Hallo Hafis,
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, um Klarheit in die Diskussion zu bringen. Aber ich will es mal versuchen:
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Das glaube ich nicht. Sie mag nicht zirkulär sein, aber sie ist tautologisch: eine sache, die bislang den namen X (werk) trug, erhält nun den namen Y (klassiker). Kein zusätzlicher erkenntnisgewinn, der erlauben würde, festzustellen, ob ein Z ebenfalls von den meisten als klassiker bezeichnet werden würde.
Tautologisch können nur Aussagen sein, nicht Definitionen. Beispiel für eine tautologische Aussage: "Wenn alle Menschen sterblich sind, und wenn Sokrates ein Mensch ist, dann ist Sokrates sterblich" (manche Beispiele sterben nie aus...). Diese Aussage ist tautologisch, weil Du ihre Wahrheit einsehen kannst, ohne zu wissen, was "Sokrates", "Mensch" und "sterblich" konkret bedeutet. Die Wahrheit steckt schon in der formalen Konstruktion der Aussage.
Zweitens, in dem konkreten Fall ist es ja <b>nicht</b> so, dass eine Sache, die den Namen "Werk" trägt, automatisch den Namen "Klassiker" bekommt. Hatte ich mich so ungenau ausgedrückt? Die Titel "Klassiker" wird in meinem System erst nach Erfüllung objektiv nachprüfbarer Bedingungen verliehen, allerdings von Kriterien, die nicht im Werk selber, sondern in seiner Rezeption verankert sind. Es kann also weder von "Tautologie" noch von "Zirkularität" die Rede sein.
Ich will versuchen, etwas genauer zu beschreiben, wie ich mir das vorstelle. Es müssten zu <b>allen</b> in Frage kommenden Werken (das können zehntausende sein) folgende Fragen beantwortet werden:
- Welche dieser Werke werden in der Schule gelesen? Wie häufig?
- Welche dieser Werke werden in den Seminaren diskutiert? Wie häufig?
- Über welche dieser Werke werden Magisterarbeiten oder Dissertationen verfaßt?
- Welche dieser Werke werden wie häufig in Kanons (MRR etc.) aufgenommen?
- Welche dieser Werke tauchen wie häufig in den Leselisten der Universitäten auf?
- Über welche Werke und über die Autoren welcher Werke wird Sekundärliteratur geschrieben?
- Zu den Autoren welcher Werke existieren Biographien bzw. werden solche verfasst?
- Zu welchen Autoren existieren historisch-kritische (Gesamt-)Ausgaben oder werden solche erstellt, und mit welchem Aufwand?
- Welche Werke wurden wie oft in andere Sprachen übersetzt?
- Welche Werke werden gekauft, welche werden in den Bibliotheken ausgeliehen? Entsprechend für Sekundärliteratur, Biographien etc.
Solche und ähnliche Fragen sollte man beantworten und mit unterschiedlicher Gewichtung zu einer Gesamtauswertung zusammenfassen (natürlich kann man über den Sinn einzelner Fragen diskutieren, aber ich denke, die Tendenz ist klar). Daraus sollte sich eine Rangliste ergeben, für wie bedeutend die Werke von der Gesamtheit der Literatur-Rezipienten gehalten werden. Allerdings ergibt sich dann keine scharfe Trennung in Klassiker und Nichtklassiker (was m.E. auch nicht sinnvoll ist), sondern jedes Werk ist eben "mehr" oder "weniger" ein Klassiker.
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Um einen begriff (werk) vom anderen (klassiker) zu unterscheiden, braucht man objektive kriterien. Das heißt kriterien, die die menschen dem "werk", aber nicht dem klassiker" zueignen. Das ist grundprinzip jeder sprache. Ob ein tisch ein stuhl oder ein tisch genannt wird, entscheidet sich nach objektiven kriterien: der eine ist platt, der andere hat beine. Analog müssen angebbare kriterien existieren, die die menschen in übereinstimmung anwenden, sonst würde ja jeder für das gleiche anderen begriffe verwenden.
Da sehe ich einigen Klarstellungsbedarf. Ich meine, genau das ist <b>nicht</b> das Grundprinzip einer Sprache.
Zunächst mal ein starkes Argument gegen Deine These: Wenn die Bedeutung von Wörtern auf Grund objektiver Kriterien festgelegt ist, wieso können sich die Bedeutungen dann jemals ändern? Es steht aber fest, dass Bedeutungen sich allmählich ändern, und zwar <b>unmerklich</b>. Mit "unmerklich" meine ich nicht, dass jemand, der die Sprache bewußt über einen längeren Zeitraum verfolgt, diese Änderungen nicht feststellen kann, sondern dass der normale Sprecher im normalen Sprachgebrauch sich dieser Änderungen nicht bewußt ist. Ein kleines Beispiel: Das deutsche Wort "Nacht" und das englisch Wort "night" gehen auf dasselbe Wort einer Sprechergemeinschaft von vor ca. 2000 Jahren zurück. Nun kann "night" zwar "Nacht" wie im Deutschen bedeuten, es heißt aber je nach Kontext auch "Abend" - "tonight" z.B. heißt häufig "heute abend". Also eine Abweichung in der Bedeutung. Es wird aber in der zweitausendjährigen Sprachgeschichte des Englischen und des Deutschen aber keinen Moment gegeben haben, wo man sich gesagt hat: "Laßt uns doch dieses Wort anders als bisher benutzen". Wie paßt das mit der These der objektiven Kriterien zusammen?
Ich will aber nicht einfach verneinen, sondern eine plausible Gegenthese aufstellen:
So etwas wie eine "feste Bedeutung" gibt es eigentlich gar nicht; was es gibt, ist die "Verwendung" im Sprachgebrauch. Jeder Sprecher bildet sich aus dem Sprachgebrauch heraus eine Vorstellung von der Bedeutung des Wortes. D.h. es gibt immer die Möglichkeit von Abweichungen in der Vorstellung von Wortbedeutungen. Was die Abweichungen davon abhält, ins Uferlose zu wuchern, ist die Notwendigkeit, verstanden zu werden: Jeder wird versuchen, die Wörter so zu verwenden, wie alle anderen, und bekommt in der Kommunikation Feedback. Dadurch entstehen unzählige Regelkreise, die eine gewisse Konvergenz des Gebrauches bewirken. Wenn sich aber z.B. eine Sprechergemeinschaft in zwei Gruppen zerteilt, die nur schwach oder gar nicht miteinander kommunizieren, dann sind die Regelkreise unterbrochen und es beginnen die Wortbedeutungen auseinanderzudriften. Siehe Deutsch/Englisch, oder in jüngerer Zeit britisches und amerikanisches Englisch. (Wenn ich mich richtig erinnere, bedeutet z.B. "mad" im BE "verrückt" und im AE "wütend".)
Bei Begriffen habe ich die Vorstellung, dass es einen Kernbereich gibt, in dem die Verwendung unbestreitbar ist, d.h. einen Bereich von Objekten, auf die der Begriff nach übereinstimmendem Urteil aller zutrifft, und einen noch größeren Bereich, auf den der Begriff nicht zutrifft. Dazwischen liegt eine Grauzone, in der die Anwendung zweifelhaft ist und von unterschiedlichen Sprechern unterschiedlich beurteilt wird.
Nimm so einen einfachen Begriff wie "Haus". Du sagst, es gibt objektive Kriterien für die Anwendung. Bist Du sicher? Du denkst an das Ideal-Haus und meinst, der Begriff sei völlig klar. Das Problem ist aber die Grauzone. Ist z.B. eine Villa ein Haus? Ein Palast? Ein Schloß? Eine Hütte? Eine Kirche ("Gotteshaus")? Eine Burg? Ein Bürogebäude? Ein Fabrikgebäude? Eine Werkstatt? Ein gemaltes Haus? Ein Puppenhaus? Ein Monopoly-Haus? Ein Haus, das in einem Roman vorkommt, aber nicht wirklich existiert? Wo ist da die Grenze? Oder stell Dir folgendes Gedankenexperiment vor: Da ist das Ideal-Haus. Ich räume die Einrichtung aus, ein Stück nach dem anderen. Dann beginne ich das Dach abzudecken, Dachziegel für Dachziegel. Dann nehme ich die Fenster und Türen heraus, baue ziegelsteinweise die Wände ab... Du verstehst schon: Wann hört das Haus auf, ein Haus zu sein? Auf dem Weg vom "Haus" zum "Nicht-Haus" geht man durch die Grauzone.
Warum ist das in der Praxis kein Problem, bzw. woher kommt die Illusion von "klaren, objektiven" Begriffen? Ich glaube, das liegt daran, dass wir in der Sprachpraxis die Anwendung von Begriffen in der Grauzone vermeiden. Wir sagen eben "Rohbau" oder "Neubau" oder "Ruine" oder "Gebäude" oder ... was auch immer gut paßt.
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Um die antwort, was ein klassiker ist, braucht man also solche objektiven unterscheidungskriterien.
Der brockhaus hatte doch 4 praktikable genannt: stil, zeit, mustergültig und herausragend. Der brockhaus sagt also, daß verschiedene kriterien die klassikerzugehörigkeit festlegen. Da dies im sprachgebrauch so ist, muß man es eben akzeptieren.
Wer sagt, dass die Brockhaus-Definition den Sprachgebrauch wiedergibt? Ich glaube wiederum, dass der gewöhnliche Sprachgebrauch (wissenschaftliche Diskussionen also ausgenommen) <b>nie</b> von Definitionen abhängig ist. Hast Du bei der Verwendung des Wortes "Klassiker" jemals eine Definition referenziert? Ich jedenfalls nicht (wie gesagt, wissenschaftliche oder Diskussionen wie diese ausgenommen). Ist es nicht eher so, dass man solche Wörter wie alle Wörter eher gefühlsmäßig verwendet?
Weiter, inwieweit ist die Brockhaus-Definition praktikabel? Was heißt z.B. "mustergültig"? Gültig nach welchem Muster? Hier ergibt sich dasselbe Grauzonenproblem wie für den Begriff "Klassiker" selbst.
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Jede definition, oder auch der gebrauch der worte, aber bedarf objektiver kriterien, sonst wäre kommunikation nicht möglich.
Ich hoffe, ich habe Dich/Euch davon überzeugt, dass dem nicht so ist!
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Offen ist dann, ob diese kriterien für uns überhaupt erkennbar sein müssen oder nicht, und weiter, ob die anwendung der kriterien sie selbst beeinflußt,
Das verstehe ich nicht... wie kann es Kriterien geben, die nicht erkennbar sind? Ein Kriterium ist doch etwas, was ich zur Unterscheidung benutze. Etwas anderes sind Merkmale - die kann ich erkennen oder auch nicht.
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Das hieße, es ist gar nicht nötig, daß alle über künstl. wert, qualität und kanon- oder klassikerstatus übereinstimmten, jene aber dennoch existieren.
Vielleicht fragst Du hier nach gemeinsamen Merkmalen (nicht nach bewußt angewandten Kriterien). Das ist natürlich eine interessante Frage. Aber diese Frage kann m.E. erst gestellt werden, nachdem die "Rangliste" nach einem Verfahren ähnlich dem oben angedeuteten erstellt wurde. Diese Frage wäre dann auch nicht durch eine theoretische Diskussion, sondern <b>empirisch</b> zu überprüfen: Haben die Werke, die weit oben auf der Rangliste landen, empirisch nachweisbar gemeinsame Eigenschaften gemein, die sie von den weiter unten liegenden unterscheiden? Auch hier wieder wird man kein absoluten Trennungen haben.
Gruß, Harald