Beiträge von Gontscharow


    Das ist in meiner Ausgabe II, 2 und 3, iirc. Jedenfalls nicht I.


    Ja, im französischen e-Text ist das auch so. Ich zitierte die Insel-Ausgabe, da ist es I/20.



    Weshalb? Als Idee finde ich die Sache ziemlich rund und gut motiviert.


    Der Metzgereibetrieb wird dem Chourimann angeboten, um ihn auf die Probe zu stellen. Er besteht die Probe , bekommt beim Schlachten eines Schafs die Krise, kann kein Blut mehr sehen.


    Zitat

    Wir müssen es allerdings Rudolf zugute halten, dass er diese Reaktion erhofft, ja geradezu erwartet hatte. Und er hatte willentlich die Szene im Schlachthaus herbeigeführt.


    Nun soll der Chourimann Kolonist werden. Es handelt sich dabei nicht nur um Ackerbau und Viehzucht, sondern


    Zitat

    ...ich (habe ) diese Güter absichtlich erworben... sie befinden sich am Rande des Atlasgebirges, das heißt an den Vorposten, und sie sind den häufigen Angriffen der Araber ausgesetzt. Dort muss man ebenso Soldat wie Landmann sein...Die Kolonisten haben sich zu einer Miliztruppe zusammengeschlossen... Sie (werden Sie)... zum Führer einer ... durch ihre Tapferkeit beseelten kleinen Armee machen. ... weil ich Ihre natürliche Tapferkeit in nützliche Bahnen lenken wollte


    Die Idee ist rund und gut motiviert für einen Mann, der gerade der Gewalt und dem Töten abgeschworen hat? Wie abstrus ist das?
    Natürlich entspricht diese Idee der damals üblichen Praxis der europäischen Kolonialmächte, ihre Schwerverbrecher in die Kolonien abzuschieben. das Mutterland war sie los und dort konnte ihre (kriminelle) Energie in "nützliche Bahnen " gelenkt werden. Uaah!


    Der Chourineur ist nicht uninteressant.


    Nein. Über seine endgültige Abkehr vom Töten heißt es in I/20:


    "Sehen Sie,(...)...als ich den Schrei des armen Tieres hörte, das sich nicht einmal wehrte...als ich das Blut auf meinem Gesicht fühlte...das warme Blut ...das lebendige Blut...(...) da habe ich meinen Traum wiedergesehen ... den Feldwebel ... und all die armen jungen Soldaten, die ich niederstach, und die sich nicht wehrten, und die mir sterbend so sanft in die Augen blickten...so sanft...dass sie mich zu bedauern schienen. Ach! Gnädiger Herr! Es ist zum Verrücktwerden!"


    Das ist innerhalb der etwa tausend Seiten, die ich bis jetzt gelesen habe, die einzige Stelle, die mich hat aufhorchen lassen, die mich berührt hat und mir originell und echt vorkam.


    Aber wie wird sie dann gleich wieder moralisch süß-sauer überzuckert:
    Rudolf war tief gerührt. (...) Einen Augenblick lang hatte fast der tierische Blutinstinkt über den Menschen gesiegt, aber dann hatte die Reue sich doch stärker erwiesen. Das war nicht nur schön, sondern auch eine große Lehre.


    Unsäglich auch, dass der Chourimann als Kolonist nach Algerien geschickt wird.

    Danke, mombour, für den Link!

    Kertész ist ein so charmanter, intelligenter Mann! Zuletzt habe ich ihn vor zwei Jahren eindrucksvoll im Berliner Ensemble erlebt bei der Trauerfeier für seinen Freund George Tabori.
    Das Interview zeigt den typischen Kertész: witzig, ironisch, rückhaltlos ehrlich.
    Sein Roman eines Schicksallosen ist ein Jahrhundertbuch, wie der Interviewer sagt, ja, das trifft es! Für mich ein Buch, über das ich gar nicht mehr würde diskutieren wollen! Eure LR in litteratur.ch habe ich dennoch verfolgt und stimme dir zu!


    Zitat aus dem Interview:
    Ich habe über den Holocaust geschrieben, weil ich ... diese für das 20.Jahrhundert so zentrale Erfahrung machen musste, machen konnte- weil ich in Auschwitz war und in Buchenwald. Bedenken Sie: Was für ein Kapital!


    Nicht Hypothek - Kapital! Beeindruckend, nachdenkenswert!

    Keine Angst :winken:


    Was macht dich so sicher? Spätestens ab Ende des ersten Teils ahnt der Leser, was es mit Marie und Rudolf auf sich hat, etwas später wird es explizit gesagt. Aber unsere beiden Protagonisten sind ahnungslos! Jedenfalls bis VIII,9 - soweit bin ich jetzt - und Marie scheint in Rudolf verliebt....
    Ein kleiner Inzest ist also noch drin. :entsetzt:


    Ich vermute aber eher, dass sandhofers Version sich durchsetzen wird. Das passt besser zur Bigotterie des Romans.


    Aber so wirklich hin und weg bin ich (noch?) nicht ...



    Also wenn ich das so lese, frage ich mich, ob ich überhaupt anfangen soll ;-)



    Ich habe auch noch nicht angefangen, würde ab morgen dazu kommen, aber wenn ich die Kommentare hier so lese, bin ich noch am Zögern.


    Ja, was erwartet ihr denn? Die Geheimnisse sind ein Feuilleton-Fortsetzungsroman mit allen genretypischen Merkmalen. Ein Trivialroman reinsten Wassers, ein Schmachtfetzen mit melodramatischen, moritatenähnlichen Episoden, unglaublichsten Zufällen, edlen und abgrundtief bösen Menschen, ehrbaren Dirnen, diabolischen Advokaten, haarsträubenden Intrigen... Er beinhaltet naive Sozialanklage und zweifelhafte Lösungsvorschläge, lässt wohltätige entsagende Damen, dem Wahnsinn verfallene Familienväter usw. auftreten.
    All das hat man schon geahnt und es bestätigt sich beim Lesen schon der ersten Kapitel.
    Mit seinem exorbitanten Erfolg und seiner enormen Wirkungsgeschichte gehört der Roman zum kulturellen Fundus Frankreichs, ist Allgemeingut, fast Folklore, aber auch ein Phänomen der Weltliteratur und aus all diesen Gründen für mich interessant und lesenswert.
    Ich hoffe, in der Runde noch einiges über den Einfluss dieses Romans auf Hugo, Balzac, Dickens, Dostojewski, May , den Kriminalroman und so fort zu erfahren.
    :winken:

    Unter Eugène Francois Vidocq, dem ehemals kriminellen (ersten) Detektiv, Begründer und Direktor der Sûreté Nationale, der Schriftsteller wie Hugo und Balzac inspirierte und auch als Vorbild für Sues Rodolphe de Gerolstein gilt, ist 1836 ein Dictionnaire d'Argot herausgekommen, das über die Vidocq-Wikipedia-Seite einsehbar ist! Man findet einige Sue'sche Argot-Ausdrücke (z.B. chouriner), aber viele auch nicht! Die seltsamen, aber echten Rotwelsch-Ausdrücke (danke Wolf!) der deutschen Übersetzung entsprechen wohl der etwas krampfhaft um Authentizität bemühten Verwendung von Argot im Original.
    Meine Mystères sind immer noch nicht angekommen. Ich schmökere derweil im E-Text.

    So, eben habe ich das Buch aus dem Weidle Verlag Die Literatur in der Fremde, herausgegeben und aus dem Niederländischen übersetzt von Erhard Louven, beendet. Es vereint die von Thelen in den Jahren 1934 - 1940 unter dem Pseudonym Leopold Fabrizius verfassten Rezensionen deutscher Exilliteratur für die niederländische Zeitung Het Vaderland.


    Ich bin begeistert von dem Buch - in mindestens dreierlei Hinsicht:


    Es ist ein faszinierendes Kompendium der Exilliteratur jener Jahre zeitgleich gesehen durch die Augen des angehenden Romanciers Thelen in seinem Exil auf Mallorca und anderswo. In 40 Artikeln bespricht Thelen immerhin 143 Bücher von so renommierten Schrifstellern wie J. Roth, Horvath, Heinrich und Klaus Mann, Feuchtwanger, Werfel, Arnold und Stefan Zweig, Keun, O.M. Graf, Seghers, Kesten, Döblin, um nur die bekanntesten zu nennen! Erstaunlich, was in diesen sechs Jahren an Bedeutendem entstanden ist! Thelen schreibt hier unprätentiös, aufs Wesentliche konzentriert, gut lesbar, moderat, dabei aber nicht unkritisch, und ab und an blitzt auch die vertraute Thelen'sche Ironie auf. So z. B. wenn er über Klaus Manns Vulkan, den groß angelegten Roman der Emigration schreibt: Auf 700 Seiten bringt uns Mann unter die Emigranten ...... und man vermisst eigentlich nur noch ein Requisit, das in Kürze ganz bestimmt nicht fehlen wird: die Emigrantenratsche, mit der sich diese Verdammten dem Publikum zu erkennen geben wie im Mittelalter die Leprösen.


    Meine ursprüngliche Motivation für die Lektüre war, O-Ton Thelen aus den Jahren zu hören, über die er mit einem Abstand von fast zwei Jahrzehnten in der Insel schreibt. Im letzten Teil stellt sich Thelen/Vigoleis ja als erklärten hellsichtigen Anti-Faschisten dar, der alles durchschaut und voraussieht, sogar besser als andere Betroffene und Hilfesuchende, und jegliche Angebote von Nazi-Größen auf der Insel ausschlägt. Da kamen manchmal Gedanken wie: Na ja, nun, da alles klar und es opportun ist, ist leicht zu sagen: Ich war immer dagegen, ich hab's gleich gewusst und was der rückwärtsgewandten Prophetie mehr ist. In Thelens Rezensionen vor der Folie der Zeitgeschichte wird nun eindrucksvoll die Unbeirrbarkeit seines politischen Urteils deutlich. Ja, er hat von Anfang an gewusst, was da lief, was sich anbahnte und er prangert es an!
    Thelen schrieb die Artikel auf Deutsch, Meno ter Braak übersetzte sie ins Niederländische und Erhard Louven, übrigens ein Verwandter Thelens, der auch das kluge Vorwort geschrieben hat, rückübersetzte sie ins Deutsche. Da ist natürlich einiges "lost in translation". Zudem strich Menno ter Braak politisch allzu anstößige Stellen. ( Thelen erwähnt das auch in der Insel und vermutet, dass die Niederländer um ihren Gemüseabsatz in Deutschland fürchten :breitgrins:) Egal, was von Thelens ursprünglichen Artikeln übrigbleibt, spricht eine klare Sprache. Das hat mich irgendwie sehr gefreut und mir meinen Kompatrioten Thelen noch sympathischer gemacht.


    Gefreut an dem Buch hat mich auch, dass Thelens Freund und Mentor, der konsequente Antifaschist Meno ter Braak, (der sich übrigens @ sandhofer in Thelens Kosmos als Antipode Pascoaes' sah) hier noch einmal gewürdigt wird! Thelens letzter Artikel erschien am 28.04.1940.
    Am 14. Mai 1940 setzte Meno ter Braak seinem Leben ein Ende, wenige Tage nachdem deutsche Truppen in die Niederlande einmarschiert waren.


    @ bigben: Dein Buch müsste mittlerweile auch angekommen sein. Hast Du mal reingeschaut?

    Ich kenne weder Autorin noch Buch, aber solche Sätze könnten sie mir fast sympathisch machen. :breitgrins:


    Böll-Bashing mit dieser oder ähnlicher Argumentation kennt man nun seit mindestens 25 Jahren! Es ist so wohlfeil und originell wie das Motiv der intellektuellen/akademischen Taxifahrer(in).
    Dann doch lieber gleich "Die Taxifahrerin" von Victoria Thérame aus dem Jahre 1978, das spielt wenigstens in Paris.


    [ Der Gedanke staatlich zugewiesener Kebsweiber ist ganz einfach Unsinn.


    Nun ja, aber eine Schein-Notwendigkeit für das Mägdewesen wird - zumindest im Film - angegeben: Die Welt ist nach einem Krieg atomar verseucht, die meisten Frauen nicht mehr gebärfähig. Der Gottestaat soll nach dem alttestamentarischen Vorbild von Abraham, Sarah und der Magd Hagar bevölkert werden. (Heute gibt es natürlich einfachere Lösungen.)
    Das Horrorszenario des Films war irgendwie stimmig: Frauen gekenntzeichnet nach ihrer Funktion, uniformiert, bzw. verschleiert, Frauen als Gebärmaschinen, öffentliche Hinrichtungen bei Unbotmäßigkeit... Als ich im Jahr 2000 die unter der Burka gedrehten Horrorszenen aus Taliban-Afghanistan sah, die öffentliche Hinrichtung einer Ehebrecherin vor johlender Menge in einem Stadion in Kabul, hatte ich das Gefühl, die Realität hat die Atwood'sche Fiktion eingeholt.
    Warum sich also noch so eine Dystopie antun? Wie gesagt, es hat mich nach dem Film nicht gereizt, dieses Buch der sonst wirklich lesenswerten Autorin zu lesen.


    wer kennt bereits Romane von M. Atwood?


    Ich, und zwar:


    Die essbare Frau (The edible woman)
    Die Unmöglichkeit der Nähe (Life before man)
    Verletzungen (Bodily Harm)
    Katzenauge (Cat's Eye)
    Die Räuberbraut (Robber Bride)
    Alias Grace (Alias Grace)


    Die Lektüre liegt lange zurück, in feministischer Vorzeit. (An dieser Stelle muss ich mich mal outen: Anders als mein Nick suggerieren könnte, bin ich Frau.)
    Bis auf Alias Grace , das aus irgend einem Grund enttäuschend war, habe ich alle Bücher in guter Erinnerung, bin mir aber - obwohl ich Atwood jenseits allen feministischen Gedöns' für eine exzellente Schriftstellerin halte - nicht ganz sicher, ob die Texte mir heute noch zusagen würden. Bei welchem Buch ich aber sicher bin, ist ihr - imho- bester Roman Katzenauge (Cat's Eye), die unglaublich intensive Schilderung einer (weiblichen) Kindheit und Jugend im Nachkriegs-Kanada, in die wohl einiges Autobiographische eingeflossen ist.
    An Atwoods autobiographischen Roman Moralische Unordnung hast du mich jetzt dankenswerter Weise erinnert. Ich werde ihn sicher lesen.
    Den Report der Magd habe ich um 1990 herum in der Verfilmung von Volker Schlöndorf gesehen. Ein beeindruckender Film, der alle weiblichen Alpträume in geballter Form vereint. Der Film hat mich aber nicht dazu animiert, das Buch zu lesen.


    @ sandhofer: Was meinst du in diesem Zusamenhang mit Setting und warum ist es absolut unmöglich?


    ; die Literatur sollte nicht das Elend der Welt noch verdoppeln, indem sie es auch noch (wieder und wieder) schildert.


    Ganz im Gegenteil: (Mit-)geteiltes Elend ist halbes Elend! Wie schon der Volksmund weiß!


    Ja, Leid, Elend, Gewalt sind das Lebensthema Herta Müllers und vieler anderer Menschen Osteuropas und speziell Rumäniens! Wir in Mittel-u. Westeuropa wissen viel zu wenig darüber!


    Mombour, du sprichst mir aus der Seele! Du kennst ja auch Texte von Herta Müller...


    Zudem, mon cher scardanelli, Qualität von Literatur am Thema und daran, ob's erfreulich ist, festzumachen, überzeugt wenig!


    Thelen schlägt Pescaoes vor, den "Zürcher Professor" Jean Gebser ins Portugiesische zu übertragen.


    Nach dem was man so über Gebser liest, scheint es ja erstaunliche Parallelen zu Thelen zu geben: Gleichaltrig, 1931 - 36 spanisches Exil, Übersetzer, Mittler zwischen den Kulturen, selber zwischen den Nationen/Stühlen, skurriler Denker, verkannt, Geheimtipp... Kein Wunder, dass Thelen sich für ihn stark macht.


    Erfährt man eigentlich in den Briefen etwas über seine Vorliebe für Mystik? Die Hinwendung des unter seiner katholischen Erziehung leidenden, religionskritischen, atheistischen(?) Thelen zur(christlichen?) Mystik finde ich erstaunlich und irgendwie spannend.
    Geben die Briefe da Aufschluss?



    Danke für den Hinweis. Die Sendung scheint nicht als Audio-Beitrag verfügbar zu sein. Schade.


    Dadurch, dass sich Vigoleis-Thelen von Anfang an vom Wahrheitsanspruch der Autobiografie lossagt, ist er unter Umständen wahrheitsgetreuer


    Du hast ja wieder mit allem so recht!



    Insbesondere wenn ein mehr oder weniger der Autobiografie zuzurechnender Text schon mit einem Veröffentlichungsgedanken im Hinter- oder Vorderkopf abgefasst wurde, sind Verfälschungen oder Auslassungen nie auszuschliessen.


    Ja, genau! Und das könnte auch der Grund sein, warum von seinem politisch unbotmäßigen Schreibsklaven in seinen Aufzeichnungen nicht die Rede ist! Kesslers Texte erschienen ja bei S.Fischer, mitten im Reich (S.844), wie Thelen-Vigoleis bemerkt. Der Tatsache, dass die Zusammenarbeit mit seinem wust -, thäl - und thelenmännischen Sekretär so gut klappte, habe ich es zu danken, dass er sich keinen politisch unbescholtenen Abschreiber gesucht hat. Manchmal wurde ihm ja ganz angst und bange über meine Unberechenbarkeit. ( S.857). Man muss das ja nicht an die große Glocke (der Tagebücher) hängen.


    Danke, BigBen für die interessante Information!