Frankfurter Buchmesse 2017

  • Buchmesse 2017
    Da ich im großen Forum nicht mehr aktiv bin, poste ich hier im Klassiker-Forum meine diesjährige Buchmesse-Bilanz. Und im Klassiker-Forum sollte man doch mit Klassikern anfangen. Und in diesem Zusammenhang fällt mir die Literaturbeilage der Süddeutschen Zeitung auf, die mit einer Zeichnung einer französischen Autobahn eröffnet wird. Über dieser Autobahn ist eines der riesigen Schilder mit Leuchtbotschaften, die man von zu Zeit dort findet, zu sehen. Wenn auf diesen Schildern nun in Wirklichkeit „Longtemps, je me suis couché de bonne heure“ – der erste Satz aus Prousts Recherche – aufleuchten würde, so wie auf der Zeichnung, dann würden die Autofahrer sicherlich sofort vernünftig fahren. Gehen Sie früh schlafen, wenn Sie einen Unfall vermeiden wollen – so die SZ. Die Zeichnungen der SZ-Beilage sind von Catherine Meurisse, die dem „Charlie-Hebdo“-Attentat nur durch Zufall entkam. Sie erzählt in Ihrer Graphic Novel „Die Leichtigkeit“ vom seelischen Überleben nach dem Anschlag.


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    Apropos „Erster Satz“. Es gab jeden Tag ein einstündiges Gespräch mit mehreren bedeutenden und weniger bedeutenden Autoren aus Frankreich. „INCIPIT“ (lat. „es beginnt“) hieß die interessante Reihe, in der durchaus tiefgründig über das neueste Werk der anwesenden Autoren gesprochen wurde, wobei aufgrund des Titels nicht weiter verwunderlich nur der 1. Satz und den Schwierigkeiten diesen zu finden im Vordergrund stand. Die Gespräche wurden simultan übersetzt, Kopfhörer mit Funkempfänger konnte man kostenfrei ausleihen. Kommen wir noch mal auf Proust zurück. Proust selber hat drei Jahre benötigt, um seinen ersten Satz zu finden. Zwei verworfene Versionen wurden vorgestellt. Für die Leser dieses Forums sicher nicht uninteressant, hier diese alternativen Anfänge: „J’etais couché depuis une heure environ.“ (Ich hatte ungefähr eine Stunde geschlafen.) und „Jusque vers l‘age de vingt ans, je dormis la nuit.“ (Übersetzung habe ich nicht fotografiert). Die Autoren waren sich einig, dass diese ersten Sätze nicht so gut klingen, wie der von Proust später gewählte so berühmte Anfang. Man war sich jedoch auch einig, dass selbst der letztlich gewählte Satz nicht besonders gut ist und dieser Satz erst seine Berühmtheit aufgrund des Gesamtwerks erlangen konnte.


    Mit dem Partnerland Frankreich gab es nun für mich erstmalig ein Land, bei dem ich viele Autoren (zumindest dem Namen nach) schon kannte. Und so besuchte ich regelmäßig die Große Bühne im Ehrengast-Pavillon. Gleich zur Eröffnung am Mittwochmorgen war eine illustre Schar von Schriftstellern versammelt. Man traute seinen Augen kaum, dass dort vorne nur wenige Meter entfernt Tahar Ben Jelloun, Eric-Emmanuel Schmitt und der Nobelpreisträger J.M.G Le Clézio saßen. All diese Schriftsteller hatten keine sonderlich aktive Rolle, sie gehören der Jury des Prix des cinq continents de la Francophonie an und bildeten nur den Rahmen für die dann folgende Preisverleihung mit der frz. Kultusministerin. Und es folgten auf dieser Bühne noch viele weitere Veranstaltungen mit so illustren Namen wie Philippe Claudel, Jerome Ferrari, Didier Eribon, Mathias Enard, Catherine Millet, Tristan Garcia, Jean-Philippe Blondel, Philipe Dijan und Pierre Michon.


    Mir war im Vorfeld der Messe nicht bekannt, wer welche Rolle in der frz. Gegenwartsliteratur spielt. Iris Radisch hat in der ZEIT Literaturbeilage dazu einen sehr lesenswerten, kurzen Überblick verfasst. Daraufhin holte ich mir ihr Buch „Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben“, welches auf auf 240 Seiten einen knappen Abriss über die französische Literatur von Sartre bis Houllebecq gibt. Die Statements sind recht knapp, tragen aber zum Verständnis bei, warum welcher Autor heute von Bedeutung ist.


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    Houllebecq selber war nicht auf der Messe, es gab jedoch eine restlos ausverkaufte Abendveranstaltung. Er brachte sich seine eigene Moderatorin aus Paris mit, die ihm die Fragen stellen sollte, da er nur dieser Person besonderes Vertrauen entgegenbringe, so die Anmoderation. Einige einleitende Worte wollte Houllebecq zunächst ans deutsche Publikum richten, bevor es dann mit den Fragen und einer deutschen Lesung aus „Unterwerfung“ weiterginge. Diese einleitenden Worte (inkl. der immer wieder erfolgten Übersetzung durch die ebenfalls anwesende Übersetzerin) dauerten dann eine ganze Stunde und man kann es nun im Spiegel nachlesen, dass die deutschen Autoren doch pornografischere Bücher schreiben sollten. Über Frankreich, Deutschland, Literaturkritik und seine Bücher sprach Houllebecq bevor die extra angereiste Moderatorin dann doch noch drei Fragen stellen durfte. Die Lesung der Textstelle musste wohl etwas gekürzt werden, man überzog aber die 1,5stündige Veranstaltung, im Anschluss fand im gleichen Saal die Lesung mit Daniel Kehlmann statt. Bedauerlich, dass Houllebecq anschließend nicht signierte.


    Da wir im Klassikerforum sind, hier noch mal zurück zu Proust. Bei Reclam ist die Neuübersetzung nun abgeschlossen, doch es gab – anders als im letzten Jahr – keine begleitenden Veranstaltungen am Reclam-Stand. Vermutlich eine Sparmaßnahme, zudem ist der Stand für Lesungen etc. ohnehin etwas zu klein.


    Am zweiten Tag war nun Salman Rushdie anwesend. Er bewegt sich frei ohne Leibwächter und gibt sowohl auf dem Blauen Sofa als auch dem Spiegel ein Interview. Es wurde anschließend signiert, wobei mir mein Isolde-Ohlbaum-Bildband, der vor der Messe 98 Signaturen aufwies, besonders am Herzen lag. Mit etwas Grummeln hat er dann sein Bild darin doch signiert. Uwe Kolbe, Tahar Ben Jelloun und Pierre Michon konnte ich ebenfalls auf der Messe hinzufügen. In meinem Mangoldt-Bildband kamen neben Uwe Kolbe noch Gerhard Falkner und Birgit Vanderbeke dazu. Peter Nadas war der zweite große Autor, der an diesem Tag anwesend war. Da er jedoch in einigen Tagen nochmals in Frankfurt ist, habe ich nur seinem Interview beigewohnt.


    Am dritten Tag war Udo Lindenberg sicher der berühmteste Messegast, der dann ein 45minütiges Konzert für die wenigen Hundert Zuhörer zum Besten gab. Er wollte im Anschluss seinen Bildband signieren, ich stand an aussichtsreicher 20. Stelle in der Signierschlange (wobei ich nur eine Signatur für mein Fotoalbum mitgenommen hätte), doch dann wurde die Signierschlange an einen anderen Ort verlegt, wodurch die Abendveranstaltung mit Yasmina Reza verpasst hätte. Reza ist die weltweit bedeutendste Autorin von Theaterstücken und war mir persönlich, der sich in der Theaterszene gar nicht auskennt, bis dahin unbekannt. Inzwischen schreibt sie auch Romane. Babylon heißt ihr neuestes Werk, welches von der deutschen Kritik durchwachsen wahrgenommen wurde. Radisch publiziert in ihrem Buch am Ende eine Liste mit empfehlenswerter Lektüre, darunter Rezas Werk „Nirgendwo.“


    Am vierten Tag standen die Asterix-Autoren Jean-Yves Ferri und Didier Conrad auf meiner persönlichen Besuchsliste im Mittelpunkt. Daniel Scheck hat beide Autoren eine Stunde lang interviewt und so erfuhr man viel über die Arbeitsweise der beiden. Signiert wurde wieder nicht, Verlagsmitarbeiter sind relativ harsch dazwischen gegangen, mein „Der Papyrus des Cäsar“ – Band weist nun dennoch beide Signaturen auf. Wie das gelang, wäre eine eigene Geschichte wert. Bodo Kirchhoff konnte man zusammen mit seinem Verleger Joachim Unseld bei einer der zahlreichen Open Books Veranstaltungen besuchen. Er hat nach dem Buchpreis nun ein „Zwischenbuch“ verfasst, schnell heruntergeschrieben, handelt es von der Antwort eines Schriftstellers auf die Einladung zu einer Kreuzfahrt. Nicht sonderlich tiefgehend, aber mit viel Witz versehen, die teilweise negativen Amazon—Rezensionen gehen mit einer falschen Erwartungshaltung an dieses Kirchhoff-Buch heran. Der Autor arbeitet jedoch inzwischen wieder an etwas ganz anderem – er hat nicht verraten woran.


    Zum Schluss kann ich jedem nur raten, die Buchmesse in den ersten drei Tagen zu besuchen. Nach nur einem Tag hatte ich jedes Mal das Gefühl, dass man nur ganz wenige Autoren treffen konnte, nach zwei oder besser drei Tagen stellt sich hingegen eine große Befriedigung ein, man ärgert sich dann auch nicht, wenn ein Interview mal nicht so interessant war, eine Lesung nicht so gelungen oder dann doch mal eine Signatur fehlt.


    Gruß, Thomas


    Hier noch (mehr für mich) meine Buchmessebilanz:


    Jean-Philippe Blondel (Album und 1 Buch signiert)
    Mirko Bonné (Leseprobe und Essay 1. Buch signiert)
    Philippe Claudel (Album und 2 Bücher signiert)
    J.M.G. Le Clézio (Album und 2 Bücher signiert)
    Didier Conrad (Asterix-Band signiert)
    Eva Demski (Essay 1. Buch signiert)
    Philippe Dijan (Album signiert)
    Didier Eribon (Lesung besucht)
    Annie Ernaux (Album und 1 Buch signiert; Lesung besucht)
    Gerhard Falkner (Album, Leseprobe und Essay 1. Buch signiert)
    Jerome Ferrari (Album und 1 Buch signiert)
    Jean-Yves Ferri (Asterix-Band signiert)
    Tristan Garcia (Album und 1 Buch signiert; Lesung besucht)
    Michel Houllebecq (Lesung besucht, hat leider nicht signiert)
    Christoph Höhtker (Leseprobe signiert; Lesung besucht)
    Tahar Ben Jelloun (Album und Bildband (Ohlbaum) signiert)
    Daniel Kehlmann (Album signiert)
    Bodo Kirchhoff (Essay über 1. Buch signiert, Lesung besucht)
    Uwe Kolbe (Album und 2 Bildbände (Ohlbaum + Mangoldt) signiert; Lesung besucht)
    Renate Künast (Interview besucht)
    Kathrin Kunkel-Razum (Chefredakteurin des Duden, persönliches Gespräch)
    Udo Lindenberg (45minütiges Konzert besucht)
    Edouard Louis (Album und 1 Buch signiert)
    Robert Menasse (1 Buch signiert)
    Pierre Michon (Album, Bildband (Ohlbaum) und 3 Bücher signiert)
    Catherine Millet (Veranstaltung besucht)
    Peter Nadas (Interview besucht)
    Sten Nadolny (Interviewband signiert)
    Marie NDiaye (Album signiert)
    Robert Prosser (Leseprobe signiert)
    Iris Radisch (Fernsehinterview besucht und 1 Buch gekauft)
    Sven Regener (Album und Leseprobe signiert)
    Yasmina Reza (Lesung besucht)
    Salman Rushdie (Bildband (Ohlbaum) und ein Buch signiert)
    Eric-Emmanuel Schmitt (Album signiert)
    Ingo Schulze (Album, Leseprobe, Interviewband und Essay über 1. Buch signiert)
    Leila Slimani (Album und Gutenbergpresse-Druck signiert)
    Uwe Timm (Album und Essay über 1. Buch signiert)
    Birgit Vanderbeke (Album, Bildband (Mangoldt) und Abitur-Rede signiert)
    Michael Wildenhain (Leseprobe signiert)
    Julia Wolf (Leseprobe signiert)

  • Danke für Deinen ausführlichen Messebericht, Thomas. Da hattest Du ja sehr interessante, ereignisreiche Tage!



    (Übersetzung des zweiten Alternativsatzes von Proust: "Bis zum Alter von 20 Jahren schlief ich nachts.")

  • Di musst an einer andern Messe gewesen sein...


    Vielleicht finde ich deshalb den Besuch von Buchmessen mittlerweile alles andere als prickelnd: Ich habe kein eng gepacktes Programm, kein spezifisches Ziel, wenn ich hingehe. Danke für den Bericht.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Kleiner Nachtrag: Im neuen Spiegel ist nochmal ein Interview mit Houellebecq, seine letzte öffentliche Äußerung, wie er darin selber sagt. Er schreibt aber weiterhin Bücher, sitzt gerade an einem Roman, dessen Ende er nicht absehen kann. Die Thematik natürlich geheim.