Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften - Materialien und übergeordnete Aspekte

  • Mir ist gerade aufgefallen, dass ich mir im Buchdeckel schon über 20 Passagen notiert habe, die ich später in mein Lesefrüchte-Buch übertragen will. Da werde ich Tage mit zu tun haben! Aber es ist immer wieder toll, wie Musil Dinge auf den Punkt bringt oder sie besonders schön und witzig ausschmückt.

  • Ich muss ehrlicherweise auch sagen, dass mir diese sich oft wiederholenden Kapitel voller theoretischer Auseinandersetzungen über den Wandel der Zeit vom Idealismus zum Materialismus und was dergleichen mehr ist, zum Teil inzwischen doch ziemlich schwerfallen. Insbesondere Ulrichs Tiraden in der Art eine advocatus diabolus, die Musil für dessen Gesprächspartner oft extra hochtrabend gestaltet, gehen mir des öfteren auf den Wecker, wenn sie auch immer wieder durch schöne Momente höherer Ironie durchbrochen werden. Mal sehen, wie die nächsten 150 Seiten werden. Jetzt ist erstmal wieder Pause.

  • Ich muss ehrlicherweise auch sagen, dass mir diese sich oft wiederholenden Kapitel voller theoretischer Auseinandersetzungen über den Wandel der Zeit vom Idealismus zum Materialismus und was dergleichen mehr ist, zum Teil inzwischen doch ziemlich schwerfallen.

    Du bist unterdessen, wenn ich das richtig sehe, im 2. Teil der Ausgabe von Frisé, oder?

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ich bin am Ende des umfangreichen zweiten Teils des ersten Buches und werde im Laufe des Oktobers ins zweite Buch übergehen. Außerdem lese ich eine "nackte" no-name-Ausgabe aus dem Anaconda-Verlag, da Ausgaben mit Kommentar womöglich über Antiquariate, aber sonst unerschwinglich sind.

  • Je mehr sich die Charaktere der weiblichen Personen im Roman entfalten, desto klarer scheint es mir, dass Musil damit Verdrängungsmechanismen schildert, mit denen die Frauen jener Epoche ihre erzwungene Unselbstständigkeit und Arbeitslosigkeit auszugleichen suchen.
    Dies entfaltet Musil in unterschiedlichen Spielarten, die man stark vereinfachend vielleicht so beschreiben könnte:


    - Bonadea sucht das Fade ihres Daseins durch erotische Abenteuer auszugleichen.


    - Diotima will zunächst durch die übergeordnete Idee, die der Parallelaktion ihren Sinn verleihen soll, ebenso ihrem Leben Sinn verleihen. Je weiter weg die Idee rückt sowie eine befriedigendes Verhältnis mit Arnheim, desto mehr sucht sie ihr Heil in einer Erneuerung ihrer Ehe, indem sie mithilfe von Ratgebern sich dem - niedrigeren, weil fleischlicheren - Niveau ihres Mannes anpassen will.


    - Clarisse ist hysterisch-überspannt, weil sie ihre Möglichkeiten aufgrund ihres Frauseins gar nicht erst richtig entdecken kann und sich daher entschlossen hatte, ihren Ehrgeiz auf die Entfaltung der Genialität ihres Mannes zu konzentrieren. Als sie erkennt, dass Walter zwar vielseitig, aber in den einzelnen Kunstbereichen nur mittelmäßig begabt ist, steigert das noch ihre Hysterie, ihren Wunsch, etwas Bedeutendes hervorzubringen und dieses möglichst in einem Bereich, den andere mit Abscheu, aber auch Faszination ansehen und der besonders weit von der weiblichen Vorstellungswelt entfernt scheint. Deshalb will sie - ohne konkrete Pläne - den Kontakt zu Moosbrugger herstellen, den sie als einen empfindet, der sich von der dunklen Seite her gegen die flache Moral und gesellschaftliche Enge auflehnt.


    - Agathe wiederum fühlt sich da, wo Clarisse sich von machtvoller Stärke erfüllt sieht, als schwach aufgrund ihres Geschlechts und macht sich gerne auch vor sich selbst klein. Dennoch will sie ihre Situation nicht weiter ertragen und sieht an Ulrichs Seite, der das männlich-aktive Prinzip ihres Wollens darstellt, die Möglichkeit, ein sinnerfülltes Leben zu führen.

  • Nun habe ich mein Leseprojekt abgeschlossen. Es war eine zur Hälfte mühsame, zur Hälfte sehr bereichernde Lektüre. Missfallen haben mir die langen, sich wiederholenden Tiraden Ulrichs über sein Lebensthema Moral und die Unmöglichkeit, Richtlinien für das Leben zu finden. Bewundernd habe ich den Schliff der Musil'schen Sprache und die hohe Kunst genossen, mit der er Satire betreibt. In den satirischen Kapiteln hatte ich auch den meisten Lesespaß. Insbesondere wenn der Name General Stumm von Bordwehr in der Kapitelüberschrift oder irgendwann zwischendurch auftauchte, konnte ich sicher sein, dass ich viel Lesespaß haben würde. Der Roman hat sich gelohnt, war aber auch eine gewaltige Aufgabe.

  • Wir dürfen nicht vergessen, dass der Mann ohne Eigenschaften nie fertig geworden ist. Musil hat Verschiedenes ausprobiert, nichts hat ihm so ganz gefallen. Was wir heute üblicherweise lesen, ist ein von Frisé frisiertes Ding.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Danke für eure Hinweise zur Editionsgeschichte, @ b a.t. und @ sandhofer. Damit muss ich mich noch befassen. Gibt es dazu eine einschlägige Darstellung? Ich dachte, da die beiden ersten Bücher zu Musils Lebzeiten erschienen, seien die Ergebnisse des Lektorats auch von ihm genehmigt worden.

    Ich habe nicht ganz verstanden, wie du deinen Beitrag meinst, @b a.t.. Stellst du dir eine gekürzte Ausgabe vor?

  • Naja das war etwas utopisch gedacht von mir, aber es wäre schon interessant, wenn manche Stellen gekürzt werden würden, viele Dinge wiederholen sich ja auch und manchmal verliert sich Musil auch in seinen eigenen Gedanken. In Wien würde man sagen, sein Hirn fährt Ringelspiel. Die Sprache ist für mich herausragend, er hat sich sehr gut darauf verstanden seine Gedanken stilistisch hochklassig festzuhalten.

    2000 Seiten und ein Romanfragment ...

    Ich bin aber auch froh, es wieder gelesen zu haben. Wobei ich glaube den zweiten Band mit dem aus dem Nachlass zusammengestoppelten Ausführungen lese ich jetzt nicht mehr. Dafür werde ich dann im nächsten Jahr mein anderes Re-read Projekt fortführen - jedes Jahr ein Proust Band im Original. Passend zu den heutigen Zeiten - Sodom und Gomorrha


    In der Schule hatten wir damals von Musil die Verwirrungen des Zöglings Törleß gelesen, hab ich auch in guter Erinnerung, aber Details gehen mir mittlerweile ab.

  • Wow, Proust im Original! Ich ziehe den nicht vorhandenen Hut vor dir, b.a.t. Ich habe die sieben Bände auf Deutsch zu Anfang der Neunziger gelesen, die ersten vier Bände sehr genossen und durch die drei letzten habe ich mich wirklich durchgequält, und das jetzt auch noch auf Französisch!


    Ich bin gegen Kürzungen bei großen Werken, aber ich kann dich gut verstehen. Mir ist - wie oben beschrieben - auch einiges auf den Wecker gegangen. Jedes Mal, wenn Ulrich anhebt, die Welt zu erklären, habe ich mir - nach dem ersten Teil des ersten Buches - da war's ja noch neu - gedacht, ach nö, nicht schon wieder, weil die Grundtendenz -versehnen mit einigen schönen satirischen Spitzen gegen die jeweiligen Gesprächspartner, ja immer die gleiche ist, wenn Musil es auch versteht, seine Gedanken meisterhaft zu sezieren.

  • (Proust wird bei jeder Lektüre nur schöner - auch die scheinbar langwierigeren Passagen. Und man kann - meiner Meinung nach - den typisch Proust'schen Satzbau, die typisch Proust'sche Sprachmelodie halt nur auf Französisch geniessen.)


    Zum Mann ohne Eigenschaften: Da gibt es (gab es? - auf der Verlags-Website sind, noch immer oder wieder?, alle Bände der Werkausgabe aufgeführt) die sechs Bände der als kritischer Ausgabe verunglückten Werkausgabe bei Jung und Jung, wo man ab Band 4 sozusagen live mitverfolgen kann, wie Musil mit Fortsetzung und Ende des Romans gerungen hat und doch zu keinem Resultat mehr gekommen ist. In dieser Hinsicht sehr faszinierend zu lesen. Ich würde den von Frisé hergestellten Schlussteil nicht dem Autor anlasten.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Danke für die Ausführungen, @ sandhofer. Aber die Teile des Romans aus dem Nachlass werde ich - wie @b.a t - nicht mehr lesen. Deine Bemerkungen dazu unterstützen das. Lieber werde ich einige schöne Kapitel, besonders die mit General Stumm von Bordwehr nochmal lesen.


    (Und bei Proust die ersten drei Bände - auf Deutsch.)

  • Oh ... in Musils Nachlass hat es sehr interessante und auch schön zu lesende Teile, die dann aber auch schon mal auf eine ganz andere Entwicklung hindeuten, als was Frisé zum Schluss ausgesucht hat.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Meine erste Begegnung mit dem Mann ohne Eigenschaften war mit 17 Jahren. Da habe ich alle beiden Bände also auch die Teile die aus dem Nachlass verwurstet worden sind gelesen. Ich kann mich nicht mehr so detailliert erinnern, aber ich weiß noch so viel, dass mir die ersten 1000 Seiten wesentlich besser gefallen haben.


    Wegen Proust im Original, da tu ich mir leichter als bei mancher aktuellen französischeb Literatur. Er schreibt ja in einem wunderschönen korrektem französisch. Bei moderneren Büchern ist es manchmal so, dass Dialoge im Argot (slang) sind und ich da die Sprachwendungen nicht so kenne und mir da dann manche Dinge einfach entgehen. Witzigerweise habe ich Proust noch nicht auf deutsch gelesen, obwohl ich die Fischer Übersetzung habe. Meine erste Begegnung mit ihm war auf Englisch.

  • Nun habe ich mein Leseprojekt abgeschlossen. Es war eine zur Hälfte mühsame, zur Hälfte sehr bereichernde Lektüre. Missfallen haben mir die langen, sich wiederholenden Tiraden Ulrichs über sein Lebensthema Moral und die Unmöglichkeit, Richtlinien für das Leben zu finden. Bewundernd habe ich den Schliff der Musil'schen Sprache und die hohe Kunst genossen, mit der er Satire betreibt. In den satirischen Kapiteln hatte ich auch den meisten Lesespaß. Insbesondere wenn der Name General Stumm von Bordwehr in der Kapitelüberschrift oder irgendwann zwischendurch auftauchte, konnte ich sicher sein, dass ich viel Lesespaß haben würde. Der Roman hat sich gelohnt, war aber auch eine gewaltige Aufgabe.

    Schön, dass Du bis zum Schluss auch Deine Gedanken zu den Kapiteln mitgeteilt hast. Entschuldige nochmals, dass das mit dem "gemeinsamen Lesen" nur zu Beginn etwas wurde. Ich hoffe, dass ich mich mit Deinen Gedanken zu den Kapiteln irgendwann auch noch befassen werde können.