Re: Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre

  • Wir machen unterschiedliche Erfahrungen beim Lesen, manche machen eine Pause, manche hören auf, einen solchen Roman schnell hintereinander weglesen, will sicher nicht jedem gelingen.

    Ich bin nach so vielen Jahren des Wiedersehens und Wiedererkennens nach wie vor ergriffen von der Lektüre, mittlerweile im Dritten Teil angelangt.
    Man hatte mich einmal- wohl zu Recht - gebeten, nicht bei so vielen Gelegenheiten meine passenden oder unpassenden DDR-Erfahrungen einfließen zu lassen. Das kann zum einen auch indirekt, nicht vordergründig geschehen. Wenn ich im Folgenden doch auch einige Gegenwartsbezüge herzustellen versuche , dann bietet sich das meines Erachtens mitunter wirklich an. Dabei erweist sich für mich Goethe an vielen Stellen als erstaunlich aktuell.



    Dass Dir, Gontscharow, die Darstellung der Pädagogischen Provinz Unbehagen bereitet, will ich gern glauben.



    Es gab noch Schlimmeres: In dieser Zeit wurden ‚Volksbeglückungsanstalten‘ entworfen, mit denen dem sozialen Elend abgeholfen werden sollte, Großprojekte der Zusammenballung von Menschen, die gemeinsam wohnen und in der Industrie tätig sein sollten, deren Leben genauen Regeln unterlag und die überwacht wurden, etwa die „Phalanstère“ des französischen Utopisten Charles Fourier, die damals bewundert wurden, aber heute nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die Du andeutest, in vielem Grauen erregen. Da gab es keine Intimsphäre mehr. Bis hinein in die menschliche Reproduktion war alles geregelt.


    Jeremy Benthams Panoptikum, ein riesiges Großgefängnis, wo die Insassen durch gläserne Wände sichtbar sein sollten, war auch so ein Entwurf. Goethe hat im Gespräch mit Eckermann den 1748 geborenen Bentham einen "höchst radikalen Narren" genannt (insel taschenbuch 1981, S. 686).


    Zwischen individueller Erziehung im Elternhaus oder im Pfarrhaus und derartigen Großprojekten lag nun die mittelgroße Pädagogische Provinz, in der vor allem auf die ästhetische Erziehung – Goethes wichtiges Anliegen – Wert gelegt wurde. Insofern gibt es einen engen Bezug zu den im Anschluss untergebrachten, von Dir geschätzten Aphorismen, die von Literatur, Dichtkunst, Musik, Plastik und Malerei handeln, und auf die ich auch noch eingehen möchte.
    Wenn Goethe zurückblickte, hatte er das Philantropin in Dessau (1774-1795) und die schon mehrfach erwähnten, 1814 beschriebenen Fellenbergschen Anstalten in Hofwyl vor Augen, wo die Ausbildung in Wirtschaftsfächern im Vordergrund stand und die ästhetische Erziehung nicht so organisiert sein konnte, wie es sich Goethe vorstellte.



    Goethe nimmt auch wieder manches aus seinem Pädagogischen Entwurf zurück, wenn er Montan sagen lässt, dass „eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu“ – Jarno/Montan setzt sich also kritisch ab von den Organisatoren der Pädagogischen Provinz, „Narrenpossen“ (HA, S. 282) seien.

  • Jetzt einige kleinere Bemerkungen.


    In der auf den Brief Hersilies folgenden Passage gibt es auch noch einen wohl als autobiographisch zu deutenden Hinweis: „Fürwahr, es gibt eine geheimnisvolle Neigung jüngerer Männer zu älteren Frauen“ (HA, S. 267).
    Die 1742 geborene Charlotte von Stein war 7 Jahre älter als Goethe, die 1739 geborene Anna Amalia 10 Jahre.



    In der ergreifenden Geschichte vom Ausflug der Familie auf das Land und den Untergang der Kinder im todbringenden Wasser tritt wohl auch Goethes Einsicht zutage, dass selbst eine gute Vorbereitung - der Fischersohn konnte gut schwimmen - nicht davor bewahrte, in den Untergang, in den Strudel hineingezogen zu werden.


    Die Gestalt der Tante ist wohl eine bei Goethe eher selten anzutreffende Negativzeichnung, bei der die Ablehnung überwiegt. Wohl werden ihr Ordnungssinn und ihre Tatkraft hervorgehoben. Dass jedoch diese Tante die vom tödlichen Fischzug der Kinder übrig gebliebenen Krebse in der Küche zubereitet, obwohl alle anderen ihre Abscheu zum Ausdruck brachten, lässt sie als pietätlos erscheinen, dass sie "Klatschereien" (S. 278) schätzte und ihre Fänge in einen einflussreichen Mann zu schlagen sucht, indem sie dessen Verfressenheit ausnutzt - dies alles macht sie zu einer der bei Goethe eher seltenen negativen Figuren, für die es bestimmt in seinem Leben ein Vorbild gegeben haben dürfte.


    Schließlich lädt der Satz zum Nachdenken ein: "niemand aber bedürfe eines Wundarztes mehr als der Gesunde" (HA, S. 282). Dass der Beruf, dem Wilhelms bisher eher unbewusstes Streben galt, als gesellschaftlich wichtig hingestellt werden sollte, leuchtet ein, es mag sich dahinter aber noch ein übertragener Sinn verborgen haben.

  • Wie schon in der letzten Zeit, nur am Wochenende schaffe ich ein paar Zeilen.


    Durch die Aphorismen habe ich mich -ehrlich gesagt - ziemlich durchgequält. Im Gegensatz zu dir, Gontscharow, mag ich Aphorismen nicht so besonders, und wenn, dann wohl dosiert eingestreut. Das war mir zu sehr am Stück, aber ich dachte, ich muss alle lesen, bevor ich zum nächsten Teil weiterkomme. Dann habe ich aber wie du bemerkt, dass man das Weitere zumindest bisher auch ohne die Altersweisheiten verstehen kann.


    Einen Aphorismus fand ich aber für mein Jahresthema, die Industrielle Revolution, interessant:


    So wenig nun die Dampfmaschinen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich; die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist. Wohl ihm, wenn er von der Natur mit mäßigem, ruhigem Sinn begabt ist, um weder unverhältnismäßige Forderungen an die Welt zu machen, noch auch von ihr sich bestimmen zu lassen.


    Das ist doch wieder ein Zeichen der Größe von Goethe, der noch als alter Mann wahrnahm, was da auf die Welt zurollte und erkannte, dass diese Entwicklungen auch neue Denkweisen und ethische Überprüfungen erforderten.


    Halte im Moment in III, 3 inne und hoffe morgen Abend noch einige Zeilen schreiben zu können.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

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  • Ich mag ebenfalls die Aphorismen sehr und lasse mich von ihnen inspirieren. Einige erschließen sich mir allerdings nicht.
    Aus den "Betrachtungen im Sinne der Wanderer" hier einige aus den verschiedenen Gruppen, die man erkennen kann.



    "Die Blume gewinnt erst ihren Reiz durch das Insekt, das ihr anhangt ..." (HA, S. 284)


    Mir kamen hier sofort die farbigen Pflanzenzeichnungen der Maria Sibylla Merian in den Sinn. An den Blumen und Pflanzen hängen Insekten und Schnecken, es ergibt sich durch die Tierchen, die in ihrer Bewegung auf den unbeweglichen Stengeln innehalten, noch ein ganz anderes Bild.



    "Sage mir, mit wem du umgehst, so sage ich dir, wer du bist, weiß ich, womit du dich beschäftigst, so weiß ich, was aus dir werden kann." (HA, S. 286)


    Nach diesem Muster wurden auch noch andere "Sage mir ..."-Aphorismen geschaffen ("Sage mir, worüber du lachst, und ich sage dir, wer du bist" und Ähnliches). Damit ist nicht gemeint, dass sich Goethe und seine Nachfolger anmaßen würden, wirklich sagen zu können, was es mit dem Gegenüber auf sich hat, sondern es werden lediglich Maßstäbe angegeben, mit denen Menschen beurteilt werden können. Hier spielen viel Intuition und Bauchgefühl hinein, "wissenschaftlich" kann so sicher nicht Psychologie betrieben werden.


    Bei dem schon von finsbury angeführten Aphorismus zur "veloziferischen" Beschleunigung (HA, S. 289) kam mir sofort das Büchlein von Manfred Osten über die "Entschleunigung" bei Goethe in den Sinn.


    http://www.wallstein-verlag.de…kung-der-langsamkeit.html


    Das scheint mir nun ein ganz aktuelles Problem zu sein. Wie schafft es der moderne Mensch, angesichts einer rasanten Beschleunigung vor allem im Bereich Medien (wir nutzen ja hier selber das Internet!) und Verkehr, zur Ruhe und zur Besinnung zu kommen? Schon Schiller störte das Rumpeln von Pferdegeschirren über das Weimarer Pflaster, aber was haben wir heute für Geräuschkulissen; in der Millionenstadt, in der ich zeitweise wohne, werden erbitterte Auseinandersetzungen über den Fluglärm geführt.
    Selbst für das ruhige Lesen dieses Romans wünscht man sich Ruhe zum Versenken in die Lektüre, zum Vertiefen und zur Konzentration. Einige von Euch scheinen ja in stimmungsvollen Gegenden zu wohnen, wo diese Einkehr leichter fällt. Es ist auch ein Unterschied, ob man ständig von zahlreichen Menschen umgeben ist oder sich zeitweise oder zum großen Teil als "Eremit" zurückziehen kann.


    Faszinierend schließlich:
    "Die Geschichte der Wissenschaften ist eine große Fuge, in der die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen." (HA, S. 299)


    Nehmen wir die Geologie und Paläontologie, die hier mehrfach zur Sprache kamen: auf den Deutschen Georg Agricola folgten der Däne Niels Stensen, der Schweizer Scheuchzer, der Schotte Hutton, der Franzose Cuvier, dann wieder der Deutsche Leopold von Buch.


    Zu guter Letzt ein Aphorismus, mit dem ich meine Schwierigkeiten habe:


    "Man sagt: zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liege die Wahrheit mitten inne! Keineswegs! das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig tätige Leben, in Ruhe gedacht."


    Goethe hatte ja nun in der Farbenlehre gegenüber Newton in der Sache (physikalische Optik) Unrecht, wie schon einige Zeitgenossen dachten (Alexander v. Humboldt), die den Dichter bloß nicht kränken wollten. Mit seinem Einwand gegen das Sprichwort, dass die Wahrheit in der Mitte läge (was auch kaum zutrifft), komme ich nicht ganz zurecht.


  • Jetzt habe ich mich im dritten Buch etwas vorgearbeitet. Im Anatomiekapitel wird sehr schön deutlich, welche grundlegenden Prinzipien Goethe bei der Naturbetrachtung anwendet. Seine Abscheu vor einer zerteilenden, sezierenden und damit zerstörenden Art der Betrachtung, auch aller 'gewaltsamen' Experimente. Als Gegenbild stellt er das aufbauende, verbindende und veranschaulichende Modellieren vor. Das ist sehr schön.


    ....


    Hier drängt sich mir nun bei diesem Anatomiekapitel ein aktueller Bezug geradezu auf: die erbitterten Auseinandersetzungen, die um die "Körperwelten"-Ausstellung von Hagens geführt werden, zur Zeit in Berlin-Mitte. Es scheint, als habe Goethe geahnt, dass es so etwas einst geben würde, und er hätte bestimmt dieses sehr von kommerziellen Interessen geleitete Unternehmen vehement abgelehnt.


    (Es kann sein, dass die Ausstellung dennoch von einigen Lesern hier im Forum befürwortet wird; von den Teilnehmern dieser Leserunde kann ich mir das freilich nicht vorstellen.)


    Zu seiner Zeit wurde die Diskussion vor allem über die Beschaffung von Leichnamen für die anatomischen Sektionen geführt. Die Kommerzialisierung führte hier zu solchen abstoßenden Erscheinungen, wie dem Leichenraub oder sogar zu Mord, worauf Goethe an anderer Stelle eingeht.

  • Hier drängt sich mir nun bei diesem Anatomiekapitel ein aktueller Bezug geradezu auf: die erbitterten Auseinandersetzungen, die um die "Körperwelten"-Ausstellung von Hagens geführt werden, zur Zeit in Berlin-Mitte. Es scheint, als habe Goethe geahnt, dass es so etwas einst geben würde, und er hätte bestimmt dieses sehr von kommerziellen Interessen geleitete Unternehmen vehement abgelehnt.


    (Es kann sein, dass die Ausstellung dennoch von einigen Lesern hier im Forum befürwortet wird; von den Teilnehmern dieser Leserunde kann ich mir das freilich nicht vorstellen.)


    Zu seiner Zeit wurde die Diskussion vor allem über die Beschaffung von Leichnamen für die anatomischen Sektionen geführt. Die Kommerzialisierung führte hier zu solchen abstoßenden Erscheinungen, wie dem Leichenraub oder sogar zu Mord, worauf Goethe an anderer Stelle eingeht.


    Ja, das ist sehr interessant, aber Goethe verhält sich da auch durchaus widersprüchlich. Zwar soll sein Wilhelm keine schöne Selbstmörderin sezieren, aber sein von ihm verehrter Modelliermeister hofft auf, wegen der fehlenden Todesstrafe, gut besetzte amerikanische Gefängnisse, die durch (hoffentlich) natürlichen Abgang dann doch genügend Anschauungs- und Seziermaterial böten. Menschen hatten eben damals, zumindest nach Schuldhaftwerdung, nicht den gleichen Anspruch auf Würde.

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  • Und dieser Teil über Amerika zeigt dann auch die Hoffnungen und Illusionen, die mit dem Kontinent "über dem Meere" (HA, S. 330), jenseits des Ozeans verbunden waren, "wo gewisse menschenwürdige Gesinnungen sich immerfort steigern". Goethe war nicht unbedingt gegen die Todesstrafe, seine Beteiligung am Zustandekommen von Todesurteilen in seiner Ministerzeit wird diskutiert.


    Seine Auswanderer hätten sich in Nordamerika im Falle des Gelingens der Übersiedlung unter Verhältnissen wiedergefunden, die vierzig Jahre später zum Bürgerkrieg führten.
    Und noch in unseren Tagen polarisieren die Todesstrafe und die in vielen Filmen thematisierten Zustände in den amerikanischen Gefängnissen die Gesellschaft.

  • Fünftes Kapitel


    Lenardos Tagebuch
    Das ist nun eine bis ins Detail gehende Schilderung der viertägigen Reise Lenardos in die vom Textilgewerbe geprägte Gebirgslandschaft. Wenn Goethe das Spinnen und Weben bis ins Einzelne schildert und dabei behaglich mehrere handwerkliche Fachausdrücke anführt und erläutert -


    "Garnträger" (HA, S. 339), "die Karden, welche in Deutschland Krempel heißen" (HA, S. 341), "Rädligarn", "Briefgarn" (HA, S. 341), "das Brittli", "die Rispe" (HA, S. 346), "das Aufwinden" (HA, S. 348), "Schienen", "Blatt in der Lade", "Flügel des Geschirrs" (HA, S. 349). "dämmen" (HA, S. 350) und mehr -


    so ist damit die Geduld der an ästhetisch anspruchsvoller Gestaltung interessierten Leser aufs Äußerste strapaziert. Man könnte darüber hinweg lesen, wenn man sich nicht mit Textilproduktion in handwerklicher Heimarbeit befassen will, die bereits jetzt durch das "Maschinenwesen" bedroht wurde.


    Indes scheinen mir in Lenardos Tagebuch mehrere Momente zum Tragen zu kommen.


    - Goethe zeigt bis zu der Konsequenz, wie er sich selbst und seine Romanhelden auf das "Objektive" werfen, auf das tägliche Tun und Handeln, dass er den Preis einkalkulieren muss, in seiner Schilderung sei nicht mehr eine Romanhandlung erkennbar, sondern sie stelle nur noch eine trockene Beschreibung von Produktionsabläufen dar, wie man sie in Diderots Enzyklopädie oder ihrer deutschen Entsprechung, im Johann Georg Krünitz (242 Bände von 1773 bis 1858), nachlesen konnte.


    - Und jetzt ist es ihm gleich, ob er damit Leser vergrault. Er weiß ohnehin, dass nur wenige den von ihm gelegten Spuren weiter folgen werden - wie hier in der Leserunde auch - und sein Anliegen zu würdigen wissen. Er schreibt jetzt vorwiegend für sich, kaum mehr für ein Tagespublikum.


    - Denn er kann sich bestätigt fühlen, dass er all diese Mitteilungen über „Rädligarn“ und „Rispen“ aus eigener Anschauung kennengelernt und nicht Lehrbücher abgeschrieben hat. 1779 beschäftigte ihn das Schicksal der hungernden Strumpfwirker im thüringischen Apolda, wie sollte er unter diesen Bedingungen an seine „Iphigenie“ denken!


    Ich habe auch sehr alte Männer kennengelernt, die ihnen lieb gewordene Dinge bis in alle Einzelheiten schilderten. Sie beweisen sich damit, dass sie das alles bis ins hohe Alter behalten haben. Die Jugend mag eher schwärmen und sich stimmungsvollen Betrachtungen über allgemeine Eindrücke hingeben.

  • Lenardos Tagebuch II


    Aber die Schilderung dieser Gebirgsreise wäre wirklich ungenießbar, würde Goethe nicht auch eindrucksvolle Naturschildungen einfügen und dadurch einen Kontrast zum Innern der Handwerksstuben liefern,
    Eindrücke von der Landschaft und dem unendlichen Himmel über den Menschen, die vor allem Bilder von der Dunkelheit, der tiefen Nacht, schließlich vom Schwinden der Nacht und dem Aufgehen der Sonne vor dem inneren Auge des Lesers erzeugen:


    „Tief in der Nacht“ (HA, S. 338); „Wanderung durch die herrlich klare Nacht“ (HA, S. 346);
    „…früh vor Tage aufgebrochen und genossen einen herrlichen verspäteten Mondschein“ (HA, S. 346)


    Bei der „hervorbrechenden Helle“ mag man an die Eingangsszene zu „Faust II“ erinnert sein:


    „Die Sonne tönt nach alter Weise
    In Brudersphären Wettgesang“


    (und an den Deutschunterricht in der 9. Klasse, als der auch im Äußeren an Goethe gemahnende Lehrer die Klasse betrat und eine ganze Stunde der Zeile „Die Sonne tönt nach alter Weise“ und der Vorstellung von einer Sphärenmusik der Gestirne widmete)


    Ich dachte an die „Zwei Männer“ Caspar David Friedrichs (1774-1840), die den Mond betrachteten, manche mögen andere Bilder vor Augen haben.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Z…in_Betrachtung_des_Mondes


    (ganz hübsch die Bemerkung Friedrichs hier: „Die machen demagogische Umtriebe“ – 1819 Karlsbader Beschlüsse, als das Bild entstand :smile:)


    Zwar hatten Goethe und Heinrich Meyer (Kunschtmeyer) 1805 in Weimar dem in neoklassizistischer Malerei ausgebildeten Künstler einen Preis verliehen. 1810 kam es zu einer ersten persönlichen Begegnung zwischen Goethe und Caspar David Friedrich. Doch der Kontakt lockerte sich wieder, denn Goethe hatte kein Verständnis für die Malerei der Romantik.
    Für den heutigen Betrachter dürfte es freilich eher nebensächlich sein, dass Goethe dem Neoklassizismus, Friedrich der Romantik anhing.


    Lenardo war doch auf der Suche nach dem „nußbraunen Mädchen“, das sollte über all den biedermeierlichen Spinnstuben nicht vergessen werden.

  • - Und jetzt ist es ihm gleich, ob er damit Leser vergrault. Er weiß ohnehin, dass nur wenige den von ihm gelegten Spuren weiter folgen werden - wie hier in der Leserunde auch - und sein Anliegen zu würdigen wissen. Er schreibt jetzt vorwiegend für sich, kaum mehr für ein Tagespublikum.


    Irgendwo vorher schrieb er, dass er sein inbesondere weibliches Publikum nicht mit langen Exkursen vergraulen wolle. Gibt es eine Untersuchung, dass Goethe insbesondere von Frauen gelesen wurde? In diesem Zusammenhang erscheint es mir nämlich zumindest interessant, dass er sich die Spinnerei als auch Weberei für seine intensiven Vorgangsbeschreibungen ausgesucht hat.
    Vielleicht liegt es an seinen Erfahrungen damit, Karamzin, aber es kann doch auch sein, dass er seinen Leserinnen einmal deutlich machen wollte, wie solch ein Musselin, den sie tagtäglich gedankenlos tragen, eigentlich entstehe. Einen Blick für die soziale Frage hat er dabei natürlich nicht, ihm ist das Ganze idyllisch gegenwärtig, auch die Arbeit der Kinder fügt sich in das liebliche Genrebild.


    Ein Kleines zum Sprachlichen: An mehreren Stellen fiel mir auf, dass das logische Prinzio der doppelten Verneinung als positiver Aussage scheints für Goethe oder dessen ganze Zeit nicht galt:


    Eben diese Abgeschlossenheit oder Eingeschlossenheit, wenn man will, hindert, dass hier keinerlei Anstalt sich treffen ließ, die den Bewohnern Gelegenheit gegeben hätte, das was sie vermögen nach außen zu verbreiten, und von außen zu empfangen, ws sie bedürfen.


    Im heutigen Deutsch wäre hierdurch eine positive Aussage entstanden. Das kommt noch zwei-, dreimal vor, aber die anderen Stellen habe ich nicht notiert. Im Mittelhochdeutschen war die doppelte Verneinung noch ein Kunstmittel zur positiven Betonung gewesen und heute erkennt man zumindest logisch, dass sie etwas Positives darstellt. Ich bin mir unsicher, ob andere Dichter der Goethe-Zeit auch dieses logische Prinzip missachten. Hier ist es jedenfalls auffällig!


    Zu den ganzen eingeflochtenen und doch oft in der Haupthandlung aufgehenden "Novellen": Variieren sie nicht alle irgendwie das Motiv des Wanderns und von sich selbst weg und dann doch zu sich hin Findens? Gerade bei "Nicht zu weit" drängt sich dieser Eindruck mir wieder auf. Alle diese Erzählungen sind von Rastlosigkeit, Selbstzweifeln, Wendepunkten bestimmt. Und dass sie meist nicht "ordentlich" enden, sondern einfach so versiegen oder in der Haupthandlung aufgehen, kam mir zunächst als Schwäche des Alterswerks vor, nun glaube ich eher, dass Goethe dies ganz absichtsvoll macht, um den Lesenden mitwandern zu lassen auf Sackgassen, Nebenpfaden, die in den Hauptweg übergehen ... .


    Stecke nun in III, 12 und hoffe trotz Arbeit in den nächsten Tagen ein wenig mehr zum Lesen zu kommen.

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  • finsbury

    "Gibt es eine Untersuchung, dass Goethe insbesondere von Frauen gelesen wurde?"




    Angesehen davon, dass das aufgrund der Quellenlage nur schwer zu ermitteln sein dürfte: Bisherige Studien haben vor allem Frauen ins Visier genommen, die selbst schriftstellerisch tätig waren. Das waren etwa Charlotte von Stein, Marianne von Willemer und Bettina von Arnim in der Studie von:




    Markus Wellenborn: Frauen. Dichten. Goethe. Tübingen 2006.




    Die Wirkung der "Wanderjahre" jedoch, 1821 bzw. 1829 erschienen, hat erst, wenn überhaupt, nach Goethes Tod eingesetzt. Die schriftstellernden Frauen waren sicher nicht jene, die sich Fragen nach der Herkunft ihrer Kleiderstoffe gestellt haben.
    Aus den "Betrachtungen im Sinne der Wanderer" selbst hatte ich entnommen, dass der Schriftsteller in erster Linie für sich selbst schaffe, weniger ein bestimmtes Publikum vor Augen haben solle. Für den greisen Goethe dürfte das bestimmt zugetroffen haben - und die "Wanderjahre" stießen in eine Leere, aktuelle soziale Fragen wurden nunmehr von der Vormärzliteratur aufgegriffen.

  • finsbury

    "Gibt es eine Untersuchung, dass Goethe insbesondere von Frauen gelesen wurde?"
    [...]
    Die Wirkung der "Wanderjahre" jedoch, 1821 bzw. 1829 erschienen, hat erst, wenn überhaupt, nach Goethes Tod eingesetzt. Die schriftstellernden Frauen waren sicher nicht jene, die sich Fragen nach der Herkunft ihrer Kleiderstoffe gestellt haben.
    Aus den "Betrachtungen im Sinne der Wanderer" selbst hatte ich entnommen, dass der Schriftsteller in erster Linie für sich selbst schaffe, weniger ein bestimmtes Publikum vor Augen haben solle. Für den greisen Goethe dürfte das bestimmt zugetroffen haben - und die "Wanderjahre" stießen in eine Leere, aktuelle soziale Fragen wurden nunmehr von der Vormärzliteratur aufgegriffen.


    Danke, Karamzin, für deine wie immer kenntnisreiche Antwort. Natürlich konnte Goethe nicht wissen, wer seine "Wanderjahre" lesen würde, aber von der Rezeption seiner vorherigen Werke wird er ganz sicher eine Vorstellung gehabt haben. Meine Lektüre um Goethe herum ist ein paar Jahre her, aber ich meine, dass er eine große Anzahl weiblicher Fans hatte und keineswegs nur von Autorinnen. Schon allein der Kreis um das Fürstenhaus gehörte wohl dazu. Ich denke auch, dass Goethe trotz aller edlen Vorgaben, der Schriftsteller schreibe nur für sich, eine gehörige Portion Eitelkeit besaß und auch in den Wanderjahren an die Wirkung bei seinen Lesern dachte.
    Allerdings bin ich inzwischen auch der Meinung, dass diese Spinn- und Webereibeschreibung nicht intentional an ein weibliches Lesepublikum gerichtet war, führt sie doch hin zur Begegnung zwischen Lenardo und "Frau Susanne" und verbindet so schaffende Tätigkeit mit Liebes- und Lebensziel (falls sie sich noch kriegen, :zwinker:, ich bin erst in III,14).


    Man merkt, dass Goethe in den letzten Kapiteln Fäden verknüpft und unter seinem Personal aufräumt, teilweise ein wenig im Hauruck-Verfahren, wie zwischen Montan und Lydie.

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  • In den Kommentaren der "Hamburger Ausgabe" wird darauf hingewiesen (HA, Bd. 8, S. 649), dass Goethe in diesem Kapitel vor allem auf das Vorbild der Schweizer Hausindustrie zurückgriff. Im April 1810 hatte er seinen Schweizer Freund Heinrich Meier gebeten, ihm eine Darstellung über die Spinnerei und Weberei zu liefern. Dessen Manuskript ist im Weimarer Archiv vorhanden. Goethe hat sich daran gehalten, jedoch aus dem von Meier geschilderten Beruf des "Garnträgers" gleich eine literarische Figur gemacht.


    Im Zusammenhang mit der Schweiz:
    Bei diesem Kapitel über die gewerbliche Produktion im Gebirge fiel mir jedoch noch etwas anderes ein, das Dich, finsbury, bei Deinen Studien über Protoindustrialisierung vielleicht interessieren könnte. Der Schriftsteller Karl Victor von Bonstetten (1745-1832), der ungefähr die Lebensdaten Goethes hatte, lieferte 1782 eine interessante Beschreibung der Käseherstellung in der Schweiz, die ich einmal vor Jahren gelesen habe. Darin schildert er den Übergang von der Produktion auf dem Bauernhofe zum Exportgewerbe. Durch dieses wiederum wurden in der Folgezeit etliche kleinere Höfe zerstört, nur die größeren Betriebe überlebten. Heute ist Schweizer Käse, ohne Frage, weltberühmt. Bei Goethe gibt es in den Schweizer Reiseaufzeichnungen einige entsprechenden Hinweise. Ob aber jemals ein Schweizer diese Prozesse literarisch bearbeitet hat :?:


    Über diese Schrift von 1782 und die entsprechenden Zusammenhänge gibt Aufschluß die Biographie:


    Stefan Howald: Aufbruch nach Europa. Karl Viktor von Bonstetten 1745-1832. Leben und Werk. Basel u. a. 1997.


    http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Viktor_von_Bonstetten


    Hier nun auch das sehr anerkennende Urteil Goethes über den gelehrten Bonstetten. Die bis in die Gegenwart fortgeführten "Bonstettiana" sind eine sehr verdienstvolle Briefsammlung mit tausenden
    Adressaten jener Zeit, eine Fundgrube.


    In meinem nächsten Beitrag, der wohl noch einige Tage warten muss, soll es um die "Neue Melusine" gehen.

  • Karamzin,
    wiederum herzlichen Dank für die interessante Literaturangabe. Allerdings bin ich eher an zeitgenössischen fiktionalen Texten interessiert, die die Industrielle Revolution und ihren Vorlauf in einigen Aspekten spiegeln. Da bin ich hier bei den Wanderjahren ja schon auf einiges Interessante für mich völlig überraschend gestoßen. Wie Goethe zuerst die Maschinen schilt, und plötzlich ist doch alles gut, bloß weil es der Auflösung der Geschichte dient (Abwerben der "Lieben Guten" für Makarie und Übergabe des Webereihandels an ihren Verehrer, der nun doch maschinisieren will).


    Nun bin ich seit gestern Morgen fertig. Durch die Aphorismen, die als "Aus Makariens Archiv" gesammelt sind, habe ich mich doch wieder etwas lustlos gehangelt, nicht meine Textsorte (s.u.). Sie sind ja wohl auch nur ein Füllsel, nicht unmittelbar mit dem Text verknüpft.


    Wollte Goethe eigentlich die Wanderjahre fortsetzen? Sie hören so abrupt auf! Allerdings passt das ja zu den ganzen eingefügten
    Erzählungen, die ja auch alle offen enden.
    Insgesamt ein merkwürdiger Schluss, in seiner ein wenig chaotisch wirkenden Struktur sehr modern wirkend.


    Nicht mein Lieblings-Goethe, aber eine interessante Leseerfahrung, die mir den alten Goethe wieder nähergebracht hat.

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  • Hallo finsbury,


    durch die "Wanderjahre" bist Du nun durch, und sie haben Dir in manchem offensichtlich doch Neues gebracht. Dass Du es vor allem auf fiktionale Texte zur industriellen Revolution abgesehen hast, war mir schon klar geworden, ich wünsche Dir dabei viel Erfolg, vielleicht findest Du noch mehr, vielleicht sogar bisher Übersehenes.
    Die "Epigonen" Immermanns kennst Du wiederum schon, ich nicht, will mal sehen, ob eine Leserunde dazu im Herbst zustande kommen wird.


    Wie angekündigt, stelle ich in einigen Tagen weitere Beobachtungen zu den "Wanderungen" hier ein, bisher hat mir die Lektüre viel Neues gegeben. Ich habe noch einmal in meinen Tagebüchern geblättert: als ich sie zum ersten Mal las, war das sogar 1976, ich war noch sehr jung, fühlte mich aber von diesen Stimmungsbildern vom Aufbruch der Wanderer schon damals hingerissen.
    In einer dreiviertel Stunde liegt der Tag des Beginns dieser Leserunde einen Monat zurück. :smile:


    Dass Goethe noch einen Teil des "Wilhelm Meister" vorgesehen haben sollte, kann man sich angesichts seiner 80 Jahre im Jahr der Ausgabe von 1829 kaum noch vorstellen: er hätte dann offensichtlich in der "Neuen Welt" spielen müssen, über die er sich zwar kundig gemacht hatte. Aber die "Neue Welt", das war die Zukunft auf einem anderen Erdteil, wo die Grenzen des alten Europa weggefallen waren, in Amerika zugleich aber neue Anforderungen auf die Wanderer zugekommen wären, die Goethe kaum hätte überblicken können.

  • Wie angekündigt, stelle ich in einigen Tagen weitere Beobachtungen zu den "Wanderungen" hier ein, bisher hat mir die Lektüre viel Neues gegeben. Ich habe noch einmal in meinen Tagebüchern geblättert: als ich sie zum ersten Mal las, war das sogar 1976, ich war noch sehr jung, fühlte mich aber von diesen Stimmungsbildern vom Aufbruch der Wanderer schon damals hingerissen.
    In einer dreiviertel Stunde liegt der Tag des Beginns dieser Leserunde einen Monat zurück. :smile:


    Dass Goethe noch einen Teil des "Wilhelm Meister" vorgesehen haben sollte, kann man sich angesichts seiner 80 Jahre im Jahr der Ausgabe von 1829 kaum noch vorstellen: er hätte dann offensichtlich in der "Neuen Welt" spielen müssen, über die er sich zwar kundig gemacht hatte. Aber die "Neue Welt", das war die Zukunft auf einem anderen Erdteil, wo die Grenzen des alten Europa weggefallen waren, in Amerika zugleich aber neue Anforderungen auf die Wanderer zugekommen wären, die Goethe kaum hätte überblicken können.


    Ja, dass wir so schnell durch diesen komplexen Roman durchkommen, hätte ich niemals gedacht! Trotzdem haben wir insbesondere dir, aber auch allen anderen Beteiligten eine tolle Leserunde mit tiefen Einblicken zu verdanken!


    Was mich an diesem Roman rührt, ist, dass der alte Goethe, trotz alles Altväterlichen, was der Roman auch hat, doch so ungeheuer interessiert an dem bleibt, was die Zukunft bringt. Mag er sich von den literarischen "Fort" schritten und Moden seiner Zeit gelöst haben, von den Zeitläuften doch keineswegs. Das ist das, was mir diesen Roman - neben seiner Technik (?) des Auflösens und Verschlingens von Handlungsfäden - so modern erscheinen lässt.


    Was übrigens Immermanns "Epigonen" angeht, hättest du in mir sofort einen Mitleser! Es ist über dreißig Jahre her und eine besondere Leseerfahrung in meinen jungen Studienjahren, die mir diesen, literarisch nicht so hoch stehenden, aber hochinteressanten Roman wert hält.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo zusammen,


    nur eine kurze Statusmeldung von mir: Ich bin nicht ausgestiegen, war aber die letzten beiden Wochen dermaßen zugeschüttet bzw. dann eine Woche in Polen unterwegs, dass ich Herrn Göthe erst einmal auf die Seite legen musste. Ich werde aber die letzten Kapitel dann bald noch lesen und mich nochmals hier melden.


    Viele Grüße
    JHN


  • Hallo zusammen,


    nur eine kurze Statusmeldung von mir: Ich bin nicht ausgestiegen, war aber die letzten beiden Wochen dermaßen zugeschüttet bzw. dann eine Woche in Polen unterwegs, dass ich Herrn Göthe erst einmal auf die Seite legen musste. Ich werde aber die letzten Kapitel dann bald noch lesen und mich nochmals hier melden.


    Viele Grüße
    JHN


    Lass dir Zeit. Bei diesem Roman kann man durchaus noch einigen Nachhang gebrauchen.


    Was ist mit den anderen LR_Teilenehmern eigentlich? Alle schon fertig?

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  • Weiter geht es bei mir:


    Die neue Melusine


    Wahrscheinlich schon um 1782 entstanden, ist Die neue Melusine eine der ältesten Erzählungen in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“. Goethe kannte den aus dem Mittelalter stammenden Stoff schon in seiner Jugendzeit und soll die Erzählung seiner geliebten Friederike Brion in Sesenheim vorgetragen haben.


    Die Melusine knüpft ihre Erwiderung der Liebe des jugendlichen Helden an Bedingungen. Sie vertraut dem jungen, leichtlebigen Barbier ein Kästchen an und stattet ihn mit Geld aus, unter der Bedingung, dass er das Kästchen nicht öffne. Als dieser das Gebot übertritt, durch einen Spalt in das Kästchen schaut und seine Geliebte darin in Zwergengestalt erblickt, verzeiht sie ihm dennoch, stellt aber neue Bedingungen: er solle seine Entdeckung nicht in abwertender Gestalt mitteilen, sich loser Reden und des maßlosen Trunkes zu enthalten suchen.
    Der Held erfüllt auch diese Bedingungen nicht, wird von der Melusine jedoch trotzdem auf Zwergengestalt gebracht und mittels Wunderring ins Reich der Gnome verfrachtet. Nur durch die Flucht kann er sich entziehen (wie Goethe 1786 aus Weimar nach Italien).
    Während in den mittelalterlichen Melusine-Erzählungen die Heldin ihren Ritter auf den von Gott gewiesenen Pfad der Tugend bringt, zeigt Goethe, dass wahre Liebe nicht an Bedingungen geknüpft werden kann, sein Held setzt sich über sie hinweg und dringt dennoch weiter vor, dem Ziel seiner Wünsche entgegen.
    Obwohl er erwiesenermaßen ein Leichtfuss ist, ist die Not im Zwergenreich offenbar so groß, einen neuen König zu erhalten, dass selbst er in die engste Auswahl kommt, wobei die Melusine die Initiative ergreift.
    Ettore Ghibellino meint, dass das Zwergenreich eine Karikatur der adligen Hofgesellschaft sei (J. W. Goethe und Anna Amalia. Eine verbotene Liebe. Weimar 2004, S. 236). Wie der naive Springinsfeld seiner Erzählung nicht seine Melusine erlangen konnte, sei es Goethe verwehrt gewesen, sich mit Anna Amalia zu verbinden, die ebenfalls in den ersten Weimarer Jahren versuchte, den lebenslustigen Erzieher ihres Sohnes Karl August von allzu grobem Betragen und vom Trunk abzubringen.


    Goethes Variante der Schöpfungsgeschichte, wonach Gott zuerst das Volk der Zwerge erschaffen habe, fand meines Wissens gar nicht mehr den Widerstand zeitgenössischer christlicher Theologen, wie sie sich insgesamt kaum noch zu Goethes Alterswerk äußerten. Der Kommentator Erich Trunz, der eingangs die Vorbildhaftigkeit der Josephs-Familie hervorhob, übergeht dafür die Goethesche Parodie der Schöpfungsgeschichte weitgehend mit Schweigen (HA, Bd. 8, S. 650-652) und spricht nur an einer Stelle rätselhaft von einer „schelmische(n) Kosmologie“.
    Um 1829 befand sich die Geistlichkeit bereits im vollen Rückzug, von einer wörtlichen Auslegung der Schöpfungsgeschichte mit Adam und Eva als handelnden Personen, die sich den Zorn Gottes einhandelten, konnte zumindest in den großen Volkskirchen keine Rede mehr sein.


    "Solche Rückzüge liegen heute seit Jahrhunderten hinter uns. Christen sahen sich durch Zweifel am tatsächlichen Charakter ihrer Berichte bedrängt; ihre Verteidiger haben den Glauben systematisch gegen Erfahrungsargumente immunisiert; dazu haben sie ihn verdünnt und spiritualisiert. Jetzt auf einmal hat Gott die Welt doch nicht in sechs Tagen erschaffen ... Die Kunst mancher Theologen besteht darin, Formulierungen zu erfinden, denen man nicht leicht anmerkt, daß Eva nicht aus der Rippe gebildet und daß das Grab nicht leer war."
    Kurt Flasch: Warum ich kein Christ bin. München 2013, S. 84.


    Gott hat zuerst die Zwerge erschaffen? Konsistorialpräsident Herder hätte den Spass bestimmt mitgemacht bzw. stillschweigend geduldet.


  • Zu den ganzen eingeflochtenen und doch oft in der Haupthandlung aufgehenden "Novellen": Variieren sie nicht alle irgendwie das Motiv des Wanderns und von sich selbst weg und dann doch zu sich hin Findens? Gerade bei "Nicht zu weit" drängt sich dieser Eindruck mir wieder auf. Alle diese Erzählungen sind von Rastlosigkeit, Selbstzweifeln, Wendepunkten bestimmt.


    finsbury,


    das ging mir bei dieser kleinen Erzählung ebenso. Das Motiv des Wanderns und der Ruhelosigkeit ist dort sehr offensichtlich, wobei es ja - im Gegensatz zur Haupthandlung - auch negativ konnotiert wird. Die Ruhelosigkeit der Ehefrau ist ja einer der Gründe für das Unglück des Paars.


    Gegen Ende hat mich diese kleine Novelle aber dann verwirrt. Auf den letzten Seiten werden noch Namen eingebracht, die ich nicht zuordnen konnte. Und alles bleibt - wieder einmal - offen.