Beiträge von Gontscharow


    Solche Rupturen können ein Leben lang weh tun. Da wird man auch nach Jahrzehnten u.U. noch die Zähne fletschen ...


    Das mein ich auch! Aber von so etwas wie Sozialneid des Zukurzgekommenen seiner Beatrice gegenüber verspüre ich bei Vigoleis nichts.



    Im übrigen melde ich Vollzug von Buch 2. Wir sind in einer "Räuberhöhle" gelandet, ohne dass Thelen dem Leser zu erkennen gibt, warum er die neue temporäre Behausung so nennt.


    Es scheint nicht nur eine "Räuberhöhle" zu sein. Warum fällt mir nur dauernd der Refrain von Francois Villons ballade de la grosse Margot ein?

    Zitat

    en ce bordeau ou nous tenons nostre estat


    Das rollende "R" erstaunt mich insbesondere, weil ich meine, dass der Basler "Daig" sich in der Aussprache des "R" - ähnlich wie die Bernburger - das französische Zäpfchen-R angeeignet hatten.


    Erstaunlich, was sich durch den Text alles auftut.
    Die Bruckners wohnten übrigens nicht in dem vom Daig bevorzugten St. Alban-Ouatier, sondern im Stadtteil Kleinhüningen(Kleinbasel).
    Von der Exklusivität Basler Patrizierfamilien - Vigoleis nennt es mit dem Kölner Ausdruck "Klüngel " - ist in der Insel in Buch 2,Kap.II die Rede: Vigoleis mit Vogel-f wie Vischer. Burckhardt nur echt mit ck und dt.

    Vielleicht ein kleiner, feiner Hieb des aus nicht ganz so feinen Verhältnissen stammenden Thelen gegen seine angeheiratete Sippschaft, des katholisch Erzogenen gegen das erzprotestantische Basel seiner Beatrice?


    Wäre denkbar. Aber: Die Professoren-und Pfarrerstochter teilt das Bohemienleben mit Vigoleis, lebt in "wilder Ehe". Mit ihrer Herkunft, ihrem Basel, hat sie gebrochen, liegt ohnehin mit ihrer Heimat in Fehde (S.174,Buch 2, Kap.II). Da bedarf es keines Seitenhiebs mehr.
    Die positiven Seiten ihrer groß-bzw.bildungsbürgerlichen Erziehung , ihre guten Manieren, ihre unaufdringliche Vornehmheit, ihre Weltläufigkeit werden von dem aus kleinen Verhältnissen stammenden Vigoleis zudem - wie ich finde - neidlos, voller Anerkennung und Respekt dargestellt. Gerade finde ich in 2/IV den wohl hauptsächlichen Grund für Beatricens (lebenslangen) Bruch mit Basel:


    Zitat

    Beatrice hatte ihr die Lebensgeschichte ihrer exotischen Mutter erzählt, die an den Klippen derer von ck-dt zerschellen musste und auch zerschellte.


    Die Lebensgemeinschaft dieser beiden grundverschiedenen heimatlosen Menschen, deren eigentliche gemeinsame Heimat Geist, Literatur und Kunst ist, macht unter anderem das Buch für mich spannend und anrührend.


    Ich habe das dann noch gestern Abend nachgeholt. In meinem Nachwort steht dann aber auch nur "Schweizer Gelehrtenfamilie"


    In meinem auch! :redface:
    Ich habe dann mal bei google Beatrice Bruckner Basel eingegeben und fand u.a.:meine eigene kühne Behauptung im Klassikerforum, aber auch folgendes: 2003 fand anlässlich des 100.Geburtstages Thelens eine Ausstellung mit dem Titel A. V. Thelen - virtuoser Erzähler und Vagabund in Basel statt. Dazu heißt es: Vigoleis' Beatrice, die die meisten für eine literarische Fiktion hielten, soll eine Vitrine gewidmet werden. Sie stammte aus Basel, sie war die Schwester des Historikers Albert Bruckner und die Nichte des Sprachwissenschaftlers Wilhelm Bruckner..
    Schließlich stieß ich auf die Genealogie der Familie Stroux/Speiser (http://www.stroux.org/patriz). Dort erscheint Beatrice unter Stamm Bruckner Basel Argentinien. Vater: Albert Bruckner, Pfarrer und Privatdozent an der Uni Basel. Großvater: Theophil Bruckner, Dr med, vermutlich der Homöopath in der Insel und neben Bruder Albert (s.o.) der jüngste Bruder Peter (Zwingli), dessen Spuren sich in Esperanza/ Argentinien verlieren...Die Mutter, Anita Haas, war wohl Südamerikanerin. Daher Beatricens Inkablut im Text.
    Beatrice, gebildet , belesen und polyglott, der immer alles zuerst vorgelesen wurde, müsste ja eigentlich Einspruch erhoben haben bei der Stelle mit dem R. Vielleicht hat sie es wegen des schönen Bonmots durchgehen lassen, wie sie ja überhaupt ihrem Don Vigo so einiges nachgesehen hat.
    Um in dieser Sache ganz sicher zu gehen :breitgrins:, werde ich jemanden befragen, der noch mit Beatrice im Seniorenheim in Viersen/ Dülken persönlich gesprochen hat. Kein Witz: Neulich erzählte mir ein Pfarrer i.R. vom Niederrhein, wo er über Jahrzehnte eine Pfarrstelle innehatte. Ich fragt, ob er Süchteln kenne und, als er bejahte, ob Thelen dort noch bekannt sei. Ach, das sei der mit dem Buch, irgendwas mit Insel und Gesicht... ja , den habe er noch im Altersheim in Viersen /Dülken besucht, allerdings habe der Besuch der Frau gegolten , die Schweizerin und Protestantin gewesen sei...
    Den werde ich mal fragen, ob er sich an ein rollendes R bei Frau Thelen erinnert. :breitgrins: Dann ist aber Schluss.


    Ich bin ebenfalls bis zum 6. Kapitel vorgedrungen. Ja, die Kindheitserinnerungen. So witzig sie daherkommen mit dem älteren Bruder, Züchter des Unflughuhns und dem bemerkenswerten Eieranfall , so bitter(böse) sein Fazit:

    Zitat

    Ich selbst mag zudem Kindheitserinnerungen nicht, ich lese lieber eine intelligente Tiergeschichte.

    Hallo Wolf!


    Super, dass Du als Thelen-Leserunden-Abstinenzler unsere Hausaufgaben machst! :klatschen:
    Danke für Deine Mühe! Wirklich interessant, was Du zutage gefördert hast. Irgendwie beruhigt es mich zu wissen, dass die überwiegende Mehrzahl verbürgte Wörter und keine Worterfindungen sind.


    Zum Wort Tüchte: Auch Untüchte kommt vor. Im Prolog sagt Thelen von sich:...des Lebens Untüchte wie ein Zeichen an der Stirn. Das klingt natürlich anders als: die Lebensuntüchtigkeit wie ein Zeichen an der Stirn...Dieses Weglassen von Struktursilben, Prae-und Suffixen habe ich auch anderweitig gefunden: Ruch statt Geruch, Sporn statt Ansporn , spornen statt anspornen ... Klingt irgendwie kerniger. Er hat schon Sprachwitz, unser Thelen. Gerade hab ich verklepperte Oberlehrer gefunden. Was sagt man dazu?


    Liebe Grüße
    G.


    Wo sollte man Neologismen nachschlagen?

    :zwinker:
    Man kann durch Nachschlagen unbekannter Wörter zumindest herausfinden, dass es sich nicht um Archaismen, Dialektismen oder was auch immer handelt, sondern Wortschöpfungen des Autors sein müssen, deren Sinn man sich selbst erschließen muss.


    Ich wüsste gerne mehr über die Herkunft von Beatrice. Die Mutter liegt in Basel im Sterben. Wenn dies Beatricens und Zwinglis Heimat war, müsste das rollende "R" fehlen und auch die Gutturallaute wären relativ gedämpft.


    Ja, die Bruckners waren wohl eine Basler Gelehrtenfamilie (vgl. Nachwort zur List Taschenbuch-Ausgabe). Irgendwo habe ich gelesen, Beatrice und ihre Brüder seien Halbsüdamerikaner gewesen. Aber hier geht es ja um das schweizerische R. Schade wenn's für die Baseler nicht zutrifft. Die rollenden Rrr und die Kehllaute als Vermächtnis der eidgenössischen Geröllhalde fand ich einfach zu schön. Na ja, se non e vero, e ben trovato wie der Tessiner sagt.


    er ist ein feiner Beobachter, die spanische Familienszene ist sehr gut gelungen.


    Ja, die Szene fand ich auch besonders witzig und treffend. Gleichzeitig schildert Thelen auch sehr fein das typische kulturelle Unterlegenheitsgefühl des unbeholfenen Nordländers angesichts des mediterranen Alltaglebens, wobei es ja hier ironischer Weise vor allem um die elegante Treffsicherheit eines Ohrfeigen austeilenden Vaters geht.
    Von der Sprache bin ich auch sehr angetan. Allerdings stelle ich fest, dass auf fast jeder Seite ein deutsch klingendes Wort vorkommt , das ich nicht kenne: Schlunte(ich kenn nur Schlunze), Schöke, schürgen, Tüchte, Anlände, Gäuche , Ledikant (ja, aus dem Zusammenhang gefolgert: Einzelbett), Befahrnis, Spute, Besage , um nur einige aus den ersten Seiten zu nennen. Es scheinen Verballhornungen, Neologismen, Archaismen , Dialektismen zu sein. Wie verfahrt Ihr damit? Einfach überlesen? Nachschlagen? Oder versteht Ihr alles?
    Ja, Thelen geht gut mit Sprache um und ist auch da ein witziger Beobachter:

    Zitat

    ... fiel Zwingli zuweilen herablassend ins Deutsche, das ihm zwar geläufig von den Lippen ging, nicht aber ohne die rollenden Rrr und die Kehlgeräusche, die ein Vermächtnis seiner eidgernössischen Geröllhalde waren ...


    Und Gontscharow: Ja, Will Quadflieg spricht Dein Lieblingsgedicht :zwinker:.


    Hab ich's doch geahnt!



    Meine Meinung: Lyrik gewinnt beim Hören viel mehr, als einige schlechte Sprecher vergraulen können.

    :breitgrins:



    hier mein "Fazit": Ich kann dem gesprochenen Gedicht mehr abgewinnen,
    als vorher gedacht. Vielfach "höre" ich Bedeutungen, Rhythmen und Farben
    in einem Gedicht, die ich vorher nicht "gelesen" habe.


    Klingt gut. Da werde ich wohl auch nochmal einen Versuch starten müssen!
    :winken:


    Nun ja - die ganze Art des Projekts ging/geht mir gegen den Strich.


    Mir auch!
    Aber ob das voraussehbar war?
    Dass die Texte, von zweifelhafter Musik umwabert, derartig verkitscht und verhunzt werden würden, hat mich jedenfalls einigermaßen negativ überrascht.

    Na ja, es ist doch aber nicht so, daß es nur Hörbücher mit exaltierten Sprechern gäbe.


    Das stimmt natürlich. Eigentlich stört mich generell am Hörbuch- unabhängig von der Penetranz etwa eines Quadflieg - , dass sich Interpretation und Persönlichkeit des Vortragenden zwischen mich und den Text drängen.
    Es gibt aber sicher Texte, die durch Vortrag gewinnen und vielleicht ihren Charme erst so richtig entfalten. Beispiel : Irmgard Keun:" Das kunstseidene Mädchen" gelesen von Fritzi Haberland.
    Mit Hör-Gedichten bin ich vorsichtig. Eine Katastrophe war "Das Rilke-Projekt"!
    Mal sehen , zu welchem Fazit Gnorry kommt.


    Gruß
    G.


    Teilweise peinlich ist Will Quadflieg - wie in der Wochenschau oder
    wie anno '54 zu Bern: "Aus dem Hintergrund müsste Prometheus
    schießen. Prometheus schießt. Tor, Tor, Tor!"


    Köstlich!! Kann ich mir genau vorstellen! Das ist der Grund, warum ich (bislang) Hörbücher gemieden habe.



    Schade ist, dass er gerade die Gedichte liest (und aus meiner Sicht
    ruiniert), die mir am besten gefallen.


    Liest er etwa auch mein Lieblingsgedicht "Rastlose Liebe" ?
    "Lieber durch Leiden möcht ich mich schlagen,
    als so viel Freuden
    des Lebens ertragen.
    Alle das Neigen ...."


    Grüße
    G.

    Habe gerade den Roman Nachts unter der steinernen Brücke von Leo Perutz beendet und bin begeistert!
    Frage an die Perutz-Kenner, von denen es in diesem Forum sicher einige gibt : Welche weiteren Bücher von Perutz könnt Ihr mir empfehlen? Zwischen neun und neun habe ich vor kurzem schon verschlungen.

    Gruß
    G.

    deine Vermutung scheint mir sehr zutreffend. Meine Idee war, dass der Autor die zwei weltbekannten Deutschen “ausgenutzt” hat, um ohne einen wirklichen substanziellen Inhalt Erfolg zu haben.


    Ihr sprecht mir aus der Seele! So funktioniert auch der Erfolg etlicher anderer Bücher.
    "Und Nietzsche weinte" z.B. wurde auch hochgelobt und - war enttäuschend .

    Hallo scardanelli!


    Interessant! Ist es das von ihrem Sohn David Rieff über sie geschriebene Buch, das 2009 bei Hanser erschienen ist?
    Susan Sontags Essays finde ich sehr interessant, besonders natürlich "Krankheit als Metapher".