang krank waren und immer den Tod vor Augen hatten.


    Aschenbach wirkt ja nur deshalb so fit, weil er sich ständig geißelt und weil er ziemlich "powert" (auf gut deutsch gesagt), um alles das schreiben zu können, was in ihm steckt. Wenn er jetzt nichts mehr zu sagen hat, läßt diese Kraft nach, die ihn antreibt, und er wird wieder der kränkliche Junge von damals.


    Viele Grüße
    thopas