Thomas Mann: "Der Tod in Venedig"

  • der forumsneuling verschwindet auch wieder. wenn man nicht mal anderer meinung sein kann oder etwas was einem im roman aufgefallen ist zur sprache bringen kann: ade.

  • Oje, liebste Venus, Du bist aber schnell beleidigt ...


    Hat Dir jemand verboten, Deine Meinung kund zu tun? Bist Du unfair angegangen worden von einem anderen Diskussionsteilnehmer? Ich kann dergleichen nicht erkennen. :zwinker:


    Mach´s gut!


    Sir Thomas


  • so würde ich gerne wissen, wie ihr die romanstelle findet, als die hauptfigur wieder zurück ins hotel fährt, weil das gepäck falsch verladen wurde. ich dachte mir, ist dem thomas mann nichts besseres eingefallen?


    Ja, diese Stelle ist mir beim Lesen auch aufgefallen. Sie passt nicht recht zum restlichen Text, da dieser Einfall mit dem falsch verladenen Gepäck auch bei mir einen konstruierten Eindruck hinterlässt. Vielleicht wollte Mann aber gerade aufzeigen, wie das Leben durch solche unwahrscheinlichen Zufälle gesteuert wird. Das wäre verdammt modern, oder?


    Gruß, Thomas

  • Ich hatte mittlerweile Gelegenheit, mir die Visconti-Verfilmung aus dem Jahr 1971 anzusehen. Der mehr als zweistündige Streifen mit dem hervorragenden Dirk Bogarde in der Rolle des Gustav von Aschenbach verlangt dem Zuschauer einiges an Geduld ab, die aber letztlich belohnt wird. Visconti hielt sich eng an die Vorlage, machte jedoch aus Aschenbach einen Komponisten, der Gustav Mahler nachgebildet sein soll. Passend dazu werden die durchweg exquisiten Bilder immer wieder mit Musik aus Mahler-Symphonien unterlegt – was mir persönlich mindestens so gut gefallen wie die zwar spärlichen, aber zum Sterben schönen Bilder der verfallenden Stadt Venedig. Fazit: Ein Fest für das Auge und die Ohren, ein morbider und ein sehenswerter Film, der neben der literarischen Vorlage durchaus als eigenständiges Werk bestehen kann.


    Es grüßt


    Tom


  • Wie wertvoll und einzigartig das Leben ist, nehme ich auch so wahr, denn ich habe mich selbst in all den Jahren aufgrund der vielen Familienprobleme (suizidgefährdete Geschwister etc.) hinten angestellt.


    Beide Schwestern Thomas Manns haben sich das Leben genommen; dieser Hintergrund mag einiges Erklären, auch wenn Thomas Mann selbst, soviel ich mich erinnern kann, nicht besonders todessehnsüchtig war - oder es sich zumindest nicht erlaubte, zu sehr der "anständige", traditionsverbundene Bürger, sowas "macht man doch nicht"... Sein weniger selbstdisziplinierter Sohn Klaus Mann verfiel der Todessehnsucht dann wieder.



    Grüsse
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • Ich weiß nicht, ob es ok ist, eine abgeschlossene (?) Leserunde mit einem Spätkommentar zu versehen, aber ich werde es schon merken.^^


    Was mir an den bisherigen Kommentaren auffällt - obwohl sie teilweise hervorragend sind, besonders die Bemerkungen zum "wagnerschen Tod" fand ich bemerkenswert -, ist doch ihre weitgehende Linearität oder Eindimensionalität. Ich meine damit, dass sich die Hauptlinie vor allem auf den Tod des Protagonisten bezieht, was ja schon aus dem Titel der Novelle hervorgeht.


    Zweifel kamen bei mir hoch, als ich den Einwand von Madeleine las, dass Venedig durchaus auch eine Stadt der Verliebten ist, nicht nur die Stadt der Fäulnis, des Absterbens, der Morbidität. Die Zweifel verstärken sich, wenn ich die leidenschaftlichen Bemerkungen zur jugendlichen Schönheit des Tadzio im Text lese:


    Zitat

    ...und zu sehen, wie die lebendige Gestalt, vormaennlich hold und herb, mit triefenden Locken und schoen wie ein zarter Gott, herkommend aus den Tiefen von Himmel und Meer, dem Elemente entstieg und entrann: Dieser Anblick gab mythische Vorstellungen ein, er war wie Dichterkunde von anfaenglichen Zeiten, vom Ursprung der Form und von der Geburt der Goetter.

    (und viele, viele Textstellen mehr)


    Diese Novelle handelt vom Tod, sicher, aber auch von der Schönheit, und zwar tritt mir hier das Platonische Symposium vor Augen, dort wird ja die Schönheit der Jungen als "Wegweiser" zur wahren, ewigen Schönheit, zur Idee der Schönheit selbst verehrt. Eine Vorstellung, die Mann durchaus nahe stand. Die Schönheit des Tadzio ist (wird!) deshalb unvergänglich und daher ewig ("vollkommen schön"), weil Aschenbach stirbt und daher T. nicht älter (und damit hässlicher) wird. Der Tod A's wäre in dieser Sichtweise das In-die-Welt-Setzen der wahren Schönheit, eine Art Geburt, wie doch auch Sokrates' Wirken als Geburtshilfe beschrieben wurde. In dieser Novelle kommt daher dem Tod eine weitaus größere Bedeutung zu als all die m.E. zu kurz greifenden Bemerkungen zum Alter, zu den quietschfidelen jungen Neffen und Nichten, zur Würde des Alters usw. vermuten lassen. Ich glaube nicht, dass man damit Manns Intention vollständig trifft.


    A. ist ein "Schaffer", ein Mann, der sich Schönheit mit Gewalt abringt. In T. nun sieht er etwas ganz anderes: Schönheit, die einfach da ist, die ohne Kraftaufwendung einfach existiert. Dagegen die zunehmend jämmerliche Figur des A.: wie der Greis im 3. Kap., der sich jugendlich schminkt, macht er sich nun selbst zunehmend lächerlich. Die gewaltsam abgerungene Schönheit dringt jetzt an die Oberfläche: als lächerliches Makeup und Würdelosigkeit. Sein Leistungsideal, die Schönheit durch "die geballte Faust" (1. Kap), eben durch Gewalt, zu erringen, ist es, was die Würdelosigkeit verursacht.


    Ich sehe durchaus die Spiegelung der beiden Charaktere, in höchstem Grad konzentriert in der Schlussszene. Die wahre Schönheit wird nach Platon erst dann errungen, wenn man über die Liebe zu den Jünglingen hinausgekommen ist mit dem Eros als Mittler und Führer (etwa wie der „Hermes Psychopompos“ bzw. „Hermes Psychagogos“) und zur mystischen Einheit mit dem Schönen selbst aufsteigt. Dies ist m.E. die Bedeutung des Schlusses. Der Tod wäre hier der Durchgang zur Idee des Schönen selbst. Er gibt A. damit auch die verlorene Würde zurück ("respektvoll erschütterte Welt"). Interessant auch die ähnliche Haltung von A. im Liegestuhl, die im 1. Kap. beschworen wurde, als Gegen-Mimik zur "geballten Faust" (Hand schlaff nach unten).


    Ein Gedicht von A. von Platen gibt es zu einer solchen Interpretation, Tristan (ich hoffe, das wurde noch nicht erwähnt):


    Zitat

    Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
    Ist dem Tode schon anheimgegeben,
    Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,
    Und doch wird er vor dem Tode beben,
    Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!


  • Ich weiß nicht, ob es ok ist, eine abgeschlossene (?) Leserunde mit einem Spätkommentar zu versehen ...


    Hallo Kaspar,


    diese Leserunde ist noch nicht archiviert und damit nach wie vor offen für die weitere Diskussion.


    Vielen Dank für den Hinweis auf A. v. Platens "Tristan". Was für eine schöne Ergänzung!


    Viele Grüße


    Tom


  • ...und damit nach wie vor offen für die weitere Diskussion.


    Hervorragend.


    Also möchte ich noch ein bisschen zu Wagner / Tadzio etwas schreiben, was eher die Inspiration des Autors betrifft als die textimmanente Interpretation. (Alle Infos entnehme ich der Mann-Biographie von Harpprecht.)


    Tatsächlich hatte Mann kurz vor dem Tod in Venedig eine "Goethe-Phase" und wollte der Wagner-Musik den Rücken kehren, so dass also Goethe und Wagner die beiden Taufpaten der Geschichte bilden. Goethe insoweit, als sich Mann über die Leidenschaft des Alten zur jugendlichen Ulrike von Levetzow aufregte und darin eine "Entwürdigung" sah. Mann war dabei der Meinung, dass Ulrike damals ein Kind gewesen war, in Wirklichkeit war sie 19, was Mann aber nicht wusste.


    Also wollte Mann daher ein Beinahe-Kind in der Gestalt des Tadzio zeichnen, doch s. die Ausdrücke "vormännlich", die nun nicht auf ein Kind, sondern einen männlichen Teenager verweisen. Mit demselben Ausdruck bedachte er übrigens auch seinen Sohn Klaus. Auch der Ausdruck "von der Geburt der Goetter", auf Tadzio gemünzt, verweist auf die griechische Mythologie, ich kenne ihn allerdings nur aus einem Aphorismus von Hegel (aus Hegels Wastebook, "...daß ein Gott neu geboren werden sollte").


    Der Tadzio hat nun auch tatsächlich existiert, in Gestalt des polnischen Barons Wladislaw Moes, der zu jener Zeit am Lido 13 Jahre alt war. Wikipedia hat allerdings dahingehend nicht recht, dass er erst durch den Visconti-Film (der 1971 gedreht wurde) auf seine literaturgeschichtliche Bedeutung aufmerksam wurde (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/W%C5%82adys%C5%82aw_Moes), sondern bereits 1964, wie Harpprecht schreibt. Hier widerspricht sich wikipedia übrigens selbst, s. http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Tod_in_Venedig#Tadzio .


    Aber solche biographische Details sind für eine textimmanente Interpretation eher nebensächlich.


  • ... Goethe insoweit, als sich Mann über die Leidenschaft des Alten zur jugendlichen Ulrike von Levetzow aufregte und darin eine "Entwürdigung" sah.


    Hallo Kaspar,


    hast Du Martin Walsers Verarbeitung dieses Stoffs gelesen ("Ein liebender Mann")? Rezensionen und Kritiken vergleichen Walsers Roman oft mit Thomas Manns "Lotte in Weimar". Deinem Einwurf entnehme ich, dass "Ein liebender ..." wohl eher die "Tod in Venedig"-Thematik aufgreift. Das wäre für mich ein Anreiz, Martin Walser eine Chance zu geben. Vielleicht hast Du dazu eine Meinung ...


    Es grüßt


    Thomas


  • hast Du Martin Walsers Verarbeitung dieses Stoffs gelesen ("Ein liebender Mann")?


    Nee, leider nicht. Von Walser kenne ich nur den "Augenblick der Liebe" wegen der Auseinandersetzung mit Lamettrie. Da mir der Text aber gar nicht zugesagt hat, habe ich ihn nach ein paar Seiten weggelegt. Vielleicht besorge ich mir den "Liebenden Mann" ja einmal? Allerdings hat mir ein Augenblick von Walsers Liebe erstmal gereicht :roll:

  • Eines zeigt die Novelle deutlich: Die Bedeutung der Form gegenüber dem Inhalt im Kunstwerk. Was ist denn hier der Inhalt? Ein Alternder vergafft sich in einen hübschen Jungen, steigt ihm durch verwinkelte Gassen nach, infiziert sich mit ungewaschenem Obst, dass er auf einem seiner Streifzüge kauft und stirbt an der Cholera. – Erst Komposition, mythische Bezüge (die dem Wesen des Mythos nach auch ihren psychologischen Gehalt haben), Symbole und allegorische Anklänge, Klang und Rhythmik der Sprache, einer Sprache, die in ihrem Ausdruckswillen auf äußerste und gewagteste Treffsicherheit des Wortes zielt – all das gibt der Novelle Glanz und Wirkung, macht aus dem widerlichen Plot ein Kunstwerk.


    Zur gescheiterten Abreise: Ein kleines Missgeschick nimmt der Alternde zum Vorwand, um den letzten Rest von Vernunft wegzuwerfen. Er überlässt sich dem „Rausch“ seiner homoerotischen Verliebtheit ab nun widerstandslos. Er folgt - wenn man so will – seinem vorbestimmten Schicksal. Die Episode illustriert zugleich die Macht des Unbewussten gegenüber dem Ich (Entscheidungsfreiheit) und dem Es (Ethik, Moral, Selbstachtung). Im Fall Gustavs von Aschbachs konnten Es und Ich das Unbewusste nicht mehr kontrollieren. Von dem Leistungs-Ethiker und Asketen bis dahin „geknechtet“, rächt es sich auf der Schwelle zum Greisenalter. Thomas Manns Es und Ich dagegen hatten Triebe und die Umtriebe des Unbewussten im Griff.


    H.-P.Haack

    &quot;Trau deinen Augen&quot; (Otto Dix)

  • Ich weiß nicht, ob es ok ist, eine abgeschlossene (?) Leserunde mit einem Spätkommentar zu versehen, aber ich werde es schon merken.^^


    Da eine Leserunde früher oder später im Archiv verschwindet, macht es eigentlich wenig Sinn, da dann keine weitere Diskussion möglich ist. Im übrigen habe ich mit Schrecken festgestellt, schon zwei andere, "normale" Threads zu diesem Werk existierten. Ich habe nun die nicht mehr zur eigentlichen Leserunde gehörenden Teile dort abgeschnitten und zusammen mit den beiden andern Threads zu einem Ganzen verschmolzen. Nix für Ungut! :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Diese Novelle handelt vom Tod, sicher, aber auch von der Schönheit, und zwar tritt mir hier das Platonische Symposium vor Augen, dort wird ja die Schönheit der Jungen als "Wegweiser" zur wahren, ewigen Schönheit, zur Idee der Schönheit selbst verehrt. Eine Vorstellung, die Mann durchaus nahe stand. Die Schönheit des Tadzio ist (wird!) deshalb unvergänglich und daher ewig ("vollkommen schön"), weil Aschenbach stirbt und daher T. nicht älter (und damit hässlicher) wird. Der Tod A's wäre in dieser Sichtweise das In-die-Welt-Setzen der wahren Schönheit, eine Art Geburt, wie doch auch Sokrates' Wirken als Geburtshilfe beschrieben wurde. In dieser Novelle kommt daher dem Tod eine weitaus größere Bedeutung zu als all die m.E. zu kurz greifenden Bemerkungen zum Alter, zu den quietschfidelen jungen Neffen und Nichten, zur Würde des Alters usw. vermuten lassen. Ich glaube nicht, dass man damit Manns Intention vollständig trifft.


    Ich stimme dir zu, es ist gut durchdacht, was du schreibst. Nur zur Ergänzung: Die Verbindung zu Platon wird ja sogar ganz deutlich hergestellt gegen Ende der Novelle, als Aschenbach die Sokrates-Phaidros "Vision" hat.

  • Ich stöberte gestern durch


    Thomas Mann "Über mich selbst - Autobiographische Schriften"


    Daraus folgende Fundstücke:


    Nur der Spießbürger glaubt, daß Sünde und Moralität entgegengesetzte Begriffe seien: sie sind eins; ohne die Erkenntnis der Sünde, ohne die Hingabe an das Schädliche und Verzehrende ist alle Moralität nur läppische Tugendhaftigkeit. Nicht Reinheit und Unwissenheit sind der im sittlichen Sinne wünschenswerte Zustand, nicht egoistische Vorsicht und die verächtliche Kunst des guten Gewissens machen das Sittliche aus, sondern der Kampf und die Not, die Leidenschaft und der Schmerz. „Wer“ - steht irgendwo bei Heinrich von Kleist - „das Leben mit Sorgfalt liebt, moralisch tot ist er schon, denn seine höchste Lebenskraft, es opfern zu können, modert, indem er es pflegt.“ (S. 159)


    [...]


    Nenne es Vornehmheit – und sein Gegenteil ist die Gemeinheit, die sich völlig und ohne Sehnsucht im Leben in der Wirklichkeit zu Hause fühlt und eine höhere Heimat nicht kennt: wie es denn Menschen gibt von so unsterblicher Gemeinheit und Tüchtigkeit, daß man nicht denken kann, sie könnten jemals sterben, könnten jemals der Weihe des Todes teilhaftig werden. (S. 160)


    Diese Ausschnitte aus dem 1909 erschienen Aufsatz „Süßer Schlaf“ (Neue Freie Presse, Wien) lesen sich wie eine erste Gedankenstudie zu „Der Tod in Venedig“. Der tüchtige, aber gemeine Pflichtmensch von Aschenbach entdeckt die Verlockungen des Sich-Treiben-Lassens, der Sehnsucht, des Nichtstuns und des Genießens, er gibt sich dem Schädlichen und Verzehrenden hin – und wird „der Weihe des Todes teilhaftig.“


    Mal sehen, welche Entdeckungen es in Thomas Manns autobiographischen Schriften noch zu machen gibt.


    Viele Grüße


    Tom