Wir machen unterschiedliche Erfahrungen beim Lesen, manche machen eine Pause, manche hören auf, einen solchen Roman schnell hintereinander weglesen, will sicher nicht jedem gelingen.
Ich bin nach so vielen Jahren des Wiedersehens und Wiedererkennens nach wie vor ergriffen von der Lektüre, mittlerweile im Dritten Teil angelangt.
Man hatte mich einmal- wohl zu Recht - gebeten, nicht bei so vielen Gelegenheiten meine passenden oder unpassenden DDR-Erfahrungen einfließen zu lassen. Das kann zum einen auch indirekt, nicht vordergründig geschehen. Wenn ich im Folgenden doch auch einige Gegenwartsbezüge herzustellen versuche , dann bietet sich das meines Erachtens mitunter wirklich an. Dabei erweist sich für mich Goethe an vielen Stellen als erstaunlich aktuell.
Dass Dir, Gontscharow, die Darstellung der Pädagogischen Provinz Unbehagen bereitet, will ich gern glauben.
Alles anzeigenZur Pädagogischen Provinz (II,8)
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Wenn ich ehrlich bin, ist mir die Pädagogische Provinz mit ihrer totalitären Reglementierung und Gängelei nicht geheuer. Vielleicht tu ich ihr unrecht, aber ich musste manchmal an die Strafkolonie, an Arbeit macht frei und Jedem das Seine denken. Wie geht man mit einem Satz wie diesem um:
Festung Europa. Schön, dass wenigstens die Verteufelung des Theaters nicht ganz kritiklos hingenommen wird:
Und mit einer gewissen Erleichterung habe ich gelesen, dass Ihr, finsbury und karamzin, eine gewissen Ironie in dem Bericht zu spüren meint.
Es gab noch Schlimmeres: In dieser Zeit wurden ‚Volksbeglückungsanstalten‘ entworfen, mit denen dem sozialen Elend abgeholfen werden sollte, Großprojekte der Zusammenballung von Menschen, die gemeinsam wohnen und in der Industrie tätig sein sollten, deren Leben genauen Regeln unterlag und die überwacht wurden, etwa die „Phalanstère“ des französischen Utopisten Charles Fourier, die damals bewundert wurden, aber heute nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die Du andeutest, in vielem Grauen erregen. Da gab es keine Intimsphäre mehr. Bis hinein in die menschliche Reproduktion war alles geregelt.
Jeremy Benthams Panoptikum, ein riesiges Großgefängnis, wo die Insassen durch gläserne Wände sichtbar sein sollten, war auch so ein Entwurf. Goethe hat im Gespräch mit Eckermann den 1748 geborenen Bentham einen "höchst radikalen Narren" genannt (insel taschenbuch 1981, S. 686).
Zwischen individueller Erziehung im Elternhaus oder im Pfarrhaus und derartigen Großprojekten lag nun die mittelgroße Pädagogische Provinz, in der vor allem auf die ästhetische Erziehung – Goethes wichtiges Anliegen – Wert gelegt wurde. Insofern gibt es einen engen Bezug zu den im Anschluss untergebrachten, von Dir geschätzten Aphorismen, die von Literatur, Dichtkunst, Musik, Plastik und Malerei handeln, und auf die ich auch noch eingehen möchte.
Wenn Goethe zurückblickte, hatte er das Philantropin in Dessau (1774-1795) und die schon mehrfach erwähnten, 1814 beschriebenen Fellenbergschen Anstalten in Hofwyl vor Augen, wo die Ausbildung in Wirtschaftsfächern im Vordergrund stand und die ästhetische Erziehung nicht so organisiert sein konnte, wie es sich Goethe vorstellte.
Goethe nimmt auch wieder manches aus seinem Pädagogischen Entwurf zurück, wenn er Montan sagen lässt, dass „eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu“ – Jarno/Montan setzt sich also kritisch ab von den Organisatoren der Pädagogischen Provinz, „Narrenpossen“ (HA, S. 282) seien.