Hallo Sandhofer,
Zitat von "sandhofer"
Ein Mystiker in seiner Ekstase sieht Himmel und Hölle, wie sie 'wirklich' sind, er sieht keine Traumgebilde! Dahinter steht auch der Gedanke, dass Gott uns ja nicht betrügt.
Das ist eine interessante Variante, auf die ich gar nicht gekommen bin. Wenn ich Dich recht verstehe, ist es so gemeint: Der Inhalt der Vision ist nicht real (d.h. im konkreten Fall: Dante ist nicht tatsächlich in den Jenseitsreichen gewesen), aber trotzdem wahr (d.h. alles ist so, wie Dante es erlebt hat).
Wenn man genauer darüber nachdenkt, stellt man allerdings fest, dass das nur dann funktionieren kann, wenn der Visionär passiv ist. Stell Dir folgendes Gedankenexperiment vor: Du schickst einige Tage nach Dantes Reise einen Reporter los, der genau Dantes Weg folgt, und der einige der Personen, mit denen Dante gesprochen hat, befragt: "Entschuldigen Sie, dass ich Sie bei Ihrer Buße störe, hätten sie zwei Minuten Zeit, um mir eine Frage zu beantworten... ja? Nun, kam hier vor wenigen Tagen ein Lebender vorbei, der so und so ausgesehen hat und das und das gesprochen hat...?" (wobei er exakt Dante beschreibt).
Was wird die Antwort der Befragten sein? Wenn sie sagen "Nein, so einen haben wir nicht gesehen", dann war Dantes Vision nicht wirklich (denn in seiner Vision haben sie ihn gesehen und mit ihm gesprochen). Wenn sie dagegen "Ja, der war hier" sagen, dann muss Dante wirklich in der Hölle usw. gewesen sein.
Mit anderen Worten: An der Frage, ob Dante physische und andere Spuren am Ort seiner Vision hinterlassen hat, entscheidet sich, ob es sich um eine Vision ohne Realität (also um reine Einbildung) oder um ein reales Geschehen handelt. Und der Grund für diese Alternative ist, dass Dante laut seiner eigenen Vision solche Spuren hinterlassen hat!
Der einzige Ausweg, den Du aus diesem Dilemma hast, ist zu erklären, dass die Seelen ebenfalls Visionen hatten, deren Inhalt zufällig exakt mit Dantes Vision übereinstimmt. Dann wären wir bei Leibniz' Monaden mit ihrer prästabilierten Harmonie... eine gewagte Konstruktion.
Zitat
Wenn wir das Ganze allerdings fertig denken, müssen wir zugeben, dass wir als kleine Menschlein nicht unbedingt in allem, was der Allwissende tut, einen Sinn zu erkennen fähig sein müssen / können. Um ein doofes Beispiel zu nehmen: Begreift Dein Hund alles, was Du tust?
Natürlich halte ich mich nicht für allwissend. Nur, das gilt auch für Dante. Und der Unterschied, der vielleicht noch zwischen Dante und mir besteht, ist doch sicher verschwindend klein im Vergleich zu dem Unterschied zwischen irgendeinem von uns und Gott (wenn man Gott voraussetzt). Wenn Du also uns Menschen die Erkenntnisfähigkeit absprichst, brauchen wir uns mit der Göttlichen Komödie nicht zu beschäftigen, da auch sie nur Menschenwerk ist.
Nun noch eine letzte Bemerkung zum Sinn der Strafe, insbesondere der Vergeltung.
Mein Weltbild ist in der Tat vergleichsweise modern und im Wesentlichen von den Erkenntnismethoden der Naturwissenschaften geprägt. Ich glaube daher, dass nicht nur die physischen, sondern auch die geistigen Fähigkeiten der Menschen das Ergebnis eines Selektionsprozesses sind, und dass alle geistigen Eigenschaften sich aufgrund eines Überlebensvorteils durchgesetzt haben.
Nimm als Beispiel die Sprache und stelle Dir vor, dass zwei räumlich getrennte Völker von Jägern und Sammlern unter ähnlichen Umweltbedingungen leben, auch mit ähnlichen Eigenschaften ausgestattet sind, nur dass das eine Volk die Fähigkeit der Sprache hat. Was kann es damit anfangen? Es kann die Jagd koordinieren, Informationen über gefährliche Tiere weitergeben, beschreiben, wie man zu Wasserstellen findet, Erkenntnisse darüber, welche Pflanzen bei welchen Krankheiten hilfreich sind, weitergeben, ... mit einem Wort, es hat einen immensen Überlebensvorteil.
So ähnlich muss man sich die Entstehung von sozialen Strukturen vorstellen. Eine Gruppe, die zusammenhält, überlebt leichter, hat mehr Nahrung und damit mehr Nachkommen, als eine Population von Einzelgängern.
Und zu diesen sozialen Strukturen gehört auch Moral. Darunter verstehe ich Verhaltensnormen, die in einer Gemeinschaft Gültigkeit haben, dort aber im Wesentlichen nicht über die Ratio begründet werden, sondern über soziale gegenseitige Kontrolle (man sagt einfach "Das tut man so" oder "Das gehört sich nicht"), die aber trotzdem rational nachvollziehbare Begründungen haben oder zumindest irgendwann einmal hatten. Als Beispiel nenne ich diverse religiös verankerte Gebote zur Ernährung, die meistens konkrete medizinische bzw. hygienische Gründe haben oder hatten. Noch überzeugender ist vielleicht der bis heute in allen Gemeinschaften vertretene Abscheu gegenüber Verbrechen an Kindern. Eine Gemeinschaft, die ihre Kinder nicht schützt, hat weniger überlebende Nachkommen und stirbt irgendwann aus. Damit stirbt aber auch ihre (mangelhafte) Moral aus.
Und nach dieser langen Vorrede komme ich zu dem Punkt, um den es mir geht: Auch wenn Strafe im Bewußtsein der Menschen der Vergeltung dient, schließt das nicht aus, dass die Moral der Vergeltung sich entwickelt hat, weil sie die Strafe als Regulativ in einer Gemeinschaft verankert und damit genau die Funktionen erfüllt, die für mich der Sinn der Strafe sind: Erziehung und Abschreckung, letztlich im Dienst des Überlebens der Gemeinschaft.
Es ist mir klar, dass Dante solche Gedanken nicht haben konnte. Ich kann sie aber haben und seinen Text daran messen, solange es mir nicht um die historische Würdigung, sondern um die Brauchbarkeit des Textes für mich und heute geht.
Übrigens oute ich mich vollends als Ketzer, wenn ich gestehe, dass meine (nur ganz knapp skizzierten) Vorstellungen von Moral als soziales Regulativ genauso auch für Religion gelten.
Soviel für heute!
Gruß, Harald